Über die Ursprünge der Aufklärung – Gegen die Mythen der Kirche

„Kampf der Kulturen“ – in verschiedensten Prägungen ist diese 23 Jahre alte vereinfachende Formel Samuel Huntingtons zurzeit mal wieder in so manchem Munde und dient in diversester Verpackung der Kommentierung der neusten Reibungspunkte zwischen der westlichen und islamischen (sowie zuweilen auch fernöstlichen) Welt. Konkret: Seitdem die nah- und mittelöstliche Flüchtlingskrise in Zentral- und Westeuropa angekommen ist, meint jeder Provinzjournalist sich dazu berufen zu fühlen, die fundamentalen Unterscheide unserer (überlegenen) westlichen Zivilisation gegen den (rückständigen) Islam zu kommentieren. Und einer spezifischen geschichtlichen Epoche kommt dabei eine besondere Stellung zu. Sie dient als historischer Scheidepunkt zwischen den vorzivilisierten Gesellschaftsformen, die ihre Grundprinzipien noch im Wertekanon des Mittelalters finden, und dem modernen, rechtsstaatlichen und freiheitlichen westlichen Zusammenleben. Es handelt sich um die Epoche der „Aufklärung“, von Immanuel Kant bekanntlich beschrieben als der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Nicht ganz ohne Grund sind wir Europäer stolz auf die mit ihr verbundenen zivilisatorischen Errungenschaften, und so mancher zitiert diese Epoche gerne als den wesentlichen historischen Bezugspunkt in der heutigen Abgrenzung des Westens zur islamischen Welt.

Diese Abgrenzung ist alles andere als neu, doch besitzt sie trotz ihrer reduktionistischen Einfachheit eine nach wie vor starke argumentative Kraft. Was jedoch neu ist und in so mancher Diskussion dieser Tage um die Wertverschiedenheit unserer westlichen Gesellschaft zur islamischen in Anbetracht der politischen Brisanz der Flüchtlingsfrage gerade von den Seiten hervorblitzt, die es leider nicht besser wissen, ist, dass nun das Bekenntnis zum Christentum als wesentlicher oder gar konstituierender Bestandteil der Aufklärungsepoche deklariert wird. Es ist schon erstaunlich, wie leicht es sich beispielsweise Vertreter der katholischen Kirche tun, ihre eigene 2000-jährige Geschichte zu verdrehen und ihre Verzerrungen dann auch noch schamlos einem Publikum vorzustellen, das dieser Tage dem Entsetzen islamischen Terrors oder der Bestürzung über das Verhalten muslimischer Flüchtlinge gegenüber Frauen ausgesetzt ist, und dabei kein Wort darüber verlieren, dass ihre Institution selbst über weite Teile dem Tun arabischer Fundamentalisten und dem Frauenbild des heutigen Islams um wenig nachstand. Auch wenn die überlieferte Lehre des Jesus von Nazareth die „Gewaltlosigkeit und Feindesliebe predigte“, so sind genau diese Werte in der Geschichte der katholischen Kirche auf das Extremste pervertiert worden. So war es erst ein Prozess der Säkularisierung, also die explizite Abwendung vom religiösen Fundamentalismus des Christentum, welcher die Aufklärungsepoche und schliesslich unsere moderne Zivilgesellschaft hervorgebracht hat, und nicht die Besinnung auf christliche Werte. Auch die Erwähnung der mittelalterlichen Universitäten als mögliche frühe intellektuelle Quelle der Aufklärung ist fehl am Platze – es gab weit bedeutendere und ältere Lehr- und Forschungseinrichtungen in islamischen Herrschaftsgebieten.

