„Never Ending Stories“ – Von gemeinsamen Strukturen wissenschaftlichen und spirituellen Suchens

Eine der sowohl naturwissenschaftlich wie auch philosophisch spannendsten Fragen überhaupt ist die nach dem Wesen der Zeit. Dabei sehen uns wir mit einer bemerkenswerten Dichotomie konfrontiert: Die uns im Alltag geläufigen Zeitvorstellungen sind nahezu allesamt mit wiederkehrenden kosmischen und irdischen Prozessen verbunden, der tägliche Lauf der Sonne, der monatliche Zyklus des Mondes, die alljährliche Umlaufbewegung der Erde um die Sonne und nicht zuletzt der Zyklus aus Geburt, Altern und Tod, der alles Leben definiert. Die meisten asiatischen wie zahlreiche antik-westlichen[1] philosophische, spirituelle und mystische Denktraditionen beschreiben Zeit daher als zyklisch: alle zeitabhängigen Vorgänge sind wiederkehrend. Fernöstliche hinduistisch, taoistisch oder buddhistisch geprägte Traditionen beschreiben unser Leben als Bestandteil einer unzählige Abfolgen von Werden (Geboren werden), Vergehen (Sterben) und Wiedergeboren werden. Das gesamte Geschehen im Universum entspricht einer Abfolge von periodisch wiederkehrenden Weltzeitaltern. Und auch der abendländischen Moderne sind zyklische Geschichtsvorstellungen keineswegs abhandengekommen –  nicht selten tragen diese apokalyptische Züge, wie etwa bei Oswald Spengler oder, etwas aktueller, im Weltbild des einflussreichen US-Präsidentenberaters Steve Bannon.

Zeit besitzt jedoch auch eine dazu komplementäre Eigenschaft: Sie kennt nur eine Richtung. Vorgänge in unserer Welt können nur vorwärts, niemals rückwärts in der Zeit ablaufen. Eine Tasse, die beim Fall zu Scherben zerspringt, ist eine mögliche Erfahrung, Scherben, die sich wieder zu einer Tasse zusammenfügen, dagegen nicht. Aus der Sicht der theoretischen Physik ist dies zunächst einmal eigenartig, denn die Grundgleichungen der Mechanik, Elektrodynamik, Relativitätstheorie und Quantentheorie sind „zeitumkehrinvariant“: Sie können grundsätzlich  sowohl Prozesse von einer Zeit t1 nach t2  (t1 < t2) beschreiben, als auch die entsprechenden Prozesse in umgekehrter Zeitfolge von t2 nach t1. Mit anderen Worten, die Grundgesetze der Physik beschreiben ausschliesslich „reversible“ Vorgänge. Erst als sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit Wärmephänomenen beschäftigen und nach den theoretischen Grundlagen von Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren suchten, merkten die Physiker, dass es in der Natur notwendigerweise auch irreversibel Vorgänge gibt. Diese Erkenntnis mündete in den bekannten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, auch „Entropiesatz“ genannt: Ein System vieler Teilchen kann immer nur in eine Richtung laufen, vom Zustand niedrigerer zum Zustand höherer Entropie. Ludwig Boltzmann gab dem (zunächst eher ad hoc eingeführten) Begriff Entropie schliesslich seine physikalische Bedeutung als ein Mass für die Unordnung in einem Vielteilchen-Systems. Damit lässt sich der Entropiesatz auch wie folgt formulieren: In einem (abgeschlossenen) System nimmt die Entropie mit der Zeit niemals ab, sondern immer nur zu oder bleibt gleich (eine Erfahrung, die wir auch im Alltag machen, wenn wir merken, dass unsere Wohnung mit der Zeit immer unordentlicher wird, wenn wir nicht ab und zu aufräumen). Und auch das kosmologische Standardmodell, das „Lambda-CDM-Modell“ des Universums, kennt nur eine Zeitrichtung: Es beschreibt die Evolution des Universums innerhalb der letzten 13.8 Milliarden Jahren aus einer Singularität (dem „Urknall“) bis zu seinen heutigen Strukturen.

