Das Dilemma der modernen Wissenschaften – Viel weltliche Macht, wenig spiritueller Sinn

In den Augen vieler Menschen waren die Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine wahre Erkenntnis- und Identitätskrise geraten. Hatten Konzepte wie Felder und Wellen, unsichtbaren Kräfte (Gravitation) und Bewegung, Wärme und Entropie für Nicht-Physiker des 19. Jahrhunderts bereits den Charakter des Bizarren und Unbegreiflichen, so waren diese Konzepte noch sehr anschaulich im Vergleich zu denen, die Physiker im 20 Jahrhundert entwickeln mussten, um die Natur der Atome einerseits und die Weiten des Universums andererseits zu beschreiben. Die Konzepte der Quanten- und Relativitätstheorie von Raum, Zeit und Materie wiedersprachen endgültig unseren Alltagvorstellungen. Und auch die zentrale Rolle des Zufalls in der Erblehre passte so gar nicht in das Glaubenssystem der Menschen. Zugleich hatten die Einsichten der Physiker (und später die der Biologen) Machtinstrumente geschaffen, die die Menschheit existentiellen Gefahren aussetzten. Womit sich die Wissenschaftler mit einer gesellschaftlichen Kritik konfrontiert sahen, in der sich spätestens mit den Atompilzen über Hiroshima und Nagasaki die Umrisse einer enormen globalgesellschaftlichen Verantwortung abzeichneten. Zu diesen ethischen Dilemmata gesellten sich handfeste Interessenskonflikte. Und schliesslich führten wissenschaftliche Grossprojekte wie das ‚Manhattan Projekt‘, das Mondprogramm der NASA, das LHC am CERN oder der Kernfusionsreaktor ITER mit ihren zunehmend komplexeren Problemen (Stichwort ‚Big Science‘) zu einer Zersplitterung und immer grösseren Unübersichtlichkeit der wissenschaftlichen Landschaft, die nicht zuletzt bei den Forschern selbst methodologische Zweifel hervorriefen.

Man könnte bei all dem von Wachstumsschmerzen sprechen. Innerhalb nur weniger Jahre hatten sich die Wissenschaftler von tiefen Gewissheiten verabschieden müssen. Sie hatten ganze Denkgebäude einstürzen sehen (und das in einer Zeit grosser weltpolitischen Unruhen), und dann plötzlichen einer Menge an neuem Wissen gegenüber gestanden und dabei nichtsdestotrotz erkennen müssen, wie wenig sie im Grunde über zentrale Aspekte der Natur und den Menschen wussten.

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts scheint diese Krise überwunden. Die grosse Verwirrung um die Deutung der Quantenphysik und Vererbungslehre ist vorbei. An die Gefahren der Atomkraft und genetischer Manipulation haben wir uns gewöhnt. Man könnte gar meinen, die Naturwissenschaften seien so gesund und munter wie nie zuvor. So feierten sie in den letzten 25 Jahren ungeahnte Erfolge: neue Ufer in der Kosmologie, atemberaubende Entdeckungen auf dem Gebiet der Genetik, Durchbrüche in der Neuroforschung, technologische Umwälzungen in der Nanophysik, neue aufregende Möglichkeiten in den Informationswissenschaften, neuartige Quantentechnologien und einiges mehr. Und hatte nicht auch das World Wide Web seinen Ursprung bei den Teilchenphysikern am CERN? In Riesenschritten geht es vorwärts. Es existiert eine unbändige Wissbegier, und technologische Revolutionen schaffen noch nie da gewesene wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten. Auch wenn bei all dem die Öffentlichkeit kaum mehr mitkommt.

Mag eine solche Feststellung auch ein wenig abgegriffen klingen, so zwingt uns die Betrachtung der Entwicklung der heutigen Naturwissenschaften und ihren Technologien zu der Einsicht, dass wir uns an der epochalen Schwelle einer neuen Zeit befinden, einer Zeit von möglicherweise weiteren dramatischen wissenschaftlichen Neuentdeckungen, mit denen sich unsere Vorstellungen von unserer Welt und dem Universum, von Raum und Zeit, von Materie und Substanz, von Mensch und Natur noch einmal dramatisch verändern könnten. Zugleich werden wir Technologien erleben, mit denen, so behauptet beispielsweise der Physiker Michio Kaku, Menschen Objekte nur mit der Kraft unserer Gedanken bewegen und manipulieren. Neue Bio- und Neurotechnologien werden unsere Körper perfektionieren, die Fähigkeiten unseres Geistes potenzieren und unsere Lebensspanne bedeutend verlängern – letztere vielleicht sogar auf unbegrenzte Dauer. Mit Hilfe neuer Nanotechnologien werden wir Gegenstände ineinander umwandeln oder sie wie aus dem Nichts entstehen lassen können. Quantencomputer werden Komplexitäten beherrschen, die uns heute aufgrund ihrer Unvorhersagbarkeit und Unkontrollierbarkeit noch ehrfürchtig erschaudern lassen. Der Bestseller-Autor Yuval Noah Harari („Eine kurze Geschichte der Menschheit“, 2014) spricht in Anbetracht dieser Möglichkeiten in seinem neuesten Buch bereits vom „Homo Deus“, dem Menschen, der mit Hilfe von Gen, Neuro- und Informationstechnologien schon bald über allmächtig anmutende (gottähnliche) Qualitäten verfügen wird.

