Der Bayesianische Geist – Wissenschaft, Spiritualität und die Gestaltung unserer Zukunft

Von dem theoretischen Physiker Richard Feynman stammt die Aussage: „Religion ist eine Kultur des Glaubens, Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifels.“ Dieser Satz birgt eine Menge intellektuellen Sprengstoff. Denn bei eingehenderer Betrachtung beschreibt er ein neues Verhältnis zwischen Wissenschaft, Religion und Spiritualität. In ersterer und letztere erkennen wir generell eine Haltung, den Dingen auf den Grund gehen und es wirklich wissen zu wollen. Dieses Verständnis insbesondere von Spiritualität entfernt uns aus dem Gravitationsfeld traditioneller Religionen, die leider nur allzu oft eher vulgäre Weltanschauungspolitik betreiben als eine ehrliche Betrachtungen dessen, „was wirklich ist“. Vielmehr sollte uns eine spirituelle Haltung von einem starren und dogmatischen religiösen Glauben an etwas Jenseitiges befreien, um in ihr vielmehr eine Art der inneren Haltung, was Erkenntnis angeht, zu erkennen. Wir sehen ihn ihr dann eher einen geistigen (und immanenten) Motivationsrahmen als ein (transzendentes) Glaubensprinzip − oder, wie die Meister der Begrifflichkeit, die Philosophen, sagen würden, sie wird damit zu einer ‚epistemischen Orientierung‘. Kurz und bündig: Es geht um Wissen-Wollen anstelle von Glauben-Wollen. Von dieser Haltung waren alle großen Wissenschaftlicher von Kopernikus über Newton, Darwin bis Einstein und Feynman beseelt, die sich deshalb wohl ohne weiteres als „spirituell Getriebene“ bezeichnen lassen. Die Beziehung von wissenschaftlichem und spirituellem Denken besitzt also viele gemeinsame geschichtliche Bezugsfelder.

Wer das genauer verstehen will, muss sich die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens genauer anschauen (was wir in diesem Blog bereits mehrfach taten): In ihr lässt sich in den letzten 100 Jahre die Entwicklung eines radikalen Wandels im Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften erkennen. Die historischen Anfänge der Naturwissenschaften liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern, den antiken Naturphilosophen vor Sokrates, entstanden die Grundlagen eines Denkens, das nach den letzten Gründen und Zusammenhängen suchte, die hinter den Phänomenen der Natur liegen. Ungeachtet der philosophischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Gedanken eines absoluten und letzten Wissens von der Natur ergaben, hielt sich dieser intellektuelle Antrieb bis in die Neuzeit. Er motivierte Kepler in seiner Planetenlehre, galt Newton als Grundlage für sein mathematisches System der Mechanik und ließ die Physiker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Einheit der Naturwissenschaften träumen. Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – die ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur im Transzendenten jenseits des sinnlich Erfahrbaren finden kann. Erst mit der Entstehung der modernen Physik beschleunigte sich ein Prozess, in dem in den Naturwissenschaften die Idee des Absoluten systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung zurückgedrängt wird.

Die Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie die Quantenphysik betrieb, lässt sich ohne weiteres als eine der größten philosophischen Einsichten des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Wir erkennen, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums vom universell Wahren und Absoluten gewinnt. In knapper Formulierung: Der wissenschaftliche Methodenrahmen ist heute zutiefst ‚Bayesianisch‘ geprägt.

