„Maschinen wie ich“ – Zu Ian McEwans neuem Roman

Die meisten Leser von Romanen, und wohl auch ihre Autoren, verstehen kaum die Details des sich mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelnden technologischen Fortschritts. Zwar wird viel über neue Technologien diskutiert, aber nur wenige ahnen, wie stark wir von ihnen zukünftig durgeschüttelt werden. Der amerikanische Forscher und Stanford Professor Roy Amara formulierte 2006 das nach ihm benanntes Gesetz: „Wir neigen dazu, die Wirkung einer Technologie kurzfristig zu überschätzen und sie langfristig zu unterschätzen“. So unterschied sich das Leben im Jahr 1995 nicht so sehr von dem des Jahres 1970 – Haarschnitte und andere Moden hatten sich geändert und insgesamt gab es mehr Wohlstand. Geht man aber etwa die gleiche Zeitspanne, ein Vierteljahrhundert, von 1995 bis heute, in die Zukunft, landet man in einer völlig anderen Welt. Die Gegenwart hat kaum noch etwas mit 1995 gemein: Wer kann sich heute eine Welt ohne Internet, E-Mail, Musik ohne CDs, Digital-TV, Satellitennavigation oder minimalinvasive Operationen vorstellen? Immer neue Innovationen führen uns in neue Dimensionen der Naturbeherrschung und Lebensgestaltung, die uns nur wenige Jahre zuvor noch unvorstellbar erschienen.

Man muss nur einmal die einschlägigen Wissenschaftsjournale anschauen um zu erahnen, was nur schon in den letzten Monaten Bahnbrechendes passiert ist: IBM bringt den ersten kommerziellen Quantencomputer heraus (Januar 2019), die Genschere CRISPR könnte noch effizienter werden (Februar 2019), Forscher fotografieren das erste Schwarze Loch (April 2019), Bakterien mit vollständig künstlichem Erbgut werden hergestellt (Mai 2019), der Deutsche Ethikrat definiert eine neue ethische Leitlinie, die Keimbahninterventionen am Menschen unter gewissen Umständen explizit zulässt (Mai 2019), Forscher finden ein Material, dass bereits bei -23 Grad Celsius supraleitend wird (Mai 2019).

Längst haben Romanautoren den technologischen Fortschritt als reiche Quelle für ihre Geschichten entdeckt: Letztes Jahr Frank Schätzing mit seinem neuen Roman Die Tyrannei des Schmetterlings, davor Dan Brown mit seinem Bestseller Origin, Michael Crichton in Büchern wie Beute oder Micro und Dave Eggers in The Circle. Oder auch Zero von Marc Elsberg, Das Erwachen von Andreas Brandhorst, NSA – Nationales Sicherheits-Amt von Andreas Eschbach – die Liste von Bestsellern, in denen eine neue Supertechnologie das Geschehen bestimmt, liesse sich weiter fortsetzen.

So wagt sich auch der englische Meistererzähler und Bestsellerautor Ian McEwan in seinem neuen Roman Maschinen wie ich an einen Plot, der um eine bahnbrechende technologische Innovation kreist, und zwar um einen humanoiden Roboter, der gerade in einer Kleinserie von 25 Exemplaren auf den Markt gekommen ist. „Die Phantasie, so viel schneller als jede Historie, als jeder technologische Fortschritt, hatte diese Zukunft bereits in Büchern durchgespielt.“ Dieser Satz, prophetisch sowohl für die Geschichte des Romans wie auch für unsere heutige Realität, erscheint bereits auf S.2 und bestimmt den Ton des Buches: Hier offenbart sich ein neues technologisches Zeitalter und ausser ein paar wenigen kriegt es niemand so richtig mit.

Wie Frank Schätzing und Dan Brown wählt McEwan einen genialen Computer-Wissenschaftler als Pionier einer neuen Welt. Doch anders als Schätzing und Brown handelt es sich bei ihm um eine reale Person: den Computer-Pionier Alan Turing. McEwan führt uns in ein Jahr 1982, das ab dem 7. Juni 1954 eine andere Geschichte erlebt hat als die uns bekannte: Hier stirbt der geniale Informatiker Alan Turing nicht an einer Cyanid-Vergiftung durch Suizid, nachdem er als Homosexueller wegen „grober Unzucht und sexueller Perversion“ angeklagt und nach seiner Verurteilung gezwungen worden war, das Hormon Östrogen zu nehmen, das ihn in eine Depression hat fallen lassen, sondern er lebt als rustikaler 70-Jähriger auch noch im Jahr 1982. Turing kann auf eine eindrucksvolle wissenschaftliche Karriere zurückblicken, insbesondere als Begründer der Disziplin der künstlichen Intelligenz, die dank ihm im Jahr 1982 schon weit über den Status hinausgelangt ist, den sie in unserer Welt im Jahr 2019 hat. McEwan lässt Turing sogar das berühmte „P versus NP“-Problem lösen. In der alternativen Geschichte des Jahres 1982 verliert England gerade den Falkland-Krieg, Maggie Thatcher muss zurücktreten und der Sozialist Tony Benn wird englischer Premierminister, Jimmy Carter war als US-Präsident 1980 gegen seinen Widersacher Ronald Reagan wiedergewählt worden und J.F. Kennedy 1963 knapp dem Tod entkommen. Aber all das ist nur Beiwerk. Das für die Geschichte wichtigste ist: Der humanoide Roboter Adam kommt auf den Markt. Der Protagonist des Romans Charlie kauft sich (wie auch Turing) mit seinen letzten Ersparnissen einen davon. Dieser stellt sich als erstaunlich menschlich heraus. So wird Charlie zum ersten von einem Roboter gehörnten Mann, als seine Freundin Miranda hörbar ekstatisch Sex mit Adam hat, Charlie wird mit seinem eigenen Roboter verwechselt, und Adam entwickelt sogar echte Gefühlte. McEwan entwirft einen komplexen und den Leser in seinen Bann ziehenden Plot, in dem es um Liebe und Sex, Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, Moral und Gesetz sowie nicht zuletzt Genialität und Banalität geht. Nun sind Sexroboter schon lange ein Thema in unserer heutigen Gesellschaft, so dass der Wunsch Mirandas, es einfach mal mit Adam auszuprobieren, so schockiert der Leser auch sein mag und so sehr er mit dem eifersüchtigen Charlie, der dies „live“ miterleben muss, auch mitfühlt, nichts wirklich Futuristisches darstellt. Der wahre Kern des Romans und seine Brisanz liegt in der Frage: Können Maschinen ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln?