Wenn wir die Antriebfeder der Aufklärung schon monokausal benennen wollen, so wäre an erster Stelle die wissenschaftliche Revolution des frühen 17. Jahrhunderts zu nennen, die von Kirchenvertretern wohl aus offensichtlichen Gründen unerwähnt bleibt. Sie vergessen dann, dass der „Held der Aufklärung“ nicht Jesus Christus, sondern Issak Newton war. Gott steht auf tönernen (oder genauer auf steinernen) Füssen, so die weit verbreitete Meinung der ‚Aufklärer‘ im 18. Jahrhundert. So zeichnete sich die Aufklärung durch die Auffassung aus, dass sich die Phänomene und Entwicklungen in der Natur – und sogar der Mensch selbst – keiner übernatürlichen Erklärungen bedürfen und sich mit den Methoden der Wissenschaft und Vernunft vollständig empirisch und rational beschreiben und sogar berechnen lassen. Darin wurde Gott zunehmend zu einer, wie es der französische Physiker und Mathematiker Pierre-Simon Laplace formulierte, „Hypothese, derer es nicht mehr bedurfte“. Und spielt Gott nicht mehr die alles bestimmende Rolle in der Natur, so war der Schritt zur Forderung, dass er dies auch in Fragen gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht mehr tun sollte, nicht weit, was dem Jahrtausende alten gesellschaftlichen Machtstreben der Kirche Einhalt gebat. Man muss deutlich feststellen: die Vertreter des christlichen Glaubens waren in keiner Hinsicht Antriebsfeder, sondern vielmehr erste Gegenspieler der Aufklärung!

Doch so einfach ist die Lage auch wieder nicht, mögen diejenigen einwenden, die historisch genau hinschauen. Denn tatsächlich spielte der christliche Glaube und die durch diesen geprägte europäische Wissenskultur beim Entstehen des modernen wissenschaftlichen Denkens eine nicht unwesentliche Rolle, und somit zumindest indirekt auch für die Rahmenbedungen der Aufklärung. Doch ist das dahinter liegende Beziehungsgefüge komplexer als es viele Kirchenapologeten darstellen. Doch eröffnet uns eine differenziertere Sicht auf das Dreiecks-Verhältnis Christentum – Wissenschaft – Aufklärung eine wesentlich interessanter Perspektive als die schwarz-weisse Beschönigungsfloskeln der heutigen christlichen Vertreter, sowie auch die ihrer nicht weniger farblosen Antipoden aus dem Lager eines selbsterklärten säkularisierten Zeitalters. Und dies erlaubt uns dann auch eine differenziertere Betrachtung des Islams. Tatsächlich müssen wir erkennen, dass das intellektuelle Europa in der halbjahrtausendlichen Spanne von 750-1250 dem islamischen Wissen und Kulturbetrieb hoffnungslos unterlegen war. Über viele Jahrhunderte hinweg überstrahlte die mittelalterliche arabische Wissenschaftskultur ihr westeuropäisches Gegenstück in Bezug auf wissenschaftlichem und technischem (sowie zuletzt auch gesellschaftlichen) Fortschritt. Doch vollzog sie ihrerseits den Übergang zur Methodik der modernen Naturwissenschaft nicht. Dies geschah erst ab dem Jahr 1600 im vormals so rückständigen Europa. Und je weiter dieser Prozess fortschritt, desto mehr fiel die arabische Kultur zuerst im Wissen und dann zunehmend auch in sozio-kultureller Hinsicht hinter die westlichen Gesellschaften zurück.

Wir müssen uns also fragen: Warum ist die wissenschaftliche Revolution gerade in Europa entstanden, und nicht in der im Mittelalter vielfach höher entwickelten Zivilisationen der islamischen Kultur? Und genau an dieser Stelle stossen wir auf ein Spezifikum des christlichen Denkens. Denn eine Antwort auf diese Frage lässt sich darin ausmachen, dass im Unterschied zum europäisch-christlichen Denken der arabische Kulturkreis nur einen vergleichsweise schwachen ganzheitlich-naturphilosophischen Denkansatz entwickelte hat. Das arabisch-islamische Denken hatte nie eine überzeugende Synthese aus (griechisch geprägter) philosophischer Rationalität und (christlich geprägter) religiöser Offenbarungsideologie vollzogen, wie dies im Abendland in der Spätantike und im frühen Mittelalter geschehen war. Damit fehlte den nahöstlichen Forschern ein klar umrissenes Gesamtkonzept der Natur, wie es das von der athenisch-platonischen Philosophie geprägte christliche Mittelalter besass. Letzteres sollte in der Ausprägung eines festen Glaubens an einen Schöpfergott im frühen 17. Jahrhundert schliesslich die wesentliche intellektuelle Kraft der wissenschaftlichen Revolution werden (welche dann ihrerseits erst das Denken der Aufklärung ermöglichte). Die grosse Idee des Abendlandes war der Gedanke einer immanenten Ordnung in der Natur, deren Struktur mit den uns zur Verfügung stehenden begrifflichen und rationalen Möglichkeiten erfasst werden kann – auch wenn ihr Begründungsprinzip transzendenzbasiert war.

