Gottfried Wilhelm Leibniz – Der naturphilosophische Aufbruch in die Moderne

Nur noch sehr spärlich ist in unseren Zeiten der Stand des Universalgelehrten besetzt. Vielmehr wird wer im 21. Jahrhundert behauptet, in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplin zugleich an der Front der Forschung mitwirken zu können, bei seinen Zeitgenossen wohl nur noch ein mitleidiges Lächeln erhalten. Zu komplex und vielfältig sind die Forschungsfelder der heutigen Wissenschaften, und es ist geradezu ein Charakterzug der Spätmoderne, dass Gelehrte und Genies nur auf einem jeweils sehr beschränkten Gebiet Experten sein können. So ist ein Philosoph kaum mehr ein begnadeter Physiker, ein Mathematiker wird sich nicht den Fragen der Geologie widmen, und den Chemiker beschäftigen keine Grundfragen zur Metaphysik. Vor nur 300 Jahren war dies noch anders: Ein begnadeter Denker konnte noch Philosophie, Mathematik, Physik, Informatik, Geschichte und andere Wissenschaften simultan betreiben, und dies mit dem Ehrgeiz in jeder Disziplin an vorderster intellektueller Front zu wirken. Im philosophischen Denkrahmen der Barockzeit gab es immer noch den absoluten Maßstab, von dem aus die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge aus einer einheitlichen Perspektive betrachten werden sollte. Ein solcher Gelehrter war Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen 370. Geburtstag wir soeben feierten (1. Juli) und an dessen 300. Todestag ebenfalls in diesem Jahr zu gedenken sein wird (14. November). Leibniz war der führende Wissenschaftler in nahezu sämtliche Wissensfelder seiner Zeit, was ihm heute zuweilen den Titel „des letzten Universalgelehrten der Geschichte“ erhalten lässt. Er war geleitete vom Bestreben, die Einheit in der Vielfalt zu erfassen und die tiefere Harmonie in der Natur zu entdecken, Motivationen, die bis heute wesentliche Antriebskräfte naturwissenschaftlicher Forschung darstellen. Zugleich war Leibniz immer auch bemüht, seine Theorien für die gesellschaftliche Praxis nutzbar zu machen. Letzteres erkennen wir in seinem berühmten Credo „Theorie cum praxi“.

Was Leibniz für die moderne Wissenschaft besonders bedeutend macht, ist, dass er als einer der allerersten Denker überhaupt der Frage nach den Geltungsprinzipien von Naturgesetzen in philosophischer Absicht nachging. Es galt ihm, das metaphysische Begründungdilemma empirisch basierter Naturgesetzlichkeit zu überwinden. Der Kepler-Galilei‘sche Verweis auf die augenscheinliche mathematische Exaktheit der Naturgesetze, wie sie nur Gott hätte einrichten können, hatte das Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlicher Skepsis und theologischer Offenbarungsgewissheit zunächst nur beschränkt zur Entfaltung kommen lassen. Doch mit Leibniz (und kurz zuvor René Descartes) vollzog sich die Wende zur modernen wissenschaftlichen Naturbetrachtung zuletzt auch philosophisch.

Leibniz gab auf diese schwierige Frage eine klare Antwort: Gott hat die optimale Welt geschaffen, was seinen Ausdruck in den Naturgesetzen selbst findet. Als er die Welt erschuf, so Leibniz, standen Gott alle möglichen Welten zur Auswahl. Daraus wählte er die beste aus. Wir erkennen an dieser Stelle, dass das Leibniz‘sche Gottesbild eher deistisch als theistisch ausfällt. Mit dem der christlichen Offenbarungsreligion hatte es nicht mehr viel zu tun. Erscheint uns dieser Gedanke Leibniz‘ reichlich spekulativ, so lässt sich eine überraschende Entsprechung dafür in der modernen theoretischen Physik finden. Wir stossen hier auf ein Prinzip, welches den Gesetzen der Natur vorschreiben, dass bestimmte physikalische Größen optimale Werte annehmen. Es handelt sich um sogenannte „Extremalprinzipien“ (ein aus der Schulphysik bekanntes Beispiel ist der Weg des Lichtes beim Übergang von einem Medium in ein anderem, z.B. von Luft in Wasser). Für Leibniz sind diese nichts anderes als eine Konsequenz aus der optimalen Verfasstheit der Welt. Daher müssen in der besten aller möglichen Welten Extremalprinzipien gelten müssen, und dass solche Prinzipien in der wirklichen Welt gelten, zeigt umgekehrt, dass diese Welt die beste aller Welten ist. Ein tragendes Prinzip der Leibniz’schen Argumentation ist dabei das „Prinzip vom zureichenden Grund“. In Kürze besagt es: Nichts geschieht ohne Grund. Dieses Prinzip sollte sich auch auf die Naturgesetze anwenden lassen und zuletzt deren Form und Wesen begründen, also erklären, warum sie genauso sind, wie sie sind.

