Was erfolgreiche ökologisch und sozial nachhaltige Firmen in der Zukunft ausmacht: Disruptive Technologien
Eine der bedeutendsten gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart beschäftigt sich mit der Frage, ob kapitalistisches Wirtschaftswachstum eine ökologisch und sozial nachhaltige Entwicklung unausweichlich blockiert oder eine solche explizit zu fördern vermag. Die meisten klassischen Ökonomen sind von letzterem überzeugt. Mitte des letzten Jahrhunderts stellte der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Simon Kuznets einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Einkommensungleichheiten her. Seine Vorhersage lautete, dass zwar mit wachsender Wirtschaft zunächst die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht, die Einkommen sich später aber wieder angleichen. Die sogenannte „Kuznets-Kurve“ sieht aus wie ein umgekehrtes U, ihr höchster Punkt kennzeichnet die maximale Einkommens-Ungleichheit, danach sind die Einkommen wieder gleichmässiger verteilt. Empirisch gilt diese Aussage seit den 1980er und 1990er als zunehmend fragwürdig. Ökonomen vermuten aber, dass die Kuznets-Kurve aber für die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und ökologische Nachhaltigkeit gelten könnte („Umwelt-Kuznets-Kurve“). Die Entwicklung der letzten Jahre in den Industrieländern deutet eine solche Dynamik tatsächlich an. Das ökonomische Wachstum hat vielerorts begonnen, sich vom Wachstum in der Freisetzung klimaschädlicher Gase abzukoppeln. In Deutschland, Frankreich, England und den meisten anderen europäischen Industrieländern sinkt der Ausstoss von Treibhausgasen, obwohl die Wirtschaft weiter wächst. Auch in den USA ist das so, wenn auch in geringerem Ausmass. Diese Entwicklung lässt sich mit dem Verhältnis zwischen CO2 äquivalenter Treibhausgasemission und der global erzielten Wirtschaftsleistung genauer quantifizieren. 1971 lag der Wert dieses Verhältnisses noch bei 8 kg CO2/USD, 2019 war dieses Verhältnis auf 0,53 gesunken (schon 1990 betrug dieser Wert allerdings nur noch 1.7). Für Deutschland liegt dieser Wert heute bei ca. 0,2, in den USA bei ca. 0,3, in China bei ca. 0,75.
Müssen Gesellschaften erst ein klimaschädigendes wirtschaftliches Wachstum durchlaufen, bis die Technologien entwickelt sind, dass immer nachhaltigeres Wirtschaften ermöglichen? Oder ändern sich mit zunehmendem Wohlstand vielleicht die Präferenzen von Menschen von Konsum hin zu nichtökonomischen Aspekten, wie etwa saubereren Flüssen, gesünderen Wäldern oder einem stabilerem Klima? Tatsächlich ist ökologische, soziale und unternehmerische („ESG“: environmental, social, and governance) Nachhaltigkeit nicht nur für Politiker, sondern zunehmend auch für Unternehmer, Kapitalanleger und Konsumenten zu einem wichtigen Kriterium geworden. Prinzipien der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit haben so auch die Tür zu neuen Leitbildern für die internationalen Kapitalanleger geöffnet. Parallel zu den wortreichen politischen Versprechungen von Klimaneutralität haben sich im Dezember 2020 30 Grossinvestoren, darunter grosse Vermögensverwaltungshäuser, Fondsriesen, Banken und Versicherungskonzerns in einer „Net Zero Asset Managers“-Initiative dazu verpflichtet, das gesamte von ihnen verwaltete Vermögen bis spätestens komplett 2050 klimaneutral anzulegen. Die Unternehmen in ihren Anlageportefeuilles dürfen insgesamt nicht mehr Treibhausgase emittieren als sie der Atmosphäre entziehen, so das Versprechen. Bei Pharmafirmen wiederum wirkt z.B. in die ESG-Bilanz ein, welchen Zugang Entwicklungsländern zu Medikamenten und anderen Gesundheitsdiensten geboten werde. Und Unternehmen, die den für Batterien wichtigen Rohstoff Kobalt verarbeiten, müssen nachweisen, dass in ihrer Wertschöpfungskette keine Kinderarbeit stattfindet.
Die Geldhäuser tun dies kaum aus reinem Altruismus. Sie haben längst erkannt, dass in sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit auch gute Renditechancen liegen. Dass ESG basiertes Investieren tatsächlich attraktive Renditen erzielt, zeigt eine im Juni 2020 veröffentlichte Studie des Imperial College London und der Internationalen Energieagentur, die Börsendaten der letzten fünf und zehn Jahre in Deutschland, Frankreich, England und in den USA analysiert hat. Hier ging es zunächst um das „E“: Die Renditen der Investitionen in erneuerbare Energien waren in den letzten fünf Jahren beträchtlich. In Deutschland und Frankreich liessen solche Anlagen mit 178,2 Prozent Rendite die Investitionen in fossile Brennstoffe weit hinter sich. Letztere haben mit -20.7 Prozent sogar Geld verloren. Im Vereinigten Königreich lag das Verhältnis bei 75.4 Prozent zu 8.8 Prozent, in den USA bei 200.3 Prozent zu 97.2 Prozent. Kein Wunder, dass im Jahr 2019 fast 400 neue ESG-Fonds aufgelegt wurden, und in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Branche mehr als 100 Mrd. USD an neuen direkten Geldern zuflossen (dazu kommt, dass sich bestehende Produkte auch immer mehr nach ESG-Kriterien ausrichten). Die ESG-Welle bildet sich auch in der Anzahl von Drittanbietern ab, die ESG- Datendienste und -Ratings für Investoren und Vermögensverwalter anbieten. Unterdessen gibt es Hunderte davon. Dazu gehören sowohl etablierte, globale Datenanbieter wie MSCI und Bloomberg als auch ESG-Spezialisten wie Sustainalytics, ISS und Arabesque.
