Wer beginnt, Philosophie zu studieren, muss sich oft Fragen stellen wie „Was willst Du damit später mal machen?“ oder gar „Willst Du nicht nebenher besser auch noch den Taxi-Führerschein machen?“. Obwohl sich die berufliche Aussichten für Philosophen verbessert haben, seit Management-Consulting Firmen entdeckt haben, was sich mit unkonventionell denkenden Menschen in der Geschäftswelt alles anfangen lässt, gehört ihr Fach immer noch zu denen, die Berufseinstiege leicht zu Spiessrutenlaufen werden lassen. Das könnte sich allerdings schon bald ändern.
Hat sich in den letzten 200 Jahren unsere Welt durch die Entwicklungen der Naturwissenschaften und der aus ihr entsprungenen Technologien bereits weit dramatischer als in jeder vergleichbar langen Periode der Menschheitsgeschichte gewandelt, so beschleunigt sich die wissenschaftlich-technologische Entwicklung in einem atemberaubenden Tempo weiter. Und wie gesellschaftliches und individuelles Verhalten sich dabei verändern, davon können verzweifelte Eltern z.B. bereits am elektronischen Kommunikations- und Konsumverhalten ihrer Kinder schon heute eine Ahnung gewinnen. Mag eine solche Feststellung auch ein wenig abgegriffen klingen, so führt uns eine Betrachtung der heutigen Naturwissenschaften doch zu der Einsicht, dass wir uns an der epochalen Schwelle einer neuen Zeit befinden, einer Zeit von möglicherweise dramatischen, wissenschaftlichen Neuentdeckungen und bahnbrechenden, heute noch unvorstellbaren technologischen Entwicklungen. Diese werden massgeblich bestimmen, wie unsere Welt und Gesellschaft in Zukunft aussehen werden.
Doch nicht erst seit der Entwicklung von Atomwaffen besitzt diese Entwicklung eine gewaltige eigene ethische Dimension. Ein frühes Bekenntnis zu dieser Einsicht schenkte uns zu einer Zeit, als man noch Poet und Wissenschaftler zugleich sein konnte, der berühmte Goethe mit seiner Ballade vom Zauberlehrling, welcher die von ihm gerufenen Geister nicht mehr loswurde. Sind wir beispielsweise bereit, die ethischen Konflikte auszutragen, die der Weg einer genetischen oder neurobiologischen Neukonstruktion des Menschen, wie sie von prominenten Bio- und Hirnforschern heute bereits aufgezeigt wird, mit sich bringt? Allgemeiner gefragt: Was ist im Rahmen des wissenschaftlich Möglichen ethisch erlaubt? Müssen wir nicht irgendwo ein Stoppschild ‚Bis hierher und nicht weiter‘ aufstellen‘? Auf Fragen wie diese sucht die innerhalb der Philosophie angesiedelte Wissenschaftsethik nach Antworten.
Dass diese Fragen keineswegs rein theoretisch-spekulativer Natur sind, zeigt just in diesen Tagen der Aufruf einer Gruppe von namhaften Bio-Wissenschaftlern im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ (D. Baltimore et al., A prudent path forward for genomic engineering and germline gene modification, Science, March 19 2015). Stein des Anstosses ist ein unterdessen weit verbreitetes Verfahren in der Mikrobiologie, mit Hilfe dessen es möglich ist, die DNA in menschlichen Embryozellen zu verändern. Nahezu zeitglich findet sich auch im Konkurrenzblatt „Nature“ ein Aufruf von namhaften Bio-forschern zu freiwilligen Grenzen der Forscher bei Veränderungen des menschlichen Erbgutes (E. Lanphier, Don’t edit the human germ line, Nature, March 12 2015). Die Technologie, um des es in beiden Aufsätzen geht, ist das so genannte „Genome editing“. Es erlaubt einen immer präziseren Eingriff in das Erbgut von Lebewesen, was einerseits genetische Krankheiten behandeln andererseits aber auch menschliche Eigenschaften von Schönheit und Intelligenz manipulieren lässt. Vor nicht mehr als drei Jahren war diese Technologie mit Hilfe der Entwicklung eines Verfahrens mit dem harmlosen Namen CRISP-Cas9 noch einmal deutlich verbessert worden. Unterdessen ist die Technologie so einfach zu handhaben, dass es jedem Wissenschaftler mit molekularbiologischen Kenntnissen möglich ist, Genome zu verändern.
Während die Veränderung des Erbgutes in der Pflanzengenetik bereits längst gang und gäbe ist, so steht die Technologie bei Tieren und Menschen erst am Anfang. Beim Genom von Mäusen, Ratten und Affen wurde diese Technologie bereits eingesetzt, und nur wenige Forscher bezweifeln, dass sie auch beim Menschen anwendbar ist. Dabei verspricht sie nahezu Unglaubliches: von Heilung vor Aids, gentherapeutischer Behandlung von unheilbaren Krankheiten bis hin zu Schutz vor Krebs, Diabetes und anderen altersbedingten Krankheiten. Doch was passiert, wenn man diese Technologie auf embryonale Zellen, Ei-oder Spermazellen, anwendet? Die Veränderungen blieben dann nicht nur auf das Individuum beschränkt, sondern würden in zukünftige Generationen weitergegeben. Genetisches Engineering würde damit nichts weniger als die zukünftige Evolution des Menschen bestimmen. Es sind genau solche Entwicklungen, die nun auch die Wissenschaftler selbst aufschreien lassen. Sie fordern eine klare Diskussion und Vereinbarungen darüber, ob wir Menschen derart beeinflussen dürfen oder nicht.
