Ein echter „Game Changer“ – Supraleitung bei Raumtemperatur

In den letzten x Jahren hat sich unsere Welt dramatischer als in jeder anderen, vergleichbar langen Periode der Menschheitsgeschichte gewandelt. Wohl jede Zahl grösser als 25 liesse sich für den Platzhalter „x“ einsetzen, um diese Aussage wahr sein zu lassen. Und wir können schnell benennen, was dafür verantwortlich ist: die Naturwissenschaften und die aus ihr entsprungenen Technologien. Sie sind es, die unsere heutige Welt und unser Leben in immer stärkerem Ausmass beeinflussen und formen. So verlangen heutige Maturaprüfungen in naturwissenschaftlichen Fächern oft bereits weit mehr als das, was noch vor 50 Jahren den Kenntnisstand der führenden Wissenschaftler des entsprechenden Gebiets darstellte. Diese fortlaufende Beschleunigung in unserem Wissenserwerb über die Welt wiederum wird zukünftige Technologien hervorbringen, die uns heute noch unvorstellbar erscheinen (welcher Mensch im frühen 20. Jahrhundert hätte sich auch nur im Entferntesten die Welt von heute vorstellen können?). In Anbetracht dieser Entwicklungen wird es in den nächsten Jahrzehnten mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder Moment geben, in dem sich die Spielregeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens grundsätzlich verändern. Das prominenteste Beispiel der letzten Jahre ist sicher das Internet. Aber Transistoreffekt, Laser, GPS oder Anti-Baby-Pille wären hier sicher ebenso zu nennen Wir wollen daher in diesem Zusammenhang von „Game Changern“ sprechen.

Einer der wohl bedeutendsten zukünftigen technologischen „Game Changer“ ergäbe sich aus der Möglichkeit, elektrischen Strom bei Zimmertemperatur widerstandsfrei leiten zu können. In der Festkörperphysik liesse sich dies als das Äquivalent des Heiligen Grals ansehen. Gleich auf zahlreichen industriellen Gebieten würde die so genannte „Supraleitung“ in der Alltagswelt Türen für ganz neue technologische Anwendungen öffnen, so im Bereich Energietransport und –umwandlung (supraleitende Stromkabel und Generatoren), bei der Erzeugung sehr starker und homogener Magnetfelder (in Kernspintomographen, Teilchenbeschleunigern und Kernfusionsreaktoren, oder zuletzt in der Verkehrstechnik), in der Messtechnik (beispielsweise für die Bestimmung von Hirn- und Herzmagnetfeldern in der Medizin, in der zerstörungsfreien Materialprüfung oder für die geomagnetischen Prospektion), und nicht zuletzt für die Steigerung der Effizienz in elektronischen Schaltungen (wo beispielsweise durch Austausch einzelner Flussquanten zwischen supraleitenden Schleifen sehr geringe Verlustleistungen und Taktfrequenzen von über 100 GHz erreicht werden könnten).

Zahlreiche technologische Anwendungen der Supraleitung existieren bereits heute. So wurde vor zehn Jahren der erste Generator mit Hochtemperatur-Supraleitung in Deutschland erfolgreich in Betrieb gesetzt. Und 2014 wurde das mit 1km Länge weltweit längste (mit flüssigem Stickstoff gekühlte) Supraleiterkabel erstmals testweise für den Betrieb einer städtischen Stromversorgung verwendet. Zuletzt arbeiten Wissenschaftler innerhalb des EU-Projekts „Suprapower“ zurzeit an einem direkt angetriebenen, supraleitenden Generator für eine Offshore-Windkraftanlage mit zehn Megawatt Leistung.