Dies entbehrt nicht der Ironie, was, wie wir erkennen, die gesellschaftliche Diskussion bis heute prägt: Denn gerade die im Vergleich zur arabischen Philosophie weit weniger stark vollzogene Trennung von Denken und Religion und die geistige Nähe immanenter und transzendenter Weltbeschreibungen im westlichen Denken waren die entscheidenden Treiber, die der europäisch-christlich-jüdischen Denktradition im frühen 17. Jahrhundert zur Entwicklung der modernen wissenschaftlichen Methodik verhelfen sollten. Teil dieser Ironie ist auch, dass während der davorliegenden 1200 Jahre in genau diesem christlichen Europa jegliches wissenschaftliches Denken im heutigen Sinne von der christlich-katholischen Kirche mit ihrem orthodoxen Glaubenssystem und ihrer bis heute skeptischen bis ablehnenden Haltung gegenüber empirischer Forschung weitestgehend unterdrückt worden war. Mit dem Verbot skeptischer und materialistischer Denker (die ihren Ausdruck zuletzt in der Auflösung der athenischen philosophischen Akademie im Jahre 529 fand) hatte die Kirche bereits im frühen Mittelalter sämtliche Gedanken einer naturalistischen Welttheorie, wie sie in der Antike bereits in differenzierten Formen ausgearbeitet worden waren, für nahezu ein Jahrtausend verschwinden lassen. Noch die religiöse und intellektuelle Leidenschaft der Scholastik im 13. Jahrhundert war starr der logisch deduktiven Methode des Aristoteles und einem entsprechenden, theologischen Prinzipien genügenden Weltbild ergeben. Und dies, obwohl das philosophische Fundament der naturwissenschaftlichen Methodenentwicklung mit der Kombination aus der Vorstellung einer Immanenz des Naturgeschehens und gleichzeitigem Glauben an zugrunde liegenden transzendenten Ordnungsprinzipien längst geschaffen war. Und diese Kombination war es schliesslich, die den geeigneten Ordnungs- und Motivationsrahmen begründete, um die Welt auf der Grundlage einer empirischen Erfassung gedanklich-rational und systematisch-theoretisch, mit einem Wort „wissenschaftlich“, zu beschreiben.

So machten sich ca. 350 Jahre nach der Scholastik von einer durchaus vergleichbaren religiösen Leidenschaft getriebene Männer wie Johannes Kepler (der von seiner eigenen „heiliger Raserei“ sprach) daran, nach den wahren Gesetzen der Bewegung der Körper und der in ihnen zum Ausdruck kommenden „Schönheit der göttlichen Schöpfung“ zu suchen. Wir erkennen also hier, am Anfang des modernen Denkens über die Natur, dass die Bedingung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Naturerfassung gerade auch in der Aristotelisch-christlichen Sphärentrennung zwischen irdischer Naturkausalität und transzendenter Göttlichkeit liegen, dass erfolgreiches wissenschaftliches Erkennen zunächst nicht ohne einen in der christlichen Theologie verankerten transzendenzbezogenen Hintergrund auskam. Die Betrachtung dieser Abhängigkeit des Denkens von Kopernikus, Galilei, Kepler bis Newton vom christlichen Glauben ist zuletzt auch für die Kirche weitaus zielführender als plumper Geschichtspopulismus, wie wir ihn von ihren Vertretern leider nur allzu oft hören dürfen. Das Thema verdient weit mehr.

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