Es fällt nicht schwer zu erkennen, welche Zeitvorstellung im modernen Denken dominiert. Als wesentliche Triebkräfte der Moderne waren es die Naturwissenschaften, die in den letzten 400 Jahren einen weitaus dramatischeren Wandel im menschlichen Denken und Leben bewirkt haben als dies je zuvor in einer vergleichbaren Periode der aufgezeichneten menschlichen Geschichte geschehen war. Und mit fortdauernder Entwicklung ist aus dem Wunsch der Naturwissenschaftler, die Welt zu verstehen, längst auch ein Wille zur Gestaltung geworden, der uns auf eine rasante, immer schneller werdende Fahrt in eine durch die Naturwissenschaften und die auf ihnen aufbauenden Technologien geprägte Zukunft führt. Dabei folgen die Menschen einer zentralen Idee: der Idee des Fortschrittes. Im Angesicht zunehmender − und sich in den nächsten Jahren wohl noch weiter beschleunigender − Digitalisierung, Nano- und Quantentechnologisierung, Neurologisierung, Biologisierung und anderer ‚-sierungen‘ erleben wir einen historischen Umbruch, der mit hoher Wahrscheinlichkeit unser Menschenbild, sowie unser Sinn- und Daseinsverständnis massiv verändern wird[2]. Das hat Auswirkungen auf grosse Teile der philosophischen Diskussion: Geht es um die ‚Natur der Dinge‘ und zunehmend auch die ‚Natur unserer selbst‘, kommt die führende interpretative Rolle heute den Naturwissenschaften zu[3].

Bei aller offensichtlichen Linearität des naturwissenschaftlichen Fortschrittes und dessen Ausprägung in unserem modernen Zeitverständnis stellt sich nichtsdestotrotz die Frage, ob sich nicht auch der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn und seine Entwicklung durch Periodizitäten auszeichnen. Wir wollen ihr auf zwei Ebenen nachgehen:

  1. Auf Ebene der Struktur und Dynamik des wissenschaftlichen Fortschrittes selbst
  2. Im Lösungsraum der Behandlung und Beantwortung jahrtausendealter existentieller Fragen

Es war der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn, der in der 1960er Jahren prominent darauf hinwies, dass auch der wissenschaftliche Fortschritt universellen Rhythmen und Gesetzmässigkeiten unterworfen ist[4]. Für Kuhn beschreibt der Betrieb einer wissenschaftlichen Disziplin Zyklen, bestehend aus „normalen Phasen“, dem Auftreten von „Anomalien“ und einer entsprechenden Krise der Disziplin und schliesslich dem Prozess einer paradigmenverändernden Revolution. Kuhns Beschreibung der Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnisgenesis ähnelt Musterbildungsprozessen in biologischen oder sozialen Systemen. Die einem jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstadium zugrunde liegende zentrale Beschreibungseinheit nennt Kuhn das „Paradigma“. Es stellt die zu diesem Zeitpunkt allseits akzeptiere grundsätzliche Lehrmeinung dar. Nach einer Phase vorparadigmatischer „Protowissenschaft“, gekennzeichnet durch inkohärentes Suchens und einer Konkurrenz vieler verschiedener Ansätze und Theorien, finden sich eine wissenschaftliche Disziplin zuletzt in einer normalen Phase wieder, in der sich die Wissenschaftler auf ein einziges gemeinsames Paradigma geeinigt haben. Doch erzeugt diese „normale Wissenschaft“ mit der Zeit notwendigerweise Unstimmigkeiten und Anomalien, die, wenn sie eine kritische Masse erreicht haben, zu einer Krise und schliesslich in eine Phase der Degeneration des alten Paradigmas führen. Das nachfolgende Stadium, charakterisiert durch die Suche nach einem neuen Paradigma, nennt Kuhn „ausserordentliche Wissenschaft“. Mit der Einigung auf ein neues Paradigma innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft findet diese Phase zuletzt ihr Ende, womit der Zyklus wieder von vorne beginnt. Den Prozess dieser Einigung nennt Kuhn etwas pathetisch eine „wissenschaftliche Revolution“.