Doch dies ist bei weitem nicht die alles, was Wissenschaftsethiker heute bewegt. Schon lassen sich Mäuse gentechnisch intelligenter machen. Was würde es erst bedeuten, wenn gentechnisch optimierte Menschen denjenigen, die ihren Gen-Mix nach dem Millionen Jahre alten ‚Zufallsverfahren‘ erhalten haben, hinsichtlich kognitiver oder körperlicher Fähigkeiten deutlich überlegen werden? Vergleichbare Fragen fallen in der Neuroforschung an. Schon geistert das Stichwort ‚Gehirndoping‘ durch die populärwissenschaftliche Presse. Wie wäre es erst, wenn wir Stimmungslage, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Selbstkontrolle, Willenskraft, Auffassungsvermögen, ja vielleicht sogar sexuelle Lust und vieles andere durch neuro-elektrische Impulse von aussen beeinflussen und gegebenenfalls sogar steuern könnten? Je mehr wir über die genetischen, chemischen und neurologischen Hintergründe von Gefühlen wie Vertrauen, Mitgefühl, Nachsicht, Grosszügigkeit, Liebe und Glauben in Erfahrung bringen, desto mehr werden wir dieses Wissen nutzen können, um uns und andere zu manipulieren. Und die Entwicklung der wissenschaftlichen Möglichkeiten lässt uns noch weiter denken: Was würde es bedeuten, wenn verschiedene menschliche Gehirne über Neurointerfaces direkt miteinander in Kontakt bringen könnten und somit ein einzelnes Gehirn Teil eines kollektiven Bewusstseins vieler Gehirne würde? Aus der Bewusstseinsforschung ergibt sich zudem die Frage, ob es auch andere, nichtmenschliche Formen des Bewusstseins geben kann, ggfs. gar maschinell erzeugte. Welche ethischen Normen würden für sie gelten?
Der Themenkomplex der Verantwortung der heutigen Wissenschaft erschöpft sich aber bei weitem nicht in der Bio- bzw. Medizintechnik oder Neuroforschung. In der Nanotechnologie offenbaren sich beispielsweise aufregende neue Möglichkeiten, die in der öffentlichen Darstellung bereits mit Stichwörtern wie ‚Mini-Roboter‘ oder ‚Wunder-Materialien‘ beschrieben werden und immer neue Manipulationsmöglichkeiten materieller Strukturen versprechen. Auch die Möglichkeiten der Verarbeitung grosser Mengen von Informationen und Daten sind heute in Dimensionen vorgestossen, die eine zunehmend gesellschaftliche Bedeutung tragen, und unter dem Stichwort ‚Big data‘ unlängst in die öffentliche Diskussion eingedrungen sind. Wie auch die Gentechnologie oder Hirnforschung steht mit diesen Technologien ein gewaltiges Potential an schöpferischer Gestaltung und Verbesserung unseres Lebens ein nicht zu vernachlässigendes Gefahrenpotential und eine zunehmende Verunsicherung vieler Menschen gegenüber.
In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt der Wissenschaften und Technologien brauchen wir Experten, die sowohl wissenschaftliche Fachkenntnisse als philosophische Reflexionsfähigkeit besitzen (und zudem frei von kommerziellen Interessen sind). Haben wir heute vielleicht noch das Gefühl, dass so etwas wie ein „ethischer Damm „Entwicklung wie die oben beschriebenen stoppen könnte, so ist der dauerhafte Bestand dieses Schutzwalls fraglich. Denn noch haben die Menschen in ihrem Drang, die Natur zu beherrschen oder deren Gesetze zu überschreiten, nie vor Risiken zurückgeschreckt oder sich von Bedenken einschränken lassen. Nimmt man die Vergangenheit zum Massstab, so müssen wir erwarten, dass alles, wozu Menschen technologisch in der Lage sind, sie früher oder später auch entwickeln werden – philosophischen oder ethischen Überlegungen zum Trotz. Doch gerade in den nächsten Jahren und Jahrzehnten könnte ein solcher Wall besonders wichtig sein, denn gleich auf derart vielen Gebieten stehen Technologie-induziert echte „Game changers“ an, mit denen sich die Spielregeln der menschlichen Gesellschaft grundlegend verändern, ja sogar gänzlich neue Formen von Zivilisation entstehen könnten. Die Art und Weise, wie wir den Möglichkeiten und Problemen der wissenschaftlich-technologischen Veränderungen der nächsten 50 bis 100 Jahre und den damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen begegnen, könnte letztendlich über das weitere Schicksal der Menschheit entscheiden. Für Philosophen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, wird es in den nächsten Jahren und Jahrzehnten glänzende Berufsperspektiven geben.