Wir sind es nicht gewohnt, das Wort „Spannung“ in einen Zusammenhang mit der modernen Physik zu bringen. Im Allgemeinen gelten Physiker als nüchterne, wenig aufgeregte Zeitgenossen, in deren Gemeinschaft ausgeprägte emotionale Ausbrüche eher Ausnahmen darstellen. Eine solche war der 4. Juli 2012, als das Europäische Kernforschungszentrum CERN, Sitz des grössten und mächtigsten Teilchenbeschleunigers der Welt, des Large Hadron Collider (LHC), bekanntgab, man habe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das jahrzehntelang gesuchte Higgs-Boson gefunden hat, das letzte fehlende Stück im Puzzle des Standardmodells der Elementarteilchen. Es handelt sich dabei um das ominöse in der Öffentlichkeit auch „Gottesteilchen“ genannte und bis anhin nur als Ausgeburt sehr abstrakter mathematischer Theorien postulierte Teilchen, welches der Weltmaterie zuletzt Masse verleiht.

Nun fragt sich die interessierte Öffentlichkeit vielleicht, was nach diesem grossartigen Erfolg am LHC denn eigentlich noch weiter erforscht werden soll. Warum haben die Physiker seit Anfang 2013 zwei Jahre lang an dieser komplexesten je gebauten Maschine noch weiter gewerkelt, geschraubt, zusammengesetzt und abgedichtet? Diese Frage lässt sich klar beantworten, und es ist nichts anders als diese Antwort, welche den Physikern das Herz vor Aufregung höher schlagen lässt. Denn im Grunde war es nicht alleine das Higgs-Teilchen, welches die Physiker mittels des LHCs zu entdecken suchten – die meisten von ihnen waren sich gar sicher, dass dessen Entdeckung bei Erreichen gewisser Energieskalen so ganz nebenbei und automatisch erfolgen würde. Vielmehr war der Bau des LHC mit grossen Hoffnungen auf neue Einsichten in die Physik jenseits des Standardmodells verbunden. Denn so überzeugend bisher auch jede experimentelle Überprüfung zugunsten dieses bisherigen Grundmodells der Mikrowelt ausgefallen ist (und es mit dem Higgs-Teilchen seine finalen Adelsschlag erhalten hat), die Physiker sind davon überzeugt, dass es auf höheren Energieskalen seine Richtigkeit verliert. So gibt es zahlreiche Hinweise und jede Menge guter theoretischer Gründe dafür, dass es für Energien unmittelbar jenseits des Bereichs bisheriger Teilchenbeschleuniger in Schwierigkeiten kommen wird. Mit anderen Worten, das Standardmodell wird Farbe bekennen müssen: Mit dem erweiterten Energiebereiches, der sich den Physikern mit dem neu aufgerüsteten LHC schon bald eröffnet, und der genaueren Vermessung des Higgs-Teilchens könnten und sollten sich Hinweise darauf finden lassen, wie die Physik jenseits seiner Grenzen aussieht.

