„Creatio ex Nihilo“ – ein modern-kosmologischer Blick auf ein Jahrtausende altes philosophisches Problem

„Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort. Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“ So lässt Goethe seinen Faust sprechen, der bei der Übersetzung des biblischen Textes voller Verzweiflung nach dem Anfang allen Seins fragt. Nach einigen verzweifelten Versuchen, den Text zu verstehen, gelangt der mittelalterliche Gelehrte, wie er glaubt, endlich an sein Ziel: „Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ Natürlich handelt es sich hier nur auf den ersten Blick um den Versuch einer Übersetzung des ersten Kapitels des Johannes-Evangeliums. Goethe lässt seinen Protagonisten nicht nur einfach Bibelkunde betreiben, sondern führt ihn zu einer jahrtausendealten Ur-Frage der Menschheit: der Frage nach den Anfangsgründen der Welt. Ihre naturwissenschaftliche Behandlung ist dagegen vergleichsweise jung, auch wenn sie unterdessen unsere moderne Auffassung von der Welt und ihrem Anfang prägt.

Bereits zu den Anfangszeiten des (westlichen) philosophischen Denkens, im Denken der Vorsokratiker, erkannten die Menschen, dass sie bei der Erklärung des Weltanfangs entweder mit etwas ansetzen müssen, was nicht von dieser Welt ist, oder dass sie dazu gezwungen sind, sich mit dem Gegenpol des Seins, dem „Nichts“, auseinanderzusetzen. Es scheint nur diese zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder ist am Anfang das erste „Etwas“ aus „etwas anderem“ (und ggfs. durch „jemandem anderen“) ausserhalb unserer Welt entstanden, oder es entstammt dem „Nichts“ („Creation ex nihilo“, wie es in philosophischen Fachtermini heisst). Beide Denkansätze hat das westliche philosophische Denken in jeweils zahlreichen Variationen hervorgebracht.

Die geläufigste Antwort auf die Frage nach dem Anfang der Welt folgte lange dem ersten der oben erwähnten Wege, welcher zumeist in der einen oder anderen Form auf einen göttlichen Schöpfungsakt hinausläuft. Wie dies ja bei Goethe auch passiert: „Im Anfang war die Tat“, schlussfolgert sein Protagonist (und mit ihm wohl der Autor selbst). Und hier ist natürlich die Tat Gottes gemeint, der als „erste Ursache“ (oder „erster unbewegter Bewegender“ (dem „primum movens“), wie es bei Aristoteles heisst) die Welt entsteht ließ. Dabei müssen wir allerdings erkennen, dass auch der Rückgriff auf etwas Jenseitiges nicht ganz ohne Bezug auf das „Nichts“ auskommt. Denn wir müssen uns fragen: Woraus genau schuf Gott die Welt? Spätestens hier sehen sich auch die allermeisten Schöpfungsmythen gezwungen, von einem präexistenten Nichts auszugehen, aus welchem heraus die Welt entstanden ist bzw. erschaffen wurde.

Mit Kopernikus, Galilei und Kepler begann die „Beobachtung der Sterne“, die „Astronomie“, nach nahezu zwei Jahrtausenden Unterbrechung wieder zu einem Unternehmen der Natur(er)forschung zu werden. Es sollte mit der Zeit eigene kosmologische Erklärungsansprüche erheben und schon bald in scharfe Konkurrenz zu spekulativ-philosophisch-theologischen Ansätzen treten. Und auch wenn die Motivationen auf Seiten der Väter der modernen Astronomie von Kopernikus bis Newton nach wie vor in der Suche nach einer einheitlichen Ordnung bestanden hatte, die wie im Mittelalter ihren Ursprung und Sinn in einem göttlichen Willen fand, was die Begründer modernen Naturwissenschaften noch am Aristotelischen „Erster Beweger“-Gott festhalten liess, so war spätestens im Aufklärungsjahrhundert Schluss mit dem uneingeschränkten Glauben an einen transzendenten Schöpfer. Und einmal von metaphysischen Spekulationen über transzendente Wirkungsmechanismen und religiös-sinnstiftender Verpflichtung befreit entwickelte sich die Astronomie rasch im Einklang mit anderen empirischen Wissenschaften zu einer kohärenten immanenten Naturtheorie. Wollte man die Entwicklung der kosmologischen Forschung der 125 Jahre von Immanuel Kant bis Albert Einstein und Edmund Hubble mit einem Satz zusammenfassen, so könnte dieser wie folgt heißen: „Das Universum wurde immer größer und immer unverständlicher.“ Erst 1916 entstand dann eine erste geschlossene physikalische Gesamtkosmologie, die auch den Ursprung des Universums einbezog. Dafür bedurfte es allerdings der Entwicklung einer Theorie, deren Definition einer physikalischen Realität von Raum und Zeit weit von unserer Alltagsanschauung entfernt liegt und deren Verständnis bis heute höchste Abstraktionsfähigkeiten abverlangt: die von Albert Einstein in einem Geneistreich ausgearbeitete „Allgemeine Relativitätstheorie“.