Trotz aller Zyklenhaftigkeit, die Kuhn der wissenschaftlichen Erkenntnisentwicklung zuschreibt, handelt es sich hier allerdings nicht um einen Prozess, der irgendwann wieder an einen Ausgangspunkt zurückkehrt, wie ihn das Bild eines geschlossenen Kreises beschreibt. Kuhns Zyklen sind Kreise im Raum der prozeduralen Strukturen, nicht jedoch im Raum der Erkenntnis. In letzterem liesse sich anstatt eines Kreis vielmehr eine Spirale erkennen, deren vertikale Achse eine (zeitlich) Fortschrittsdimension darstellt. Denn tatsächlich darf die Wissenschaft von sich behaupten, mit der Zeit zu mehr Wissen zu gelangen. Um im Forschungsbetrieb ein wissenschaftshistorisch haltbares Muster von Rückkehr zu immer wiederkehrenden Ausgangspunkten zu finden, sollten wir nicht auf die Dynamik des wissenschaftlichen Betriebs schauen oder auf das (immerfort wachsenden) Spektrum unseres Wissens über das Naturgeschehen, sondern auf die Überlappungen mit existentiellen Fragen, die beide, sowohl wissenschaftliches als auch spirituelles Suchen, beschäftigen:

  • Wie entstand die Welt?
  • Woraus besteht alles?
  • Woher kommt das Leben?
  • Was ist der Mensch?
  • Wie lässt sich unser Geist verstehen?
  • Was ist der Sinn unserer Existenz?
  • Und was bedeutet unser Tod?

Bereits seit Jahrtausenden beschäftigen sich die Menschen mit den diesen Fragen zugrundliegenden existenziellen Geheimnissen. Sie führen uns auf ein weites Feld sowohl wissenschaftlicher als auch spiritueller Perspektiven, wie sie die heutige Physik (Quantenphysik, Relativitätstheorie, Kosmologie) und Biologie (Eigenschaften lebender Systeme, Genetik, Evolutionstheorie) sowie ihre interdisziplinären Grenzgebiete (nicht-lineare Phänomene, Emergenz, Kybernetik, Selbstorganisation), aber auch traditionelle metaphysische Denkansätze von Philosophie, religiösen Glaubenssystemen oder fernöstlicher Spiritualität bieten. Trotz der Dominanz des naturwissenschaftlichen Erkenntnisparadigmas haben sie bis heute weder von ihrem Geheimnis noch von ihrer Faszination, ihrer Kraft oder ihrer Bedeutung verloren. Und haben uns die Naturwissenschaften bereits den einen oder anderen spektakulären Blick auf den Raum möglicher Antworten ermöglicht, so wurden die Wissenschaftler zugleich immer wieder selbst von den spirituellen Dimensionen dieser Fragen eingeholt. Betrachten wir das Schaffen grosser Naturforscher der Vergangenheit von Kepler und Newton über Darwin und Maxwell bis zu Einstein und Bohr, so erkennen wir in ihrem Denken immer auch den Ansporn, Antworten auf sie zu geben – um dabei immer wieder dorthin zurückzukehren, wo die antiken Philosophen bereits waren.

Die Wissenschaftler umkreisen diese existentiellen Fragen wie Planeten, die der Gravitationskraft ihres Zentralgestirns nicht zu entfliehen vermögen. Oder ist es vielleicht eher eine Reise auf einem Möbius-Band? Bei dieser kehrt man zwar wie auf einer Kugel oder einen Kreis immer wieder zur gleichen Stelle zurück, nur halt auf der anderen Seite des Ausgangspunktes (den man daher oft nur schwer wiedererkennt), um die Dinge sozusagen „von der anderen Seite“ zu betrachten (erst eine doppele Umrundung führt uns wieder zum Ausgangspunkt zurück). Oder handelt es sich gar um einen Spaziergang auf einer „Penrose Treppen“, bei der man immer weiter aufsteigt, um dennoch wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen (diese unmögliche Treppe ist benannt nach Lionel Penrose und seinem – bekannteren – Sohn Roger Penrose. Berühmt wurde sie durch M.C. Eschen, den sie zu seinem berühmten Bild inspirierten)? Auf diesen Wegen, seien sie Möbius- oder Penrose-artig, erkennen wir etliche Verbindungen zum spirituellen Suchen, Fragen und Denken, begreifen Bezüge zum religiösen Transzendenten und treffen nicht zuletzt auf den tiefen menschlichen Wunsch nach einem Sinn in unserem Dasein.

