Der Berg kreisst und gebärt eine Maus – Erste Ergebnisse des Blue Brain Projects

Nun hat also eines der ambitioniertesten Wissenschaftsprojekte der letzten Jahre sein erstes grösseres Ergebnis hervorgebracht– „endlich“ würde so mancher sagen. Das von seinem Initiator Henry Markram vor einigen Jahren grossspurig und lautstark beworbene „Blue Brain Project“ hat (als wesentlicher Teil des „Human Brain Projects“) erstmals eine Gehirnsimulation veröffentlicht (Henry Markram et al. „Reconstruction and Simulation of Neocortical Microcircuitry“, Cell, Volume 163, Issue 2, p456–492, 8 October 2015). Ursprünglich angetreten mit dem Anspruch, das gesamte menschliche Gehirn mit seinen knapp 100 Milliarden Nervenzellen im Computer zu simulieren, präsentierte die Arbeitsgruppe um Markram nun eine Simulation der Aktivität eines winzigen, ca. einen Drittel Kubikmillimeter grossen Stücks aus dem somatosensorischen Kortex des Rattenhirns, bestehend aus insgesamt 31‘000 Neuronen. Dies entspricht 0.015% der etwa 200 Millionen Neuronen des Nagetiers, was wiederum nur ca. 0.2% der Neuronen-Zahl im anvisierten Menschengehirn darstellt.

Vergleicht man dieses erste Ergebnis mit den ehrgeizigen Ankündigungen des Projektes, die im Rahmen des „Human Brain Projects“ zum Zuspruch von einer Milliarden Euro aus dem heiss umkämpften Topf von EU-Forschungsgeldern führten, so müssen uns diese, um es höflich zu formulieren, als eher dürftig erscheinen. Eine etwas deutlichere Formulierung wäre „Der Berg kreisst und gebärt eine Maus“. Zudem musste Markram zugeben: „Die Rekonstruktion ist ein erster Entwurf, sie ist nicht vollständig und noch keine perfekte digitale Nachbildung des biologischen Gewebes“. Unter anderem fehlen wichtige Aspekte des Gehirns wie Strukturzellen, Blutgefässe oder Anpassungsstrategien.

Nun sind ehrgeizige Projekte, auch wenn sie sich dem Risiko des Scheiterns aussetzen, ein wichtiger Bestandteil der Wissenschaft, wie Markram selber nicht müde wird zu betonen. Ohne den bombastischen Ehrgeiz, eine neue Fundamentaltheorie der bis anhin ohne Einschränkung als gültig erachteten Newton’schen Gravitationstheorie zu entwickeln, wäre es Einstein vor 100 Jahren nicht gelungen, die bis heute wohl bedeutendste Theorie des Universums aufzustellen, seine „allgemeine Relativitätstheorie“. Doch brauchte Einstein dafür nur Bleistift und Papier. Sie kostete die Gesellschaft nur das Salär eines Universitätsprofessor (und Einstein selbst wohl seine Ehe). Kein Vergleich zu einer Milliarde Euro, die Markram für sich veranschlagt. Und wenn die beteiligten Forscher nach wie vor grossspurig behaupten, das publizierte Ergebnis sei ein wesentlicher Schritt hin zu einem vollständig digitalen Modell des menschlichen Gehirns, so sehen es andere Hirnforscher als letztlich zwecklose Fleissarbeit, die keine neuen Erkenntnisse hervorgebracht hat.

Nun kann man nicht sagen, dass die Kritik an diesem Projekt neu ist. Bereits seit seinem Beginn existiert ein heftiger Streit um Markrams Vision. Sich auf ein reines Computermodell zu versteifen, sei ein teurer Irrweg, so die Kritiker. Seit 2005, immerhin nunmehr seit 10 Jahren, habe es beim „Blue Brain Project“ noch kein wirkliches Ergebnis gegeben, und das Projekt laufe Gefahr, ohne brauchbare Resultate zu scheitern. Das Geld solle besser in andere Forschungen an echten Gehirnen investiert werden. Grund dafür sei u.a. der autoritäre und teils gar grössenwahnsinnige Stil Markrams. Vor diesem Hintergrund werfen ihm manche Wissenschaftler vor, die EU mit uneinlösbaren Versprechen geködert zu haben. So hatte er behauptet, das Projekt könnte es ermöglichen, Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer besser zu verstehen und schliesslich sogar zu heilen Die immer lauter werdende Kritik führte letztes Jahr sogar dazu, dass hunderte Forscherinnen und Forscher einen offenen Brief unterzeichneten, in welchem sie Ausrichtung und Struktur des Projekts beanstandeten. Unabhängige Untersuchungen stützten zuletzt diese Anschuldigungen, so dass es zu Projekt-Modifikationen kam. Mit der neusten Publikation sehen sich die Kritiker in ihren generellen Befürchtungen bestätigt.

