Wissenschaftler als Gegner von Corona-Massnahmen – Der Grat zwischen gesunder wissenschaftlicher Skepsis und Unterstützung der absurden Querdenker-Bewegung
Der Kern der wissenschaftlichen Methode ist der methodische Zweifel, der wissenschaftliche Modelle und Theorien immer wieder auf den Prüfstand stellt. Dank ihrer kompromisslosen Neugier und Skepsis wagen es die Wissenschaftler, bestehende Auffassungen kritisch zu hinterfragen und so falsches Wissen zuletzt zu korrigieren, denn was Autoritäten für wahr erklären, erweist sich nur allzu oft als unwahr. So wurden in der Geschichte nahezu alle wissenschaftliche Theorien irgendwann als falsch oder zumindest korrektur- und erweiterungsbedürftig erkannt.
Doch muss nicht gleich jeder Widerspruch zu einem bestehenden wissenschaftlichen Konsensus als glaubwürdig eingestuft werden. Dies trifft insbesondere für Themen zu, die sich in einem breiteren gesellschaftlichen Diskussionsfeld befinden. Hier vermischt sich oft eine als wissenschaftlich verkleidete Aussage mit speziellen sozialen Forderungen, individuellem Geltungsbedürfnis oder gar politischen oder ökonomischen Interessenskonflikten. Dies lässt sich sehr gut in der gegenwärtigen Corona-Krise beobachten. Vielen von denen, die glauben, sich mit Corona-skeptischen Artikeln und Videos an die Öffentlichkeit richten zu müssen und sich dabei auf die erfolgreiche wissenschaftliche Skepsis historischer Vorbilder berufen, könnten falscher nicht liegen.
Seit Ausbreitung des neuen Virus vor ca. 15 Monaten haben die Forscher in einer bewundernswerten Arbeit in Rekordschnelle viele Eigenschaften des Virus ermittelt, u.a. seine genetische Struktur, seine Infektiosität, seine Wirkungen im menschlichen Körper und damit seine Gefährlichkeit. Es gab vergleichsweise wenig Politik, wenig Anspruch auf unwidersprechbares Wissen und wenig Selbstdarstellung und nach öffentlicher Anerkennung buhlender Narzissmus. Wie im wissenschaftlichen Betrieb üblich lernte man mit der Zeit immer mehr über das Virus. Dabei zeigte sich, dass man mit den frühen Einschätzungen erstaunlich gut lag. Auch wer die Arbeiten historischer Idole wie Galilei, Darwin oder Einstein anschaut, deren Skepsis und Ideenreichtum zu den wissenschaftlichen Revolutionen der Vergangenheit führten, wird erkennen, wie detailversessen und akribisch diese Forscher gearbeitet und wie wenig sie sich mit scharfen Worten und Polemik ausgedrückt haben. Zumeist wenden sich Wissenschaftler mit ihren Ideen und Gedanken an so genannte „Peers“, also an andere Wissenschaftler und Experten auf ihrem Gebiet, und nicht an eine breite Öffentlichkeit, deren Meinung es oft anders als mit rationalen Mittlen zu beeinflussen galt.
Dass dagegen einige wenige Forscher heute mit offenen Briefen und YouTube-Videos ihre Meinung über die Corona-Massnahmen kundtun, um politische Aufmerksamkeit zu erringen, steht kaum im Zeichen seriöser wissenschaftlicher Arbeit. Hier handelt es sich zumeist eher um öffentliche Aufmerksamkeit und persönliche Bestätigung suchende Aktionen als um ernsthafte wissenschaftliche Kommunikation. Ein Beispiel ist Sucharit Bhakdi, vor seinem Ruhestand im Jahr 2012 ein anerkannter deutscher Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, der im März 2020 über Youtube sowie einen offenen Brief an Angela Merkel massive medizinische Fehlinformationen über COVID-19 verbreitete. Kurz darauf gab er ein Interview im Youtube-Kanal des Verschwörungsideologen Ken Jebsen. Zusammen mit seiner Frau, ihrerseits Biochemikerin, publizierte er dann das Buch „Corona Fehlalarm?», das in der Fachwelt aufgrund „tendenziöser Aussagen» auf breite Ablehnung traf. So meinte Bhakdi, man müsse unbedingt zwischen symptomfreien Infizierten und tatsächlichen, erkrankten Patienten unterscheiden und erste in der Statistik gar nicht berücksichtigen (zunächst war sogar die Annahme weit verbreitet, dass Kinder kaum zur Verbreitung des Coronavirus beitrügen, was unterdessen als komplett falsche erkannt wurde), er stellte die Gefährlichkeit und Ansteckbarkeit des Corona-Virus grundsätzlich in Frage und behauptete zuletzt, dass Szenarien wie ein Spanien und Italien in Deutschland gar nicht möglich seien. In allen Punkten wurde er von der Realität sehr schnell eingeholt. Seriöse Wissenschaft und Verschwörungstheorie passen nun einmal nicht zusammen.