Doch religiöse und spirituelle Dimensionen unseres Denkens beanspruchen ihren eigenen Raum jenseits der Naturwissenschaften, intuitiv erfassend, dass die naturalistische Perspektive der Wissenschaften vielleicht nicht alles über die Welt und uns aufzuklären vermag. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang vom „Bewusstsein, dass etwas fehlt“. Dieses Fehlende entspricht – je nach Sichtweise − einem menschlichen Bedürfnis oder der Möglichkeit eines tieferliegenden Zugangs, bei dem unsere Welt- und Daseinserfassung auf Formen des Nicht-Materiellen und Nicht-Nützlichen ausserhalb des naturwissenschaftlichen Methoden- und Erfassungsvermögens zurückgreifen müssen, deren gemeinsamer Nenner seit nahezu 3000 Jahren der Bezug auf geistige, zumeist transzendente Entitäten ist. Wir fragen als Menschen nicht nur nach den weltlichen Wirkungs- und Kausalmechanismen, sind nicht nur an unserem Dasein als solchem interessiert, sondern wir fragen auch, was und wozu wir da sind und was wir in dieser Welt sollen und wollen sollen. Fragen wie diese kann die Wissenschaft nicht nur nicht beantworten, streng genommen kann sie sie schon gar nicht stellen. Sie umfassen das „grosse Ganze“, welches sich durch das Partikuläre nicht erfassen lässt. Und betrachten wir dieses „grosse Ganze“, so brauchen wir eo ipso einen Blickwinkel von ausserhalb davon, eine jenseitige Perspektive, mit anderen Worten: eine transzendente Sichtweise.

So müssen wir auch erkennen, dass obwohl die Naturwissenschaft die wohl prägendste Kraft des modernen Denkens über die Natur und den Menschen darstellt, sie in keiner ihrer Disziplinen bisher an irgendeine Art von Ende gelangt ist. Nirgendwo zeichnet sich ab, dass sie obige Fragen endgültig geklärt und die mit ihnen verbundenen Geheimnisse unserer Welt aufgeklärt hat. Wenn sie nach dem Anfang der Welt, der letzten Grundstruktur der Materie, der Entstehung des Lebens oder dem Wesen unseres Bewusstseins fragen, müssen die Wissenschaftler zuletzt noch immer auf Hypothesen oder gar Spekulationen zurückgreifen, die denen der Vorsokratiker oder buddhistischen Philosophen der Antike durchaus ähneln.  Dies betrifft auch und insbesondere die tiefste der existentiellen Fragen, welche der englische Naturalist Henry Huxley 1863 wie folgt formulierte:

Die Frage aller Fragen – das Problem, welches allen übrigen zugrunde liegt und welches tiefer interessiert als irgend ein anderes, ist die Bestimmung der Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt, und seiner Beziehung zur der Gesamtheit aller Dinge.

Die antiken Philosophen Platon und Aristoteles erkannten, dass der Ursprung dieser Fragen in unserem Staunen liegt, einem profunden Staunen über die Schönheit der Natur, die Mächtigkeit ihrer Gewalten, die Vielfalt ihrer Gestalten und die Geheimnisse und Wunder ihrer Phänomene.  Diese „Wunder“ bringen uns „zum wundern“, und dieses „sich wundern“ birgt bis heute einen gemeinsamen Entstehungskeim und anhaltenden (und immer wiederkehrenden) Motivationstreiber sowohl des wissenschaftlichen als auch des spirituellen Erkenntnisstrebens. Denn sowohl Naturwissenschaftler als auch spirituell geprägte Menschen empfinden bis heute tiefe Ehrfurcht und anstachelnde Neugier angesichts des Erhabenen im Naturgeschehen und in der Phänomenologie unseres Geistes. Einstein fasste dieses Gefühl der Ehrfurcht des Naturwissenschaftlers wie folgt zusammen:

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Wissenschaft und Kunst steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge ist erloschen.