Bei generellere Betrachtung kommt mit dem Streit um das Human Brain Project aber auch ein bedeutender Wesenszug der modernen Wissenschaft zum Vorschein. Seit der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts befindet diese sich in einem Prozess, der sich am besten mit „Industrialisierung“ bezeichnen lässt. Darin wird Wissenschaft zunehmend in grossen zentralisierten und straff organisierten Institutionen betrieben, was seinen Ausdruck unter anderem im Begriff „Big Science“ findet. Wissenschaftliche Forschung wird immer mehr durch von staatlichen Regierungen oder Grossunternehmen umfangreich finanzierte Mega-Projekte (wie durch NASA oder CERN, im Human Genome Project oder beim Kernfusionsprojekt ITER) vorangetrieben. So ist es nur eine logische Konsequenz, dass Forschungsvorhaben mit immer mehr Marketing Aufwand verbunden sind. Heutige Forscher, die erkennen müssen, dass ihre Karriere immer abhängiger davon ist, wie viele Drittmittel sie einwerben, können ein Lied davon singen. Notgedrungen verbringen sie einen grossen Teil ihrer Zeit damit, Forschungsanträge an Behörden und Geldgeber zu schreiben. So wird der Forschungserfolg eines Wissenschaftlers im Milliarden-Poker um Fördergelder immer abhängiger von seinem Geschick bei der Selbstinszenierung.

Doch ist Henry Markram sicher nicht der erste Wissenschaftler mit einem ausgeprägten oder gar überhöhten Ego und entsprechenden Visionen von den Möglichkeiten seiner Ideen. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Selbsterhöhungen und Egomanie von Seiten ihrer Protagonisten. Der grosse Isaac Newton verbrachte einen grossen Teil seiner intellektuellen Energie damit, hässliche Streitigkeiten und Plagiatskämpfe mit seinen Kollegen zu führen. Und oft waren solche egomanischen Überhöhungen mit wissenschaftliche Visionen verbundenen, die die Grenzen dessen, was man jeweils für möglich hielt, verschieben konnten. Doch hat sich der wissenschaftliche Betrieb durch die oben beschriebenen Entwicklungen unterdessen derart politisiert, dass sich die Effizienz der im Wissenschaftsbetrieb eingesetzten finanziellen wie auch intellektuellen Ressourcen bedroht sieht. Und Wissenschaft ist für unsere Gesellschaft einfach zu wichtig, als dass wir davor unsere Augen verschliessen können. Daher sollten nicht nur die Experten aus der Neuroforschung einen genauen Blick auf die nun vorgelegten Forschungsergebnisse des Blue Brain Projects werfen.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Dr. rer. nat. Andreas Malczan
    Juli 10, 2021 11:06 am

    Hallo Lars,
    unter https://www.gehirntheorie.de findest Du meine Gehirntheorie, die ich dem Human Brain Projekt gewidmet habe. Anstatt Abermilliarden Synapsen zu untersuchen, gehe ich davon aus, dass sich neuronale Erregung im Gehirn etwa so ausbreitet wie Wärme , Schallwellen, elektromagnetische Wellen, Gravitationsfelder usw. Ich unterstelle eine abstandsabhängige Dämpfung der neuronalen Erregung. Da sich die Erregung in der Fläche (in der relativ dünnen Cortexschicht 4) ausbreitet, gehe ich von einer Dämpfung aus, die mit dem Quadrat der Entfernung zunimmt.
    Dadurch entsteht für jedes Inputneuron eine streng konkave Erregungsfunktion. Überlagern sich die Erregungsfunktionen mehrerer Inputneuronen additiv, so entsteht eine Gesamterregungsfunktion, die in einer gewissen Umgebung streng konkav ist, eine negative Hessematrix besitzt und somit dort ein eindeutig bestimmtes globales Maximum hat. Die Lage des Maximums hängt von den beteiligten Inputfeuerraten ab, die von den Rezeptoren geliefert werden. Wenn man deren Feuerraten in Abhängigkeit von den Urgrößen (Gelenkwinkel, …) mathematisch darstellt, kann man über die Berechnung der partiellen Ableitungen die Extremwerte berechnen und deren Umherwandern bei Parameterveränderungen im Voraus berechnen. Dafür benötigt man keine einzige Synapse, nur etwas Differentialrechnung. Meine Erkenntnis: Der Cortex stellt Signale extremwertcodiert dar. Die Neurologen beobachten diese Extremwerte und ihr Umherwandern, sehen jedoch den Zusammenhang zur Differentialrechnung nicht.

    Liebe Grüße
    Andreas

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