Auch wer (wie der Autor dieser Zeilen) den Szenarien Kakus und Hararis mitsamt einiger dahinter liegenden Annahmen (z.B. eines schon bald wissenschaftlich geklärten Verhältnisses zwischen Geist und Materie) mit Skepsis begegnet, wird kaum darum herumkommen zu erkennen, dass die Naturwissenschaften bereits einiges in die Richtung einer Verwirklichung dieser Szenarien geleistet haben. „Gottgegebene“ Plagen wie Hunger, Seuchen und Krieg gehören (zumindest im westlichen Kulturkreis) einer fern gefühlten Vergangenheit an, wie Harari auf vielen Selten seines neuen Buches wortreich darlegt (was natürlich nicht heissen soll, dass es sie in der Welt nicht mehr gibt, sie sind nur schlicht nicht mehr Teil unseres erlebten Alltages, wir kennen sie höchstens aus dem Fernsehen aus fernen Welten oder Zeiten). „Was kommt als nächstes?“, fragen wir uns. Die Überwindung des Todes? Diese Möglichkeit wird unterdessen ernsthaft in Betracht gezogen (es ist dies ein grosses Thema im technologie-verrückten Silicon Valley). Ewiges Glück durch Manipulation unsere Hirnchemie oder –physiologie? Nichts Neues, wie man meinen sollte. Was mit den Hippies und LSD in den 60er Jahren begann, haben wir heute bereits ein ganze Stück weitergeführt, oder?

Tatsächlich hat die Wissenschaft menschliches Leiden bis heute stärker vermindert und unsere Lebensqualität wirksamer erhöht als jede andere Geistestradition. Und dies nicht nur mit den Methoden der modernen Medizin, sondern auch mit Physik, Chemie und Biologie. Ein Zeitreisender aus dem Jahr 1917 sähe die Welt des Jahres 2017 voller Wohlstand und Reichtum, aber auch voller Wunder und gar Zauberei. Doch riskiert, wer diese Feststellung macht und dazu vielleicht in den Naturwissenschaften tiefere Erkenntnisse über sich selbst und die Welt sucht, schnell als „schnöder Materialist“ bezeichnet zu werden. Oder er sieht sich gar dem Vorwurf ausgesetzt, die Sphäre höchster geistiger Erkenntnisse der „Kälte“ wissenschaftlicher Rationalität auszusetzen.

Ein solcher Vorwurf muss an seinen Adressaten nagen, insbesondere deshalb, weil mit dem zukünftigen wissenschaftlichen Fortschritt und neuen Technologien ein noch grösseres Mass an Verantwortung auf Wissenschaftler zukommen wird, welche diese alleine zu tragen wohl kaum in der Lage sind – und dies schon deshalb, weil wissenschaftliche Aussagen und Erkenntnisse etwas unberücksichtigt lassen, was enorme Bedeutung für das menschliche Leben besitzt: Werte.

Und wer glaubt, dass uns allein die Kombination wissenschaftlicher und ökonomischer Rationalität, d.h. die Kombination aus technologischer Innovationskraft und Kapitalismus, in neue Paradiese führen wird, muss wohl noch lange auf das Nirwana warten. Denn bei aller Stärke wettbewerblicher Kreativität und der damit verbundenen Vielfalt neuer Ideen in einer freien Marktwirtschaft gibt es in der realen Welt keine „unsichtbare Hand“, die schon alles gut werden lässt und uns zu optimalen Lösungen führt, die aus dem Blickwinkel der gesamten Menschheit wünschenswert sind. Eher ist diese Hand blind, blind gegenüber fundamentalen menschlichen Werten.

Wir brauchen mehr als nur Wissenschaftler und Ökonomen, mehr als Technologie-Unternehmer, Venture-Capital Investoren und Investmentbanker, um die technologische Zukunft zu gestalten (auch wenn diese Kombination uns zu einem bedeutenden Teil dahin gebracht haben, wo wir heute stehen, einer – westliche – Welt im Wohlstand, Gesundheit und Frieden; Theologen und Philosophen waren an dieser Entwicklung weit weniger beteiligt). Den Lesern meiner Essays und Bücher sollte die These bekannt sein, dass ein wesentlicher Schritt dahin, den Herausforderungen zukünftiger technologischer Möglichkeiten gerecht zu werden, in einer Haltung liegt, ehrlich zu erfassen, „was ist“, und sodann darin, eine kompromisslose reflexive Einstellung zu entwickeln zu dem, was man denkt und glaubt, und schliesslich sich einem vorbehaltslosen intellektuellen Erkennen der zu erwartenden Folgen unseres Denkens und Glaubens zu verschreiben, ohne in Selbsttäuschung zu verfallen, dass „das alles schon okay ist und gut ausgehen wird“. Eine solche sowohl spirituelle als auch wissenschaftliche Haltung sollte beim Denken wie auch beim Handeln mit einer bedingungslosen Unbestechlichkeit zu Werke gehen, die von Selbst-Interessen frei ist. Es geht also, um es knapp zu formulieren, um einen bewussten, ehrlichen und achtsamen Umgang mit unserer Umwelt und sich selbst.