So lassen sich die modernen Naturwissenschaften einerseits als grosse Herausforderung für spirituelle Selbstgerechtigkeit, als einen substantiellen Einbruch in die spekulative Behandlung existentieller Fragen deuten. Womit  die 400-jährige Geschichte des Verhältnisses von religiösen und spirituellen Traditionen zur modernen Wissenschaft auch als Historie eines immer weiteren Verdrängens traditioneller spekulativer Antworten auf sie gesehen werden kann (so wissen wir heute, dass die Welt nicht vor 6000 Jahren geschaffen wurde, die Erde nicht Mittelpunkt des Kosmos ist, das heutige Leben auf der Erde nicht aus einem einzigen göttlichen Schöpfungsakt hervorgegangen ist, und die Wahrnehmung und das Denkens einen materiellen Träger im Gehirn besitzen). Mit anderen Worten, die Wissenschaft hat sich als mächtige Korrektur nicht länger haltbarer metaphysischer Spekulationen religiöser, spiritueller und philosophischer Denkbewegungen bewiesen.

Zugleich konnte sie sich dabei selber nie dem Wundern und Staunen entziehen. Bei eingehender Betrachtung der historischen Entwicklung der Naturwissenschaften erkennen wir sogar, dass spirituelle Fragen in ihr immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt haben. So fallen sowohl der Beginn der rationalen Naturerfassung wie auch die „Entdeckung des Transzendenten“ nicht zufällig in die gleiche Periode von ca. 800 bis 200 v.u.Z., die Karl Jaspers  begrifflich als „Achsenzeit“ der Menschheit geprägt hat. In ihr liegen sowohl der bekannte Übergang vom „Mythos zum Logos“ als auch der (weniger bekannte) Ursprung der monotheistischen Religionen im Nahen Osten, die Reinkarnationslehre in Indien und der Zoroastrismus in Persien. Die in dieser Zeit geborene intellektuelle Mischung aus empirisch-rationaler Naturerfassung und transzendenzbezogener Wirklichkeitsauffassung hielt sich bis in die Neuzeit. Sie trieb noch Kepler und Newton zu ihren Naturtheorien und ermöglichte zugleich der modernen Naturphilosophie Descartes und Leibniz die ersehnte Möglichkeit einer letztendlichen Gewissheitsinstanz jeder Naturbeschreibung, wie unten noch weiter ausgeführt werden soll. Und obwohl die Gegensätze zwischen naturwissenschaftlich-empirisch-rationaler Weltbeschreibung und metaphysisch-spekulativem Transzendenzbezug mit der europäischen Aufklärung immer deutlicher zutage traten, riss ihre Verbindung bis in die heutige moderne Naturforschung nie völlig ab.

Werden uns die Naturwissenschaften irgendwann die letzten Einzelheiten darüber erklären können, wie das Universum, unsere Galaxie, unser Planet und das Leben darauf entstanden sind? Werden wir eines Tages wissen, wie aus dem Netzwerk von Neuronen in unserem Gehirn Denken und Bewusstsein hervorgehen, oder wie sich aus unseren Genen unsere physischen und psychischen Eigenschaften erklären lassen? Werden wir wissen, wie die wirklich allerkleinsten Bausteine der Materie aussehen und ob sich die Welt mit einer einzigen Formel beschreiben lässt? Finale wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen würden nichts weniger bedeuten als der endgültige Ausbruch aus dem bereits 3000 Jahren währenden Zyklus unseres Suchens nach Antworten auf die existentiellen Geheimnisse. Was würde dies für uns, unser Selbstbild und unser menschliches Zusammenleben bedeuten? Und was würde dies zuletzt für unsere Frage nach dem „Sinn des Ganzen“ heissen, die sich doch der direkten naturwissenschaftlichen Behandlung entzieht? Oder hat sich die Naturwissenschaft des 21. Jahrhunderts bereits in die Grenzgebiete ihrer eigenen Methodik begeben? Agiert sie bereits in Bereichen, die selbst hartgesottenen Verfechtern des naturwissenschaftlichen Erkenntnisparadigmas ihre methodischen und intellektuellen Grenzen aufzeigen? Wo genau beginnen dann andere Bereiche wie Kunst, Spiritualität oder Religion ihre eigenen Antworten mit einem ebenso eigenen Wahrheitsanspruch zu geben. Und können wir diese verschiedenen Ansprüche überhaupt irgendwie miteinander in Einklang bringen?

