Wissenschaft und Ethik – Als die Physik vor 70 Jahren ihre Unschuld verlor
Es kommt selten vor, dass Physiker einer historischen Diskussion oder einem Jubiläum ein überhöhtes Mass an Aufmerksamkeit schenken. In diesen frühen Augusttagen des Jahres 2015 ist dies anders. Sie und viele andere Menschen halten inne, um den 200‘000 Toten einer der umstrittensten Militäroperation der Geschichte – und vielen mehr in der Folgezeit – zu gedenken. Am 6. August 1945 warf das amerikanische Kampfflugzeug „Enola Gay“ eine Uran-Atombombe über die die japanische Stadt Hiroshima ab. Nur drei Tage später folgte eine (mit ca. doppelter Sprengkraft versehene) Plutoniumbombe auf die Hafenstadt Nagasaki und legte diese ebenfalls in Schutt und Asche. Die Atombomben beendeten den zweiten Weltkrieg, der weltweit mit über 50 Millionen gekommen. Die Diskussion um die Motivation, Legitimität und Folge der Entscheidung des gerade erst zwei Monate im Amt weilenden amerikanischen Präsidenten Harry Truman, die Atombomben gegen den verbliebenen Kriegsgegner Japan einzusetzen, hat dagegen bis heute kein Ende gefunden.
Blicken wir nur wenige Jahre weiter zurück: Im Jahr 1938 führten die deutschen Forscher Otto Hahn und Lise Meitner Experimente mit Urankernen durch, inmitten derer Letztere Hals über Kopf aus Berlin fliehen musste, da sie als Jüdin im nationalsozialistischen Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher war. Im Dezember 1938 erreichte sie ein Brief Hahns, in dem er ihr berichtete, dass beim Beschiessen des Uranatoms mit Neutronen Bariumatome entstanden waren, und sie bat, über dieses Ergebnis nachzudenken. Meitner kam zu dem Ergebnis, dass der Urankern aufgrund der hohen Zahl sich abstossender Protonen recht instabil sein muss und ihn der Beschuss mit einem Neutron zum Platzen bringen könnte. Aufgrund der elektrischen Abstossungskräfte werden nach Aufspaltung des Atomkerns die Bruchstücke der Spaltung stark beschleunigt und nehmen somit sehr viel Energie auf, weit mehr als jede Energie, die in bis dahin bekannten Atomprozessen entstanden war. Meitner berechnete, dass die beiden Kerne, die aus der Spaltung hervorgehen, in ihrer Summe geringfügig leichter sind als der ursprüngliche Kern des Urans. Die Energie der Kernbruchstücke musste also direkt aus der Masse des Uranatomkerns entstammen. Damit war zum ersten Mal ein Prozess bekannt geworden, im welchem sich die von Einstein 31 Jahre zuvor formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbarte.
Aber auch war damit deutlich geworden: Im Inneren des Atoms schlummern unvorstellbare Energien, millionen- und milliardenfach höher als in konventionellen chemischen Reaktionen, welche sich über eine Kettenreaktion von Kernspaltungen in sehr kurzer Zeit freisetzen liessen. Schnell kam die Möglichkeit einer militärischen Anwendung dieser „Kernenergie“ ins Spiel. Dies liess nun auch Nicht-Physiker aufhorchen. Als führende Nation in Forschung und Technik war das nationalsozialistische Deutschland dazu prädestiniert, als Erster die Kernenergie militärisch zu nutzen. Eine Bombe mit solch gewaltiger Sprengkraft in den Händen Hitlers hätte für die Welt katastrophale Auswirkungen, so dachten nicht nur die beiden Juden Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch. Der ungarische Physiker Leó Szilárd bewog daher den bis dahin strikten Pazifisten Albert Einstein dazu, einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu schreiben und ihm darin die Anregung zu geben, den Bau einer amerikanischen „Atombombe“ zu initiieren. Roosevelt nahm diesen Anstoss an und liess die amerikanische Regierung unter höchster Geheimhaltung ein Team von hochrangigen Wissenschaftlern und Technikern zusammenstellen, die meisten von ihnen aus Europa und motiviert, Hitler nicht den alleinigen Zugang zu Atomwaffen zu überlassen. Das „Manhattan Projekt‘ sollte das bis dahin komplexesten und schwierigsten Technikprojekts der Geschichte werden.