Eins steht einer breiten Anwendung der Supraleitung allerding noch im Wege: Für alle bekannten Materialen ist die so genannte „Sprungtemperatur“, d.h. die Temperatur, mit der ein bestimmter Stoff supraleitend wird, noch zu niedrig. So müssen heutige Supraleiter für jegliche technologische Anwendung auf wenigstens minus 180 Grad Celsius heruntergekühlt werden (noch tiefer im Fall konventioneller metallischer Supraleiter), was ihre Alltagstauglichkeit stark beschränkt. Deshalb lässt eine aktuelle Meldung aus der Materialforschung aufhorchen: Ein Forschungsteam des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie gab im Fachblatt „Nature“ bekannt, dass es ihnen gelungen war, Supraleitung bei bereits minus 70 Grad Celsius zu erreichen, womit sie den bisherigen Rekord von minus 135 Grad aus dem Jahr 1993 klar überboten. Besondern interessant an ihrer Entdeckung ist, dass es sich bei dem untersuchten Material (Schwefelwasserstoff) um ein Beispiel konventioneller (metallischer) Supraleitung handelt. Lange Zeit schienen immer höhere Sprungtemperaturen nur mit keramischen Materialien wie Kupferoxiden möglich. Der Schwefelwasserstoff H2S) hingegen entspricht den frühesten konventionellen Supraleitern.

Die beiden Supraleitertypen, die konventionellen metallischen Supraleiter und die neuen keramischen, so genannten „Hochtemperatursupraleiter“ („HTS“) unterscheiden sich fundamental darin, wie sie die widerstandslose Stromleitung erreichen. Damit Strom ohne Widerstand fliessen kann, müssen je zwei Elektronen ein so genanntes „Cooper-Paar“ bilden, d.h. sich derart verkoppeln, dass sie als ein einzelnes Teilchen erscheinen. Diese gekoppelten Teilchen haben dann einen ganzzahligen Spin und können daher bei entsprechend niedrigen Temperaturen einen kollektiven Quantenzustand herausbilden, ein so genanntes „Bose-Einstein-Kondensat“, was ihnen den widerstandslosen Fluss durch den Leiter ermöglicht. (einzelne Elektronen tragen einen halb-zahligen Spin und gehorchen damit dem Pauli’schen Ausschlussprinzip, was kollektive Quantenzustände ausschliesst). Supraleitung ist also ein makroskopischer Quanteneffekt. Diese Paarbildung geschieht in konventionellen Supraleitern durch Schwingungen der positiven Ionen des Kristallgitters, den so genannten ‚Phononen‘. Bei den HTS dagegen reicht die Phononen-Elektronen-Wechselwirkung als Erklärung nicht aus. Die Physiker gehen stattdessen davon aus, dass magnetische Korrelationen zwischen den Elektronen die Paarung vorantreiben. Allerdings verfügen sie bis heute, also 30 Jahre nach ihrer (zufälligen) Entdeckung, noch immer nicht über ein allgemein akzeptiertes Erklärungsmodell für HTS. Somit ist unklar, wie weit man mit HTS bei der Sprungtemperatur gehen kann, wohingegen die Sprungtemperatur bei konventionellen Supraleitern nur von den Phononen und ihren Wechselwirkungen mit den Elektronen abhängt, wofür es kein theoretisches Limit gibt, und somit theoretisch auch keine obere Grenze für die Sprungtemperatur. Genau das heizt die Hoffnung auf einen Supraleiter bei Raumtemperatur an.

Das nun gefundene Material wird in technologischen Anwendungen allerdings kaum seinen Platz finden. Abgesehen davon, dass es nach faulen Eiern riecht, wird der enorme Druck von 150 Gigapascal benötigt, um die Supraleitung aufrecht zu erhalten. Dennoch könnte diese Entdeckung den Weg zu neuen potenziellen Supraleitern ebnen, die auch ohne Hochdruck funktionieren, so die Hoffnung der Forscher. Tatsächlich deuten ihre Experimente darauf hin, dass wasserstoffhaltige Moleküle wie H2S allgemein günstige Eigenschaften haben könnten, um bereits bei hohen Temperaturen supraleitend zu werden. Bei den 1985 gefundenen HTS war die erste Entdeckung der Startschuss für eine rasche Abfolge von Stoffen mit immer höheren Sprungtemperaturen. Eine solche Entwicklung basierend auf der neuesten Entdeckung könnte die Sprungtemperatur zukünftiger Stoffe tatsächlich in alltagstaugliche Bereiche hieven. Dies wäre dann der erhoffte technologische „Game Changer“. Es lohnt sich also, in der nächsten Zeit die Entwicklungen innerhalb der Festkörperphysik genau zu verfolgen.

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