Ein weiteres Beispiel ist die Aussage des Veterinärvirologen Geert Vanden Bossche, der seit 1995 keine wissenschaftliche Forschungsarbeit mehr veröffentlicht hat, dass wir mitten in einer Pandemie, die bereits über drei Millionen Menschen getötet hat, aufhören sollen, Menschen zu impfen. Bei Impfskeptikern stösst eine solche Forderung natürlich auf fruchtbaren Boden. Vanden Bossche begründet diese Forderung mit der vollständig spekulativen Aussage, dass die Impfstoffe virale Varianten selektieren werden, die dem Impfschutz entgehen können und so zu einer höheren Virulenz gelangen. Diese Aussage stützt sich wesentlich auf die Annahme, dass COVID-19-Impfstoffe keinen signifikanten Einfluss auf die Übertragung des Virus haben. Sie wurde in zahlreichen Studien und unterdessen auch in der empirischen Erfahrung in Ländern mit fortgeschrittenem Impfstatus der breiten Bevölkerung als falsch aufgezeigt.
Sowohl in Bhakdis als auch in Vanden Bossches Aufrufen stecken einige korrekte Aussagen, was ihren Schlussfolgerungen bei Nicht-Experten eine gewisse Überzeugungskraft verleiht. So ist die Statistik von Corona-Fällen, wie Bhakdi im März 2020 monierte, nicht immer eindeutig definiert, und Impfungen erzeugen, wie Vanden Bossche behauptet, tatsächlich einen Selektionsdruck auf Viren (und Bakterien, was wir von gegen Antibiotika resistenten Stämmen wissen). Doch andere Annahmen, auf denen dann ihre jeweiligen dramatischen Schlussfolgerungen und Forderungen beruhen, erweisen sich schnell als haarsträubend falsch. Wir müssen sie daher gemäss der Formulierung des Physikers Wolfgang Paul als „nicht nur nicht richtig, sondern nicht einmal falsch“ einstufen, denn sie vermischen Fakten mit Spekulation und Desinformation auf suggestive und oft schamlose Weise.
Der Unterschied zwischen öffentlichen Pamphleten wie die von Bhakdi und Vanden Bossche und seriösen wissenschaftlichen Aussagen ist ähnlich wie der zwischen Politik und Wissenschaft. Politiker orientieren sich an Ideologien und Überzeugungsstrategien. Hier zählt das Selbstvertrauen und die Darstellung, oft auch Polemik und vorgespieltes Wissen. In der Wissenschaft hingegen haben Ideologie und Polemik weing zu suchen (auch wenn sie auch hier nicht ganz verschwinden). Glaubwürdigkeit gibt es nur auf der Basis von Konsistenz und Fakten. Wissenschaftliche Skeptiker fühlen sich mitunter wie Falschfahrer auf der Autobahn: Es kommen ihnen viel Autos entgegen. Nun ist es theoretisch möglich, dass sie die einzigen sind, die auf der richtigen Seite fahren und alle anderen auf der falschen. Die Wissenschaftsgeschichte kennt solche Beispiele: Kopernikus, Kepler und Galilei und ihre heliozentrische Himmelstheorie, Darwin und seine Evolutionstheorie, Boltzmann und seine statistische Deutung der Wärmelehre, Einstein und seine Photonenhypothese bzw. Relativitätstheorie. Aber dies sind eher Ausnahmen, und es scheint schwer zu akzeptieren, wie jemand, der das Corona-Virus als vergleichsweise harmlos und Impfungen als gefährlich darstellt, einen solchen Status für sich beanspruchen kann. Hier darf man durchaus davon ausgehen, dass es sich um Irrfahrer auf der falschen Seite der Autobahn handelt. Doch anders als auf unseren Strassen dürfen wir solchen Menschen nicht verbieten, auf der falschen Seite zu fahren. Es ist falsch, Wissenschaftlern einen Maulkorb zu verpassen, wie dies teils in England getan und in der Schweiz versucht wurde. Vielmehr sollten Wissenschaftler eine stärkere Stimme in der Öffentlichkeit haben. Und hier ist es das Wesen der Wissenschaften, auch solche Gegenpositionen zuzulassen. Früher oder später wird ihre Richtigkeit oder Falschheit dann herauskommen. In den beiden genannten und ähnlichen anderen Fällen geschieht dies eher früher.