Dieses Prinzip könnte eine ethische Leitplanke darstellen, und zwar nicht nur bei der Behandlung der Frage nach einer geeigneten Ressourcenverwendung im Angesicht drohender klimatischer Veränderungen, sondern viel allgemeiner bei der generellen Gestaltung der technologischen Herausforderungen der Zukunft. Und dies in einem unterdessen allgegenwärtigen Spannungsfeld von zivilisationskritischer Untergangsrhetorik und technologischer Allmachtphantasien.

Dazu gehört, wenn auf einem bestimmten Gebiet unter Experten kein Konsens herrscht, eine Haltung epistemischer Bescheidenheit, d.h. man sollte kein allzu grosses Vertrauen in die Zuverlässigkeit der eigenen Meinung haben. Man könnte den Erfolg der wissenschaftlichen Methode in den letzten 400 Jahre in maximaler Kürze auch wie folgt beschreiben: Ihre wesentlichste Einsicht war die Entdeckung unserer Ignoranz. Es gibt schlicht keine gottgegebene und absolute Wahrheit, nach der wir uns richten können. Wir Menschen haben es selber in der Hand, die „Dinge“ zu richten, oder auch …. die Welt zu vernichten. Doch ist es nicht geradezu ironisch, dass uns erst diese Einsicht zu universellen Menschenrechten, der bedingungslosen Wertschätzung von Leben und Würde eines jeden Menschen Person und der Gleichberechtigung von Mann und Frau geführt haben (und dort, wo Gott noch für die Gesetze zuständig, diese aufs Gröbste verletzt werden)?

Die neue Macht, die uns die moderne Wissenschaft verliehen hat, kommt allerdings zu einem Preis: der Verlust von Sinn. Die moderne, wissenschaftlich erfasste und technologische gesteuerte Welt besitzt keinen tieferen Sinn oder höheren Zweck. Sie ist nur einfach da. Das Motto der Moderne könnte – in den Worten Yuval Noah Hararis (in seinem neuen Buch „Homo Deus“) – lauten: „Shit just happens“. Wenn aber „shit“ einfach nur passiert, so können wir auch „shit happen“ lassen. Wir sind damit einerseits einer enormen Verlockung ausgesetzt – wir können zu den Herrschern des Universums (und zugleich über unsere eigene Sterblichkeit und Glückseligkeit) werden, andererseits sehen wir grossen Gefahren ins Auge, da wir die Welt und uns selbst auch unwiederbringlich zerstören können.

In diesem modernen Antagonismus aus Macht und Sinn manifestiert sich das eigentliche Dilemma unserer wissenschaftlich erfassten und technologisch manipulierten Welt. Die Menschheit ist mächtiger als je zuvor, und mit jeder technologischen Innovation, mit jedem unternehmerischen Erfolg nimmt ihre Macht weiter zu. Doch zugleich leben wir mit einer existentiellen Angst wie kaum eine Generation zuvor. Es ist schon verrückt: Nie in der Geschichte zuvor war unsere Gesellschaft so individualistisch, und noch nie gab es so viele Freiheiten für den Einzelnen. Auf der anderen Seite erkennen wir in uns eine tiefe Sehnsucht nach einem höheren gemeinschaftlichen Sinn. Die heutige globale Gesellschaft hat die Aufgabe, einen Spagat zwischen zwei sehr konträren Ausprägungen zu schaffen: Sie predigt den Individualismus, muss aber gleichzeitig dafür sorgen, dass wir den sozialen Zusammenhalt nicht verlieren.

Was heisst das für die Frage nach der Gestaltung unserer technologische Zukunft? Nun, ein wichtiger Teil einer Antwort ist, dass wir dafür nicht nur die Wissenschaft und Technogien selbst nachvollziehen, verstehen und beurteilen müssen, sondern auch die Fiktionen und Geschichten, die unserer Welt einen Sinn zu geben versprechen – und die damit für den gesellschaftlich notwendigen Zusammenhalt sorgen. Und dazu gehören eben auch religiöse Traditionen und spirituellen Erfahrungen. So muss die Frage offen bleiben, ob die Wissenschaft wirklich aus der eingangs beschriebenen Krise ausgetreten ist.

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