Erst mit der Einstein’schen Gravitationstheorie ergab sich die Möglichkeit, die Entwicklung des Kosmos auf ein singuläres physikalisches Ereignis an seinem Anfang zurückzuführen. Einig sind sich die Physiker unterdessen darin, dass unser Universum aus einer gewaltigen Explosion hervorgegangen ist, die wir heute als den „Big Bang“ oder „Urknall“ bezeichnen. Doch was war davor? Was hat diese Explosion ausgelöst? Nach Ansicht der meisten Physiker ist diese Frage so sinnvoll wie die Frage „Was liegt nördlich vom Nordpol?“ Es gibt kein „vor dem Urknall“. Denn mit dem Urknall ist die Zeit selbst entstanden, so ihre geläufige Antwort. Vorher gab es weder Raum noch Zeit noch Materie. Die Physiker sagen: Der Urknall ist eine „totale Singularität“. Oder um es vielleicht direkter zu formulieren: Sie haben nicht die geringste Ahnung, was damals vor sich ging und wie es um die Physik des Urknalls genau steht.

Einige Physiker wie beispielsweise Stephen Hawking spekulieren, das Universum sei zusammen mit Raum und Zeit wie aus dem „Nichts“ entstanden, und zwar als Folge von so genannten „Vakuum-Quantenfluktuation“. Sie beziehen sich dabei auf einen Mechanismus, welcher der zweiten grossen Theorie der modernen Physik entnommen ist, der Quantentheorie (genauer der „Quantenfeldtheorie“), die die Relativitätstheorie an Unanschaulichkeit und Abstraktheit sogar noch zu überbieten vermochte. Gemäss dieser Theorie können Teilchen und Strukturen direkt aus einem nur scheinbar strukturlosen Vakuum wie aus dem „Nichts“ entstehen. Andere Physiker behaupten dagegen, dass es auch ein „Davor“ gegeben haben muss, und dass der Urknall nur die „Geburt“ eines neuen Universums in einem viel größeren Gefüge von Ereignissen war, oder, je nach spezifischer Variation ihrer Theorie, dass unser Universum beim Urknall nur eines von sehr vielen parallel entstandenen Universen war. Wie dem auch immer gewesen sein mag, aus dieser Singularität, d.h. aus dem „Niemals“, „Nirgendwo“ und „Nichts“ wurde mit einem Mal Raum, Zeit und Materie, wie wir sie kennen. Und damit entstand die Grundlage dafür, dass 13,8 Milliarden Jahre später der dritte Planet eines kleinen Sterns am Rande einer unauffälligen Galaxie zweibeinige Wesen mit einem Kopf beherbergt, die über den Sinn und Hintergrund der Weltentstehung nachdenken.

So beschäftigen sich zweihundert Jahre nach Goethe die heutigen Kosmologen mit ersten eventuellen konkreten empirischen Hinweisen auf eine extrem schnelle, sogenannte „inflationäre“ Expansion des sehr frühen Universums, welche sie bis dahin nur aus spekulativen Modellen kannten. Eine solche „kosmische Inflation“ stellt ein von theoretischen Physikern postuliertes rätselhaftes, durch noch unbekannte Quanteneffekte hervorgerufenes Verhalten der Raum-Zeit unmittelbar nach dem Urknall dar, bei dem sich das Universum in sehr kurzer Zeit extrem stark ausdehnte − innerhalb von 10-33 Sekunden von der Grösse eines geringen Bruchteils des Protons auf die Größe einer Orange. Und tatsächlich glauben die Forscher, in der kosmischen Hintergrundstrahlung spezifische Signale entdecken zu können, die aus dieser unmittelbaren Anfangszeit des Universums stammen. Blicken sie hier vielleicht wirklich auf den Beginn allen Seins, inklusive dem der Zeit selbst? Auch wenn sich unterdessen herausgestellt hat, dass sich die im März 2014 gemessenen ersten Signale dieser Art wahrscheinlich der erhofften spektakulären Deutung entziehen, so kristallisiert sich in ihnen nichtsdestotrotz das faszinierende Bemühen der heutigen Physiker, einer Antwort auf die gleiche Grundfrage auf die Spur zu kommen wie Goethes Faust sie stellte.

Die „Tat am Anfang“ spielt dabei keine grosse Rolle mehr. Vielmehr gibt die moderne Quantenfeldtheorie tatsächlich einen Mechanismus vor, wie Teilchen und Strukturen, Raum und Zeit, bis hin zu ganzen Universen aus dem „Nichts“ entstehen können. In Anbetracht der abstrakten Höhen der heutigen theoretischen Physik, in die wir uns zwecks eines Verständnisses dafür begeben müssen, mag es zuweilen dennoch so erscheinen, dass wir bei der Frage nach dem Weltanfang nicht viel weiter sind als zu Goethes Zeiten. Doch tatsächlich befindet sich die kosmologische Forschung in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts in einem der spannendsten Abschnitte ihrer Geschichte, in der die Forscher vielleicht schon bald weiteres Licht auf eine mögliche Antwort auf diese Ur-Frage der Menschheit werfen könnten.

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