Wer sich mit der Naturwissenschaft und ihren Erkenntnissen beschäftigt, sieht sich früher oder später mit einem Begriff konfrontiert, der seinen Ursprung in der Philosophie hat, dessen Heimatdisziplin jedoch nie genau festzustellen vermochte, was er eigentlich genau bezeichnet: es handelt sich um die „Wahrheit“. Doch auch im Alltagsgebrauch begegnen wir diesem Begriff im Zusammenhang mit Wissenschaft erstaunlich häufig: „Wissenschaftlich überprüft“, „Wie wissenschaftliche Studien zeigen…“ oder „Die Wissenschaft hat gezeigt, dass…“, wer solche Redewendungen liest, oder selber verwendet, weiss, dass mit ihnen nur allzu oft ein höherer Wahrheitsanspruch verbunden ist. Das geht gar so weit, dass Wahrheit und Wissenschaft in unserem heutigen Verständnis gewöhnlich derart eng zusammengehören, dass man versucht sein könnte, überhaupt nur innerhalb dem wissenschaftlichen Denken von Wahrheit zu reden.
Dabei entwickelt der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ein auf den Aufklärungsphilosophen David Hume zurückgehendes Gedankengebäude, in dessen Zentrum die Einsicht stand, dass die Wissenschaft zu keinem Zeitpunkt sicher sein kann, ob sie die Wahrheit auch tatsächlich gefunden hat. Wissenschaftliche Theorien können Popper zu Folge niemals verifiziert (sondern immer nur falsifiziert) werden. Die Popper-Hume’sche Einsicht besitzt starke Bezüge zu den Lehren des antiken Philosophen Pyrrhon von Elis, einem Zeitgenossen Alexanders des Grossen und Begründer einer skeptischen Geisteshaltung in der Philosophie, die darin liegt, dass man sich eines Urteil zu letzten Fragen enthält, aus der Einsicht in die Ungewissheit allen Wissens über die wahre Beschaffenheit der Dinge heraus. Seine Philosophie prägte hierfür den Begriff „epoché“, der so viel heisst wie „Enthaltung von endgültiger Entscheidung“ (er wurde später von Edmund Husserl wieder aufgegriffen). Pyrrhons philosophischen Denken wird eine Nähe zum indischem Denken nachgesagt, insbesondere der buddhistischen Lehre der „relativen Wahrheit“ in der Madhyamaka-Tradition, die im 2. Jahrhundert n. Chr. bei Nagarjuna ihren Höhepunkt erreichte.
In dieser notwendigerweise ultrakurzen Darstellung erkennen wir, dass der Wissenschaft bereits zahlreiche philosophische Traditionen vorlagen, die ihr jeglichen eigenen absoluten Wahrheitsanspruch entrissen, als sich diese im frühen 17. Jahrhundert aufmachte, ihren eigenen Wahrheitsvorstellungen von der „Natur der Dinge“ zu entwickeln (um damit die Epoche der „Moderne“ einzuleiten). Hier ist nicht die Stelle, an der wir über die historischen Ursprünge dieser Vorstellungen reflektieren können. Es sei nur so viel erwähnt, dass die wissenschaftliche Revolution des 17 Jahrhunderts von religiösen Wahrheitsbestimmungen derart durchdrungen war, das man diesen eine wesenskonstituierende Rolle bei der Entstehung der Wissenschaft zusprechen muss.
Erst in den letzten 100 Jahren lässt sich in ihrer Entwicklung ein radikaler Wechsel in ihrem Erklärungsanspruch der erkennen, der nicht zuletzt auch eine tiefe Bedeutung für die gesellschaftliche Diskussion um ihr Wirken gewinnt. Die historischen Anfänge der Naturwissenschaften liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern, den antiken Naturphilosophen vor Sokrates, entstanden die Grundlagen einer Metaphysik, die nach den letzten Gründen und Zusammenhängen suchte, die hinter den Phänomenen der Natur liegen. Ungeachtet der philosophischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Gedanken eines absoluten und letzten Wissens von der Natur ergaben, hielt sich dieser intellektuelle Antrieb bis in die späte Neuzeit. Er motivierte Kepler in seiner Planetenlehre, galt Newton als Grundlage für sein mathematisches System der Mechanik und ließ die Physiker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Einheit der Naturwissenschaften träumen. Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – die ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur im Transzendenten jenseits des sinnlich Erfahrbaren finden kann. Erst mit der Entstehung der modernen Physik beschleunigte sich ein Prozess, in welchem die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung zurückgedrängt wird. Die Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie die Quantenphysik betrieb, lässt sich ohne weiteres als eine der größten philosophischen Einsichten des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Wir erkennen, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums vom universell Wahren (zusammen mit der Einsicht, dass die Betrachtung der Natur nicht ein von uns selbst losgelöster, subjektunabhängiger Prozess ist), gewinnt. Bekannte Beispiele sind die Ersetzung von Newtons Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit in der Relativitätstheorie oder der neue Objektbegriff in der Quantenphysik. Des Weiteren betrachte man die heute zentrale Bedeutung des Begriffs der Information in Evolutionstheorie und Genetik, den beiden Pfeilern der modernen Biologie. Zusammenfassend können wir sagen: Die Naturwissenschaft hat sich „ent-absolutiert“, sie sucht nicht mehr nach dem Absoluten.
Diese Entwicklung besitzt zuletzt eine gesellschaftlich relevante Dimension: In dieser Loslösung von absoluten Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik erkennen – worauf ebenfalls Popper hinwies. Jedes Mal, wenn die Menschen glaubten, sie hätten die perfekte Gesellschaftsform gefunden, endeten sie in der Erstarrung eines despotischen Absoluten. Die Naturwissenschaften lehren uns die Dynamik der steten Infragestellung des eigenen Status quo, die nicht endende kritische Reflexion des gegenwärtigen Denkens und Handelns. Wie die Naturwissenschaft befindet sich auch die Politik in einem permanenten Reparaturmodus, muss sich ständig hinterfragen und ihren Fortschritt in der steten Korrektur falscher Entscheidungen finden. Eine Regierungsform, in der sich Macht demokratisch rechtfertigen und in ihren Ausführungen korrigieren oder gar abwählen lassen muss, ermöglicht einen ganz anderen gesellschaftlichen Fortschritt als autoritäre Regierungsformen.
Indem die Wissenschaft ihren absoluten Wissensanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigier- und erweiterbar ansieht, definierte die damit verbundene Neuausrichtung im Wahrheitsanspruch der Naturforscher letzthin die historisch beispiellose moderne wissenschaftliche Fortschrittsdynamik.Erst von hier an gibt es überhaupt erst einen Weg vom Irrtum zur – wenn auch nur temporären – Wahrheit, nämlich dort, wo wir es mit einer dem Fortschritt verpflichteter Wissenschaft zu tun haben. Vorher haben wir zwar Naturtheorien, jedoch keine wissenschaftlichen, sondern literarische (mythische), philosophische und religiöse Erzählungen, die noch ganz andere Funktionen haben als die, die Wahrheit zu behaupten, – nämlich vor allem die, Sinn zu stiften.