Diese Bezeichnung findet ihren Ursprung in einer mathematischen Beschreibung von Wahrscheinlichkeiten im Umfeld unvollständiger Informationen, dem so genannten „Bayes’schen Theorem (benannt nach dem britischen Mathematiker und Priester Thomas Bayes, der es – in einer bestimmten Form – zum ersten Mal formulierte). Das Interessante an der Bayes‘schen Methode ist, dass sie für Aussagen bestimmte Daten oder Erfahrungen betreffend bereits a priori von bestimmten Annahmen ausgeht (dies brachte ihr immer wieder die Kritik ein, „subjektivistisch“ zu sein). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Prioren“ oder auch „A-priori-Verteilungen“. A-priori-Wahrscheinlichkeiten entsprechen dem „Grad vernünftiger Erwartungen (degree of reasonable expectations)“ für das Zutreffen bestimmter Aussagen. Sie werden dann mit Daten bzw. Beobachtungen kombiniert (gemäss der Bayes’schen Formel) und somit entsprechend angepasst. Das Ergebnis sind neue, verbesserte Aussagen (genauer: verbesserte Schätzungen ihrer Wahrscheinlichkeiten). Diese können dann als neue Prioren für Schätzungen mit weiteren Daten eingesetzt werden. Dieses Verfahren lässt sich iterativ fortsetzen, womit immer bessere Aussagen bzw. immer genauere Schätzungen ihrer Wahrscheinlichkeiten gewonnen werden.

Im Kontext wissenschaftlicher Forschung sagt uns das Bayes‘sche Theorem: Aussagen über die Natur werden in Form von Theorien ausgedrückt, die nur mit einem gewissen (meist sehr hohen) Grad an Überzeugung – aber eben niemals absolut – wahr sind. Jeder Theorie kann somit nur eine (Bayes’sche) Wahrscheinlichkeit zugeordnet, dass sie zutreffend ist, und die ihren „Grad an vernünftiger Erwartung“ angibt. In diesem Sinne „glauben“ wir an ihre jeweilige Gültigkeit. Das Ziel ist es nun, diejenige Theorie zu suchen, die am besten geeignet ist, gegebene Beobachtungen und Erfahrungen zu erklären und die auch mit neuen Messungen und Erfahrungen ihren „Grad vernünftiger Erwartung“ nicht zu schnell wieder verliert.

Einer der Schlüsselfaktoren der Bayes’schen Methode ist, wie neue Daten bzw. Erfahrungen in den „Grad vernünftiger Erwartung“ hineinspielen. Sie stellen nämlich nichts anderes dar als Möglichkeiten einer Modifikation der jeweiligen Theorie (Meinung). Mit ihr werden die Wahrscheinlichkeiten ihres Zutreffens angepasst. Mit anderen Worten: Erkenntnisse und Wissen lassen sich erst aus der permanenten Neu-Auswertung von Erfahrung, Messungen und Experimenten gewinnen. Theorien werden immer wieder neu evaluiert und ‚updatet‘. Sie sind niemals absolut gültig (d.h. ihre Bayes’schen Wahrscheinlichkeiten erreichen niemals 100%). Wir wollen diese methodischen und epistemischen Rahmen der Wissenschaften deshalb den „Bayesianischen Geist“ nennen.

Die Bayes’sche Methode ist mit einem alten methodischen Prinzip der Wissenschaft verwandt: dem „Ockham’schen Rasiermesser“. Gemäss diesem sollte man, liegen zwei Thesen vor, welche eine gegebene Beobachtung gleich gut erklären, zunächst diejenige wählen, die einfacher und plausibler ist, und nicht diejenige, die komplizierter, uns aber aus welchen Gründen auch immer als angenehmer erscheint. In solchen Situationen ist mit höherer Wahrscheinlichkeit erstere die zutreffendere.

Im Bayesianischen Geist und dem Prinzips des Ockham’schen Rasiermessers treffen sich Wissenschaft und Spiritualität, und zwar in der immer wieder neu ausgerichteten Reflexivität dessen, was wir meinen zu wissen und glauben dürfen, mittels der klaren Akzeptanz für „neue Daten“ und der Verpflichtung zu unbedingter Bereitschaft, neue Informationen rational und ehrlich zu verarbeiten. Und diese Verpflichtung stellt auch die deutlichste Abgrenzung zur Religion dar, die sich dieser Reflexivität nicht aussetzen will.