Sein tiefer Glaube an Vernunft Logik und Mathematik ging so weit, dass Leibniz davon überzeugt war, dass sich neben der Welt auch Gott ausrechnen lassen sollte. Bei allem Spott, dem sich Leibniz in Anbetracht der offensichtlichen Unvollkommenheit der Welt und allen Leids darin bereits von seinen Zeitgenossen ausgesetzt sah, im Aufklärungsjahrhundert besonders prominent hervorgebracht von Seiten Voltaires in dessen Roman Candide, sollten wir wissen: Leibniz hatte dabei nicht vorrangig die heutige Welt im Sinn, wenn er von er besten aller Welten sprach, sondern eine mögliche zukünftige. Die Welt kann nicht deshalb als vollkommen angesehen werden, weil sie es bereits ist, sondern weil sie das Potential dazu hat es zu werden. Seine Philosophie wird damit zu einem Aufruf zur Weltverbesserung, der auch heute noch Gültigkeit beanspruchen darf.

Dem heutigen Betrachter der Fragmentierung der Wissenschaft in unzählige Teilgebiete mag das Leibniz’sche Streben nach einer Einheit aller Wissenschaft allzu romantisch vorkommen. Doch aus dieser Sicht heraus entwickelte Leibniz ein wissenschaftliches Werk, das nicht nur das Wissen seiner Zeit abdeckte und erweiterte, sondern bedeutende Anstösse zu zukünftigen Entwicklungen legen sollte. Am bekanntesten ist sein Beitrag zur modernen Mathematik, wo er die Grundlagen für die Infinitesimalrechnung legte, und das nicht nur in rechentechnischer Hinsicht, sondern auch für zahlreiche formale Aspekte. Dies unterschied ihn von seinem Konkurrenten Isaac Newton, der die Infinitesimalrechnung parallel, doch mittels anderer Verfahren und Beschreibungsformen entwickelte (was zum wohl bekanntesten Urheberstreit in der Geschichte der Mathematik führte). Mit der Einführung des dualen Zahlensystems ist Leibniz aber auch der Ahnherr moderner Computeralgorithmen. Und auch als Erfinder machte er sich ein Namen: Er entwickelte Verbesserungen von Türschlösser, schuf Pläne für ein Unterseeboot und erfand ein Gerät zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit. Seine wohl bedeutendste Erfindung aber war eine Staffelwalze für eine mechanische Rechenmaschine, mit der er einen frühsten Vorläufer heutiger Computer schuf.

Erst das tiefere Studium seines umfangreichen Werkes (was erst im 20. Jahrhundert geschah) offenbart, welche Bedeutung Leibniz Gedanken bis heute für die Wissenschaften haben. So entwickelte er (gegen Newton) eine Konzeption, in der Raum und Zeit ausschließlich relationale Ordnungsbeziehungen in der materiellen Welt darstellen, also nicht absolut und vor aller Materie gegeben sind. Mit anderen Worten: Raum und Zeit sollen durch Beziehungsgefüge bestimmt sein, durch Relationen und Eigenschaften materieller Dinge, wie beispielsweise kausale Verknüpfungen, und nicht umgekehrt die kausalen Verknüpfungen durch Raum und Zeit. Dieser Gedanke sollte erst im 20. Jahrhundert in Einsteins Relativitätstheorie seine Vollendung finden. Des Weiteren findet die moderne Neuroforschung in Leibniz’ Werk eine erste Referenz für das sogenannte „Qualia-Problem“, das er in seinem bekannten Mühlengleichnis beschrieb: „Man muß übrigens notwendig zugestehen, daß die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. aus Figuren und Bewegungen, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, die so beschaffen wäre, daß sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert vorstellen, daß man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dies vorausgesetzt, wird man bei der Besichtigung ihres Inneren nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.“ (Monadologie, § 17). Ein drittes Beispiel, welches illustriert, wie weit Leibniz seiner Zeit voraus war, war seine Behandlung unendlich kleiner Zahlen und ihrer Summen (die in den mathematischen Integralbegriff mündete). So sagte Leibniz, dass eine Differenz zwischen zwei Grössen „infinitesimal“ klein ist, wenn sie kleiner gemacht werden kann als jede vorgegebene positive Zahl. Genau das ist der moderne Zugang zum Verständnis des Unendlich-Kleinen, den aber erst im 19. Jahrhundert Augustin-Louis Cauchy entwickeln konnte. Und Leibniz Herleitung des Integrals als Summe unendlich vieler unendlich kleiner Flächen unter einer Funktionskurve, wie wir ihn aus der Oberstufenmathematik kennen, wurde ebenfalls erst im 19. Jahrhundert von Bernard Riemann in die Analysis eingeführt. So ist der letzte Universalgelehrte, dessen Geburts- und Todesjahr wir in diesem Jahr begehen, in zahlreicher Hinsicht ein Grossvater aller heutigen Naturwissenschaftler.

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