McEwan beantwortet diese Frage (zumindest in seinem Roman) mit einem klaren „Ja“. Adam, auch wenn künstlich geschaffen, ist eine „ihrer selbst bewusste Existenz“, die genuine Subjektivität erfährt: Er verliebt sich in Miranda, er leidet an seiner fehlenden Geschichte, er freut sich und ist zuweilen „voller Hoffnung“, er fällt moralische Urteile und handelt autonom nach diesen – zuletzt können sich seine Artgenossen vor Verzweiflung sogar selbst umbringen. Es gibt viele technologische und philosophische Gründe zu behaupten, dass McEwan ein völlig unrealistisches und technisch niemals realisierbares Szenario entwirft, weil unser Selbstbewusstsein die letzte, wissenschaftlich niemals erklärbare und daher technologisch ebenso wenig reproduzierbare Domäne unseres Menschseins sei. Doch damit bleibt man auf der philosophisch langweiligeren Seite. Denn die Aussicht, dass auch Maschinen ein Bewusstsein erlangen können, besitzt weitaus mehr Dramatik für unser eigenes Selbstverständnis. Dies zeigt uns McEwan auf wunderbare Art und Weise, indem er uns den philosophischen Spiegel vorhält. Denn seine sich ihrer selbst bewussten Maschinen sind eben keine „Maschinen wie ich“, sondern mit weitaus besseren und rationaleren Entscheidungsfähigkeiten und grösserer moralischer Klarheit ausgestattet als wir Menschen. So scheitern sie zwangsläufig an der Irrationalität und dem „Hurrikan von Widersprüchen“ des Menschen, wie McEwan Turing sagen lässt: „Wir bedrohen unsere Biosphäre, obwohl wir wissen, dass sie unsere einzige Heimat ist. Millionen Menschen sterben an Krankheiten, die wir heilen können, Millionen leben in Armut, obwohl es genug für alle gibt. Wir bedrohen uns gegenseitig mit Atomwaffen, auch wenn wir wissen, wohin das führen kann. Wir lieben Lebendiges, lassen aber massenhaftes Artensterben zu. Und dann: Genozid, Folter, Versklavung, häusliche Gewalt bis hin zu Mord, Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, etc.“ Hier wird McEwan zu einem wortgewaltigen Mahner, ohne dass dies auch nur im Geringsten aufgesetzt wirkt.

Auch wissenschaftlich befindet sich McEwan auf der Höhe der Zeit: Unter Neurowissenschaftlern mehrt sich die Auffassung, dass das „Ich“ nichts anderes als eine − wenn auch von uns nur schwierig oder gar nicht zu erkennende – mentale Konstruktion ist, die von unserem Gehirn erzeugt wird, um selektiv und effektiv Informationen darzustellen und zu verarbeiten (zu „repräsentieren“, wie es die Philosophen ausdrücken). Ein an sich existierendes, irreduzibles „Selbst“ gibt es nicht. Was es gibt, ist das erlebte Gefühl des „Ich-Seins“ und die ständig wechselnden Inhalte des Bewusstseins von uns selbst, erzeugt von einer materiellen Entität, unserem Gehirn. So führt uns „Maschinen wie ich“ die Anfänge eines historischen Umbruchs vor Augen, im Verlaufe dessen wir nicht nur neue mächtige und atemberaubende Technologien erleben werden, sondern auch uns selbst, unser Selbstwahrnehmung, unsere Biologie, unsere Identität und unser Bewusstsein grundlegend verändern könnten. In Anbetracht dessen wird es vermutlich bereits in nicht allzu ferner Zukunft einen Moment geben, in dem sich die Spielregeln des menschlichen Lebens und Zusammenlebens fundamental verändern könnten. So stellt sich nicht nur am Ende des Buches von Ian McEwan die Frage: Sind wir darauf vorbereitet?

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