Der erste Schritt war nachzuweisen, dass sich tatsächlich eine nukleare Kettenreaktion von
Neutronenfreisetzungen auslösen und aufrechterhalten liess. Dies gelang im Dezember 1942 Enrico Fermi, der mittlerweile ebenfalls aus dem mit Hitler verbündeten Italien ausgewandert war. Damit war der Weg zur Atombombe frei. Die Forschungsarbeiten wurden an einem Ort namens „Los Alamos“ in der Wüste von New Mexico zentriert. Der wissenschaftliche Leiter des Manhattan Projekts und somit „Vater der Atombombe“ wurde Robert Oppenheimer, der seine wissenschaftliche Ausbildung unter Max Born in Deutschland erhalten hatte. Schon früh zeichneten sich zwei gangbare Wege für den Bau einer Atombombe ab: ein erster mittels der Spaltung von Urankernen und ein zweiter mit Plutoniumkernen. Oppenheimer und seine Kollegen entschlossen sich dazu, beide Konzepte gleichzeitig zu verfolgen. Nach vier Jahren intensiver und strikt geheim gehaltener Arbeit war es den Physikern gelungen, beide Bombentypen zu entwickeln. Im Juli 1945 hatten sie vier Atombomben fertiggestellt. Am 16. des Monats liessen die Physiker auf dem Testgelände in New Mexico die erste (Plutonium-)Atombombe zur Explosion bringen. Viele von ihnen überkam ein Gefühl tiefsten Unbehagens, als sich der erste Atompilz der Geschichte am Horizont abzeichnete. Oppenheimer selbst beschreibt, wie er sich bei dieser Ansicht an eine Zeile aus einer heiligen Schrift des Hindus, der Bhagavad-Gita, erinnerte:
Wenn das Licht von tausend Sonnen
am Himmel plötzlich bräch‘ hervor
das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen,
und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten.
Mit der Atombombe hatte die Physik ihre Unschuld verloren (mit der Entwicklung von Giftgaswaffen war dies mit der Chemie bereits im ersten Weltkrieg geschehen). Viele der Wissenschaftler, die am Manhattan Projekt mitgewirkt hatten, verfolgte bis an ihr Lebensende die quälende Frage, ob sie nicht eine unmittelbare Verantwortung am Tod vieler Menschen trugen. Oppenheimer plagte sein Gewissen derart, dass er sogar vom amerikanischen Geheimdienst verfolgt wurde, der glaubte, seine Reue könne den USA im Kalten Krieg gegen die UDSSR schaden. Andrei Sacharow, der Vater der späteren sowjetischen Wasserstoffbombe, wurde zum Friedensaktivisten seines Heimatlands und erhielt dafür 1975 sogar den Friedensnobelpreis.
Spätestens mit Los Alamos, Hiroshima und Nagasaki hat die Tätigkeit der Physiker eine Dimension gewonnen, die sie bis heute nicht mehr losgeworden ist: die der gesellschaftlichen Verantwortung. Vor 70 Jahren mussten die Wissenschaftler erkennen: Ihre Disziplin selbst gibt ihnen die Ethik ihres Schaffens nicht vor. Diese bedingt einen viel umfänglicheren Diskurs mit der Gesellschaft, in der sie lebt. Mit der Atombombe, welchen sie den Militärs zur Verfügung gestellt hatten, mussten de Physiker erkennen: Der Gebrauch und Missbrauch der Technologien liegt ausserhalb ihres Einflusses. In Anbetracht der unterdessen noch viel grösseren und in der absehbaren Zukunft sicher noch einmal weit umfassenderen technologischen Möglichkeiten aus der wissenschaftlichen Forschung auf zahlreichen Feldern sollten wir dies auch heute nie aus den Augen verlieren vergessen.