An dieser Stelle sei betont, dass die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts, der Urknall unseres modernen Denkens über die Natur, von religiösen und absoluten Wahrheitsbestimmungen noch derart durchdrungen war, dass man diesen bei der Entstehung des naturwissenschaftlichen Denkens gar eine wesenskonstituierende Rolle zusprechen muss. Erst in den letzten 100 Jahren lässt sich ein radikaler Wechsel in ihrem Erklärungsanspruch erkennen, welcher letzthin auch für die gesellschaftliche Diskussion um das Wirken der Naturwissenschaften eine tiefe Bedeutung gewinnt. Es lohnt sich dies genauer anzuschauen: Die historischen Anfänge der Naturwissenschaften liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern und spätestens mit Platon und Aristoteles entstanden die Grundlagen einer Metaphysik, die nach letzten Gründen und Zusammenhängen suchte, die sich hinter den Phänomenen der Natur verbergen müssen. Für dieses Letzte, Unbedingte, von nichts anderem mehr Abhängende haben die Philosophen einen eigenen Begriff entwickelt: „Substanz“ (griech. οὐσία, lat. substantia). In der antiken Naturphilosophie ging es bei der Frage nach Wahrheit also letzthin um die „erste und letzte Substanz“. Ungeachtet der philosophischen Schwierigkeiten, die mit dem Gedanken einer absoluten und finalen substantiellen Entität oder eines entsprechendes all-begründenden Prinzips allen Naturdaseins verbunden sind, hielt sich der damit verbundene intellektuelle Antrieb bis in die Neuzeit. Er motivierte Kepler in seiner Planetenlehre, galt Newton als Grundlage für sein mathematisches System der Mechanik und liess die Physiker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer allumfassenden Einheit der Natur träumen. Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – welche, wie die beiden Philosophen, Mathematiker und Naturforscher erkannten, ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur jenseits des sinnlich Erfahrbaren im Transzendenten finden kann. In diesem philosophischen Denkrahmen galt fortwährend der immer gleiche absolute Massstab, nach dem sich die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge immer auf die Einheitlichkeit eines all-begründenden Prinzips reduzieren lassen soll. Es ist dies der Punkt, an dem sich die Kontinuität (oder Zirkularität?) des Denkens vom frühen ersten vorchristlichen Jahrtausend bis zur Moderne deutlich erkennen lässt. Erst mit der Entstehung der modernen Physik im 20. Jahrhundert beschleunigte sich ein Prozess, im Verlaufe dessen die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung (mit Bayesianisch geprägtem Methodenrahmen) zurückgedrängt wurde. In der Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie Quantenphysik und Relativitätstheorie betrieben, lässt sich daher ohne weiteres auch eine der grössten philosophischen Einsichten des letzten Jahrhunderts erkennen.

Tatsächlich erkennen wir heute, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums von einer universellen Substanz bzw. einem absolut Wahren und den damit verbundenen radikalen Wechsel ihres Erklärungsanspruches gewonnen hat. Bekannte Beispiele sind die Ersetzung von Newtons Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit in der Relativitätstheorie, der neue Objektbegriff in der Quantenphysik und die zentrale Bedeutung von Konzepten wie Information und Selbstorganisation in Evolutionstheorie und Genetik, den beiden Pfeilern der modernen Biologie.

Die Entwicklung der modernen Wissenschaften und ihre Aufgabe eines universellen Substanzbegriffs besitzt im Übrigen eine bedeutende Dimension im politischen Raum − worauf zum ersten Mal Karl Popper hinwies[5]: In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und der Legitimation politischer Autorität erkennen. Noch jedes Mal, wenn die Menschen glaubten, sie hätten die perfekte Gesellschaftsform, beziehungsweise das perfekte Modell für politische oder ökonomische Machtausübung gefunden, endeten sie in der Erstarrung eines despotischen Absoluten. Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren. Entsprechend befinden sich wie der Verlauf wissenschaftlicher Forschung auch politische Entscheidungsprozesse in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich ihre Protagonisten immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. Eine Regierungsform, in der Macht ihr Wirken ständig korrigieren und sich permanent demokratisch rechtfertigen muss oder andernfalls abgewählt zu werden droht, ermöglicht eine ganz andere gesellschaftliche (und technologische) Dynamik als autoritäre Regierungsformen.

