Stephen Hawking – Zum Tod eines wissenschaftlichen Popstars

Die Physiker-Zunft trauert um Stephen Hawking, einer ihrer grössten Geister. Ein Leben, welches inmitten der tiefsten Krise des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm und an intellektuellen Höhen und zugleich körperlichem Leiden wohl kaum zu übertreffen ist, hat sein Ende gefunden. Stephen Hawking war der Popstar der gegenwärtigen Physik. In dieser Rolle trat er in die Fussstapfen der beiden grössten wissenschaftlichen Popstars der Geschichte, Albert Einstein und Isaac Newton. Spätestens mit der Veröffentlichung seines populärwissenschaftlichen Buchs Eine kurze Geschichte der Zeit im Jahr 1988 wurde er zum berühmtesten Wissenschaftler unserer Zeit, dem zuletzt sogar die Ehre zweier Filme zuteilwurde. Sein Buch verkaufte sich mehr als 10 Millionen Mal und ist bis heute eines der meistverkauften populärwissenschaftlichen Bücher überhaupt. Zuweilen wird es auch als das „populärste ungelesene Buch“ überhaupt bezeichnet („the most popular book never read“).

Hawkings wissenschaftlichen Leistungen bauten stark auf die Theorien Albert Einsteins auf. Es war die wohl außergewöhnlichste Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie, die es Hawking seit den frühen Jahren seiner wissenschaftlichen Karriere angetan hatte: Schwarze Löcher. Bereits kurz nachdem Albert Einstein im November 1915 die Grundgleichungen seiner neuen Gravitationstheorie formuliert hatte, hatten die Physiker begriffen, dass seine neue Theorie ein erstaunliches Phänomen vorherzusagen schien: Betrachtet man die Lösung der Einstein-Gleichungen für das Gravitationsfeld einer punktförmigen Masse, so ist die Gravitationskraft bzw. die Krümmung der Raum-Zeit in unmittelbarer Nähe dieser Masse derartig gross, dass daraus selbst Licht nicht mehr entweichen kann. Die Raum-Zeit-Struktur in diesem Punkt besitzt das, was Physiker eine „Singularität“ nennen. Das bedeutet nichts weniger, als dass an dieser Stelle Raum und Zeit zu existieren aufhören. Allerdings ist die notwendige Materiedichte eines derartigen Gebildes so gross (sie entspricht der Masse der Erde in einer Kugel mit einem Radius von 9 mm), dass Einstein und seine Kollegen mit einer solchen Lösung nichts anzufangen wussten. Der Begriff „Schwarzes Loch“ für ein solches Gebilde kam erst ca. 50 Jahre später auf.

Der junge Stephan Hawking gehörte zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, die sich ab Mitte der 1960er Jahre den Eigenschaften und Details dieser exotischen Lösungen der Einstein-Gleichungen mit neuem Elan zuwandten. Ende der 1960er Jahre konnte er zusammen mit seinem Mentor und Kollegen Roger Penrose beweisen, dass die Singularitäten keine Artefakte als Folge falscher theoretischer Annahmen bei der Lösung der Einstein-Gleichungen sind, wie von vielen Physikern vermutet, sondern eine direkte Folge der anziehenden Natur der Gravitation selbst (es ist dies das so genannte Singularitäten-Theorem). Schwarze Löcher sollten daher bei ausreichend hoher Massenkonzentration tatsächlich existieren. Kurz darauf lieferten Hawking und Penrose einen mathematischen Beleg dafür, dass das Universum aus einem Urknall entstanden ist. Ihre Begründung: Die Mathematik der Singularität in einem Schwarzen Loch und diejenige beim Anfang des Universums ist die gleiche. Damit lieferten Hawking und Penrose eine bedeutende mathematische Stütze für die heute allseits akzeptierte Urknalltheorie. Es war dies zugleich der Startschuss für die Kosmologie als Wissenschaft.