Es wird also erst ab jetzt so wirklich spannend in der Physik der allerkleinsten Teilchen. Zur wahren Wertschätzung dieser Spannung sollten die Nichtphysiker unter uns vielleicht erfahren, was es mit dem Standardmodell der Teilchenphysik eigentlich auf sich hat. Warum hegen die Physiker nun die Hoffnung, dass sie bei der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, unmittelbar vor weiteren entscheidenden Erkenntnissen stehen? Die Antwort ist wie die gesamte moderne theoretische Physik nicht ganz so einfach und verbirgt sich hinter einem hochgradig abstrakten mathematischen Apparat. In vereinfachten Worten: Trotz und gerade nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens leidet das Standardmodell an mindestens drei grundlegenden Problemen. Das erste ist eher von ästhetischer Natur: Das Modell ist alles andere als übersichtlich. Man könnte sagen, es ist ein heilloses Durcheinander. Die meisten theoretischen Physiker hegen den tiefen Glauben, dass die Grundgesetze der Natur im Grunde sehr einfach sind. Als „einfach“ gilt unter Physikern eine Theorie, wenn sie nur wenige freie Parameter besitzt. Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Naturkonstanten, Grössen, die sich nicht aus der Theorie selbst ergeben. Das Standardmodell jedoch kommt mit einer Menge solcher a priori unbestimmten Konstanten. Die Standardtheorie ist den Physiker somit schlicht zu „hässlich“, oder wie sie lieber zu sagen pflegen: sie ist „unvollständig“. Zweitens ergibt sich aus dem Standardmodell ein schwerwiegendes Problem, was unter Physikern unter den Namen „Hierarchieproblem“ bekannt ist: Die verschiedenen Grundkräfte in unserer Welt, die beiden atomaren Kräfte, die elektromagnetische Kraft und zuletzt die Gravitationskraft, besitzen sehr unterschiedliche Stärken. Mit anderen Worten, sie weisen untereinander eine Hierarchie auf. Aus dieser Tatsache ergeben sich in jeder zugrunde liegenden Quantenfeldtheorien schwerwiegende theoretische Probleme, welche sich jedoch erst bei höheren Energien manifestieren. Eine Konsequenz daraus ist, dass ein mit höheren Energien kompatibles Standardmodell eigentlich eine wesentlich höhere Masse für das Higgs-Teilchen vorhersagt als die im LHC gemessene. Und zuallerletzt schliesst die Standardtheorie nicht die Gravitation ein. Noch schlimmer: Die Physiker mussten erkennen, dass die Theorie der Gravitation, Einsteins Feldtheorie der allgemeinen Relativität, grundsätzlich unvereinbar mit der Struktur einer jeden Quantenfeldtheorie ist, wie es das Standardmodell eine darstellt.

Ein Ansatz zur Lösung dieser Probleme könnte das Auffinden einer neuen Art von Symmetrie in der Natur sein. In der Tradition pompöser Namen sprechen die theoretischen Physiker von der „Supersymmetrie“ (SUSY). SUSY liesse jedem Teilchen ein Partnerteilchen mit jeweils entgegengesetzten Spin-Eigenschaften zukommen, d.h. jedem Fermion ein Partner-Boson und jedem Boson ein Partner-Fermion. Sie sagt also die Existenz einer ganzen Reihe von neuen Teilchen voraus, deren Energieskala bzw. Massen wir allerdings noch nicht kennen. Dies allerdings ist noch reine Spekulation. Würden mit dem LHC tatsächlich SUSY-Teilchen entdeckt werden, die Aufregung der Physiker am CERN und darüber hinaus wäre wohl beträchtlich grösser als bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens. Es wäre nichts weniger als eine historische Sternstunde der Physik und der Wissenschaft insgesamt.

In diesen Tagen (genauer am 23. März) ist es endlich soweit. Der LHC wir auf seine maximale Energie hochgefahren. Dann werden in ihm Protonen auf eine Energie von 6.5 TeV beschleunigt, sodass sie mit einer Gesamtenergie von 13 TeV frontal zusammenstossen. Es könnte der Ausgangspunkt zu einer heroischen Stunde in der Wissenschaftsgeschichte sein. Finden wir endlich SUSY-Teilchen? Oder vielleicht einen Kandidaten für die ominöse dunkle Materie, von deren Existenz Astronomen ausgehen, weil sie anders bestimmte Bewegungsdynamiken in einigen Galaxien nicht zu deuten vermögen? Und dies ist noch nicht alles. Der LHC könnte auch erste Hinweise geben, wie die grosse Vereinheitlichung aller Kräfte mitsamt der Gravitation aussehen könnte. Das wäre dann wirklich ein Vorstoss in ganz neue Dimensionen. Und wer weiss: Vielleicht lassen sich mit seiner Hilfe auch unerwartete Hinweise in Richtung einer ganz neuen Theorie finden. Ist das nicht ausreichend Stoff für Spannung?

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