Doch schlich sich mit all den Abstraktionen und Mathematisierungen der modernen theoretischen Physik nicht doch wieder ein Objektivitätsglaube in die Vorstellungen der Wissenschaftler ein, und dies vielleicht gar auf eine noch subtilere Art und Weise als zuvor? Tatsächlich folgen die Physiker in ihrer grossen Mehrheit heute nach wie vor einem metaphysischen Glauben an ordnungsschaffende Prinzipien oder an eine grundlegende Substanzhaftigkeit in den Dingen, die sie untersuchen. Auch sind sie trotz aller quantenmechanischer Unbestimmtheit von der Unabhängigkeit ihrer Beobachtungsobjekte von den Betrachtungen, die sie an ihnen vornehmen, überzeugt. Man könnte meinen, an die Stelle von Materie (Atome), Feldern und Wechselwirkungen sind nun Konzepte wie Symmetrien, Invarianzen, Erhaltungssätze, mathematische Grundprinzipien oder Ähnliches getreten, denen die Physiker vergleichbare absolute Substanzeigenschaften zukommen lassen wie die mittelalterlichen Scholastikern dies mit ihren Universalien taten. Sie scheinen die Rolle der traditionellen metaphysischen Denkfiguren in substantiellen Ursprüngen und Grundlagen übernommen zu haben, ohne die nichts sein kann. Findet hier der “metaphysische Zyklus der Substantialität” nicht seine Fortsetzung, trotz allen Wissens und Fortschritts, den wir mit Quantenphysik, moderner Biologie, etc. in den letzten 100 Jahren erzielt haben?

Der Weg echten Fortschritts verläuft stets über die andauernde Korrektur falscher Entscheidungen, was in den offenen, anti-autokratischen und demokratischen Gesellschaften des 19., 20. und 21. Jahrhunderts letzthin eine unübertroffene gesellschaftliche Wachstums- und Wohlstandsentwicklung ausgelöst hat. Gerade indem die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigierbar und erweiterbar ansieht, definierte sie letzthin ihrerseits die historisch beispiellose moderne gesellschaftliche Fortschrittsdynamik. Die Parallelität beider Entwicklungen ist kaum zufällig. Aber wenn es um die wahrlich existentiellen Fragen geht, sind wir heute wirklich näher an letzten Antworten als die antiken Philosophen dies waren? Im Lichte beider, dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Weiterkommen sowie dem Fehlen von letzten Antworten, scheint Fortschritt sowohl lineare als auch zyklische Charakteristiken zu haben. Auf jeden Fall sind wissenschaftliches Suchen, spirituelles Denken, sowie die gesellschaftliche Entwicklung allesamt „Never Ending Stories“.

[© Lars Jaeger, Kunstmuseum Wolfsburg und Hatje Cantz Verlag. Dieser Text wurde für den Katalog zur Ausstellung „NEVER ENDING STORIES. Der Loop in Kunst, Film, Architektur, Musik, Literatur und Kulturgeschichte“ verfasst, die vom 29. Oktober 2017 – 18. Februar 2018 im Kunstmuseum Wolfsburg stattfindet. Hg. Ralf Beil. Erscheinungstermin Ende Oktober 2017. Die Publikation ist im Buchhandel sowie zu einem Vorzugspreis im Museumsshop des Kunstmuseums Wolfsburg erhältlich. www.kunstmuseum-wolfsburg.de]

[1] Siehe z.B. bei Platon im Timaios 37d, wo Zeit zyklisch als fortschreitend beschrieben wird (und mit dem Gott Chronos verbunden ist). Siehe auch bei Heraklit in DK (Diels, Kanz), Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit B 52.

[2] Siehe auch L. Jaeger, Supermacht Wissenschaft, Gütersloher Verlagshaus (2017)

[3] Siehe auch L. Jaeger, Wissenschaft und Spiritualität, Springer-Spektrum  (2017)

[4] Th. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1967)

[5] K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Francke Verlag (1957).

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