1974 folgte Hawkings berühmteste Arbeit, die ihm den Ruf eines Genies einbringen sollte. Zur Überraschung seiner Physiker-Kollegen konnte er zeigen, dass Schwarze Löcher Materie und Energie nicht unwiederbringlich verschlucken, sondern dass sie ihrerseits Strahlung aussenden. Somit verdampft ein Schwarzes Loch langsam, bis es irgendwann verschwindet, mitsamt allem, was hineingefallen ist. Dies betrifft auch jegliche Information, die es je verschluckt hat. Das jedoch widerspricht den Gesetzen der Quantentheorie, nach denen Information nicht unwiederbringlich verloren gehen kann. Hawking war von seiner Schlussfolgerung derart überzeugt, dass er forderte, die etablierte und experimentell bisher in jedem noch so kleinen Detail bestätigte Quantenfeldtheorie entsprechend abzuändern.

Die Angelegenheit führt uns tief in die Problemstruktur der heutigen theoretischen Physik. Hawking erkannte, dass wir, um schwarze Löcher zu beschreiben, nicht darum herumkommen, neben der Relativitätstheorie und Quantentheorie eine dritte wesentliche Theorie der heutigen Physik herbeizuziehen, die Thermodynamik. In ihr verfügt jedes physikalische System über eine so genannte Entropie, ein Mass für die darin enthaltene Unordnung, oder äquivalent seine Information. Gemäss Hawking sollte auch einem schwarzen Loch ein solches Mass zukommen. Lässt sich aber einem schwarzen Loch eine Entropie zuordnen, so müsste es dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gehorchen, nach dem die Entropie bzw. Information in einem (geschlossenen) System niemals sinken kann, geschweige denn verschwinden. Gemäss der allgemeinen Relativitätstheorie wäre ein Schwarzes Loch jedoch ein Entropie- (oder analog Informations-) Vernichter. Das Dilemma, vor welchem die theoretischen Physiker stehen, lässt sich also wie folgt auf den Punkt bringen: Entweder sie lassen den Verlust der Information (oder Entropie) zu und müssen die Quantentheorie und Thermodynamik entsprechend modifizieren, oder sie lassen Information aus Schwarzen Löchern entkommen, was einer Ergänzung der allgemeinen Relativitätstheorie bedarf.

Die Strahlung Schwarzer Löcher erhielt Hawking zu Ehren den Namen Hawking-Strahlung. Was seine Einsicht besonders macht: Hawking gewann sie unter Berufung auf die Quantentheorie. Er war damit der erste, der eine astrophysikalische Theorie aufstellte, die Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie kombinierte. Bis heute ist es der Traum der Physiker, diese beiden fundamentalen, aber inkompatiblen Theorien der Natur, die Quantenfeldtheorie und die allgemeine Relativitätstheorie, zu einer Theorie der „Quantengravitation“ zu vereinen. Wie Einstein 50 Jahre vor ihm suchte Hawking Zeit seines Lebens nach einem Weg zu einer solchen vereinheitlichenden Theorie, einer so genannten „Theorie von Allem“ („Theory of Everything“). Doch wie seinem grossen Vorgänger war ihm dabei kein Erfolg gegönnt.

In den 1980er Jahren, als sein Körper schon stark von seiner Krankheit gezeichnet war, suchte Hawking nach einem besonderen Weg zu einer Theorie der Quantengravitation und allgemeinen Kosmologie. Dafür wandte er eine komplexe mathematische Methode aus der Quantenfeldtheorie auf die Relativitätstheorie an, die sogenannte euklidische Pfadintegralformulierung. Wie er in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit erklärt, muss man dafür eine imaginäre Zeitvariable einführen, ein Trick, der in der Quantentheorie und Thermodynamik Wick-Rotation genannt wird. Damit liess sich der Anfang des Universums mathematisch beschreiben. Veranschaulichen lässt sich dies mit einer Kugel wie der Erdoberfläche, deren „Anfang“ (in zeitlicher Dimension) der Nordpol ist. Eine Kugelfläche hat keinen Rand, auf ihr gibt es keine natürliche Begrenzung. Wege darauf sind geschlossen oder endlos. Bezogen auf die zeitliche Dimension bedeutet dies: Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Analog ist auch das Universum in sich geschlossen. Es begann nach dieser „Kein-Rand-Hypothese“ spontan aus dem Nichts. Hawking meinte: „Die Frage, was vor dem Urknall war, ist genauso wie jene, was eine Meile nördlich des Nordpols liegt.“ (diese Aussage geht auf Albert Einstein zurück). Er war überzeugt: Die „Kein-Rand-Bedingung“ ist der Schlüssel zur Schöpfung, zur Antwort auf die Frage, warum wir hier sind. Hawkings Konzept hätte bedeutende Konsequenzen für unser Weltbild und religiöse Glaubenssysteme. In seinen eigenen Worten:

„Wenn das Universum einen Anfang hatte, können wir von der Annahme ausgehen, dass es durch einen Schöpfer geschaffen worden sei. Doch wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende; es würde einfach sein. Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?“

Im Jahr 2004, er konnte schon nicht mehr ohne Hilfe sprechen, erkannte Hawking eine Eigenschaft Schwarzer Löcher an, die seinen Arbeiten von 30 Jahren zuvor widersprach: In ihnen geht keine Information verloren. Jegliche Information über Objekte, die ein schwarzes Loch verschluckt, wird irgendwann in einer veränderten Form wieder ausgespuckt. Diese Einsicht beruhte auf Eigenschaften einer Theorie, die seitdem entstanden war: der String-Theorie. Und hier gab er sich als fairer Verlierer. Noch im Jahr 1997 hatte er mit seinem Kollegen John Preskill gewettet, dass es in einer Quantengravitationstheorie keine Möglichkeit gibt, dass in einem Schwarzen Loch Information erhalten bleibt. Mit seinem Meinungswechsel löste er auch seine Wettschulden ein, eine Enzyklopädie nach Wahl des Gewinners, aus der Informationen „ganz nach Wunsch wiedererlangt werden können“.

Auch ausserhalb seines Fachgebiets zögerte Hawking nicht, seine Meinung öffentlich zu machen. So sprach er über mögliche Risiken, die die Suche nach außerirdischem Leben für die Menschheit hat, die Notwendigkeit, den Weltraum zu besiedeln, oder darüber, dass künstliche Intelligenz und Roboter den Menschen insgesamt ersetzen könnten. Bezüglich letzterem sagte er:

„Der Erfolg bei der Schaffung einer künstlichen Intelligenz könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein. Aber es könnte auch das Letzte sein, wenn wir nicht lernen, Risiken zu vermeiden. Neben den Vorteilen bringt die künstliche Intelligenz auch Gefahren mit sich, wie mächtige autonome Waffen oder neue Wege für die Wenigen, die Vielen zu unterdrücken.“

Durch Hawkings öffentliches Engagement und seine populären Bücher erhielt auch ein breiteres Publikum eine gewisse Vorstellung davon, wie verrückt die moderne theoretische Physik klingt und wie erhaben und wunderschön sie doch zugleich ist. Stephen Hawking hat wie nur sehr wenige Menschen (worunter auch Albert Einstein zählt) aufgezeigt, dass die hoch abstrakten und mathematischen Einsichten der modernen Astrophysik und Kosmologie zu den schönsten Produkten des menschlichen Geistes gehören. Trotz ihrer Abstraktheit, die den meisten Menschen den Zugang zu ihnen verschliesst, prägen sie unser modernes Weltbild wie kaum etwas anderes. Und noch auch eine weitere Weise ist Hawking mit Einstein verbunden: Ist es nur ein Zufall, dass sein Todestag genau auf den Geburtstags des grössten Physikers aller Zeiten fällt: Einstein wäre am 14. März 139 Jahre alt geworden (und noch eine Kuriosität: Hawking ist an Galileis Todestag geboren).
Mit Stephen Hawking ist ein wahrlich wunderschöner Geist von uns gegangen, der auch dann nicht aufgehört hat sich in den höchsten Sphären des Denken zu bewegen, als der Körper schon nahezu jede Bewegungsfähigkeit verloren hatte.

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