Der Bayesianische Geistes umfasst aber auch eine normativ-ethische Dimension: Diese liegt darin, dass wir jederzeit vorbehaltslos zu erfassen versuchen, was die erwartenden Folgen eines bestimmten Glaubens oder Handelns sind, im steten Wissen, dass wir absolutes Wissen niemals endgültig erlagen können. Wir erkennen in dieser Haltung wieder die spirituelle Motivation zur Erkenntnisgewinnung, bei der es auf der Suche nach Wahrheit um das Vermeiden von „faulen Kompromissen“ geht. Zuletzt geht es demnach auch um eine konkrete Lebenspraxis und Lebensgestaltung. Mit einem solchen praktischen Bezug von Spiritualität kommen also automatisch sowohl Sinn- als auch Wertfragen ins Spiel. Denn der Weg von intellektueller Unaufrichtigkeit, d.h. wider besseres Wissen etwas zu denken (oder zu glauben), zu ethischer Korrumpierbarkeit, d.h. wider besseres Wissen zu handeln, ist selten weit.

Mit diesem Bekenntnis zum Bayesianischen Geist in Wissenschaft und Spiritualität fordern wir also zweierlei: intellektuelle Integrität, die darin besteht, sich die permanente Möglichkeit des Irrtums und der Selbsttäuschung einzugestehen, und ethische Integrität, welche in der Loslösung von Selbst-Interessen liegt. Beide, intellektuelle und ethische Integrität, führen zu- und ineinander. Es ist dies der wohl bedeutendste Punkt, in welchem sich Wissenschaft und Spiritualität treffen.

Und mehr denn je benötigen wir heute den Bayesianischen Geist und wissenschaftliche Offenheit, wenn es darum geht, mit den technologischen Entwicklungen aus der wissenschaftlichen Forschung umzugehen. Denn auf der einen Seite High Tech zu entwickeln und einzusetzen, andererseits aber das wissenschaftliche Denken abzulehnen, entspricht doch eher einem Kind, dass die Hänge vor seine Augen schlägt und dabei behauptet nicht gesehen zu werden, da es ja selber nichts sieht.

Doch leider ist dieser Geist für Nicht-Wissenschaftler nur schwer zu verstehen. Was für Wissenschaftler Normalität ist, nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis von Wissenschaftlern selber immer auch zugleich angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, bedeutet für den Normalbürger Verunsicherung und führt nicht selten zu Resignation und einer geistigen Abkehr von der Wissenschaft. Für ihn wirkt der dialektische und oft über Irrtümer stattfindende Prozess der Entstehung von wissenschaftlicher Erkenntnis nur allzu wenig glaubwürdig.

Daher haben Populisten und Wissenschaftsgegner leichtes Spiel, unliebsame wissenschaftliche Einsichten zu leugnen und abzulehnen, Wissenschaftler zu diskreditieren und zu diffamieren, zum alleinigen Zweck, ihren eigenen Glauben zu predigen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und ihr eigenes weltanschauliches Süppchen zu kochen. So ist es Mode geworden, Kritik an der Wissenschaft mit unbegründeten Unterstellungen, Diffamierungen und Verleumdungen zu würzen, und dies umso mehr je weniger haltbar die Kritik ist und je geringer es um die Kompetenz des Kritikers bestellt ist. Und für jede Meinung und jedes Vorurteil lässt sich in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ein passender „Wissenschaftler“ finden und zitieren, der Kompetenz und Glaubwürdigkeit in den entsprechenden Wissensfeldern vorgibt.

Die Wissenschaft selber kann mit solchen Gebaren gut umgehen, verfügt sie doch mit dem Bayesianischen Geist über eine sehr mächtige Methode, Unsinn auszusortieren. Das Problem entsteht dort, wo sie politischen, sozialen oder ökonomischen Entscheidungsprozessen begegnet, welche wiederum stark ideologisch oder von ausgeprägten partikulären Interessen getrieben sind. Die Konsequenz daraus ist nur allzu oft Verunsicherung der Menschen, Zweifel an der Integrität des wissenschaftlichen Arbeitens und schließlich realitätsfernes Denken und Handeln. Ein Umfeld, in dem Wissenschaft nicht nur ignoriert, sondern sogar offen diskreditiert wird, ist kaum geeignet, um die komplexen Probleme unserer Zeit anzugehen.

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