Woher kommen diese Extra-Renditen von ESG-Investments? Sind Unternehmen, die ESG-Kriterien besser erfüllen, einfach widerstandsfähiger und langfristig besser aufgestellt? Es ist einleuchtend, dass Firmen, die sich sozial verhalten und eine transparentere Unternehmenskultur besitzen, weniger Risiken ausgesetzt sind. Umgekehrt sind Unternehmen, die ihre Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung nicht berücksichtigen, erheblichen rechtlichen und regulatorischen Risiken ausgesetzt. ESG-getriebenen Firmen setzen ihre Investoren weit weniger Anlagefiaskos wie Wirecard oder Enron aus. Doch dies erklärt kaum solche Überrendite, wie die in der Studie des Imperial College London aufgeführten. Es muss einen weiteren bedeutenden Faktor geben, der diese in den letzten Jahren getrieben hat.
Hier treffen wir auf den neben ESG zweiten „Megatrend“ in den globalen Kapitalmärkten der 2020er Jahre: disruptive Technologien. Die rasante Entwicklung in den Bereichen digitale Technologien (künstliche Intelligenz (KI), Big Data, Internet of Things (IoT), etc.), Energie (Solar-, Wind- und andere regenerative Energien, Smart Grids), Biotechnologien (Gentechnik, Bioinformatik, Neurotechnologien, medizinische Diagnostik), Quantentechnologien (Nanotechnologien, neue Materialien, Quantensensoren, Quantencomputer), etc. verändern heute Geschäftsmodelle, Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes grundlegender und schneller als je zuvor. Dieser Trend wird sich mit der technologischen Weiterentwicklung noch beschleunigen. Die Renditen von Apple (+83%), Amazon (+77%) und Tesla (+732%!) im Jahr 2020 reflektieren die imposanten Renditeopportunitäten, die sich mit disruptiven Technologien ergeben. Ergibt sich daraus vielleicht auch die in den letzten Jahren beobachtete Extra-Performance von ESG geführten Aktienportefeuilles? Wie steht es mit dem Zusammenhang von technologischer Innovation und ESG?
Klar ist: Technologische Entwicklungen haben auch einen massgeblichen Einfluss auf die ökologische Nachhaltigkeit von Unternehmen, was sich auf der makroökonomischen Ebene in der Umwelt-Kuznets-Kurve manifestiert. So wurde die «grüne Revolution» der letzten Jahre massgeblich durch Technologien vorangetrieben. Ohne die stetigen Steigerungen der Wirkungsgrade von Solarzellen und immer effizienteren Batterien, ohne die KI-gesteuerten Smart grids in der Stromverteilung und ohne die immer besser angepassten Windräder wäre die Energiewende hin zu einer regenerativen Energieversorgung kaum möglich gewesen. Angetrieben durch die Konvergenz gleich mehrerer Schlüsseltechnologien, Photovoltaik, Windkraft und Energiespeicherung, in Kombination mit Nanotechnologie, neuen Materialien und künstlicher Intelligenz steht der Energiesektor an der Schwelle zur schnellsten und tiefgreifendsten Umwälzung der letzten 150 Jahre. Klar ist auch: Regenerative Energietechnologien werden weiterhin bemerkenswerte Entwicklungen durchlaufen. Ihre Kosten werden in den nächsten 10 Jahren mit allergrösster Wahrscheinlichkeit um weitere 70% (PV), 40% (Windenergie) und 80% (Batterien) fallen. Sind die etablierten Energieträger aus Kohle, Gas und Kernkraft bei der Stromerzeugung bei entsprechenden Wetterverhältnissen bereits heute nicht mehr wettbewerbsfähig mit Solar- und Windanlagen, so werden sie es mit dieser Preisdynamik noch viel weniger sein, denn ihre Preise werden eher steigen als sinken.
Das haben beispielsweise Anleger in Energieaktien längst begriffen. Diese Dynamik bildet sich auch im Börsenwert von Energieunternehmen ab. So geschah Anfang Oktober 2020 Bahnbrechendes: Der Börsenwert von NextEra Energy, dem grössten US-Unternehmen für erneuerbare Energien (Wind und Solar), überholte den des Ölriesen Exxon und wurde zum wertvollsten Energie-Unternehmen an der US-Börse (unterdessen, Ende Dezember 2020, ist Exxon wieder leicht vorne). Noch 2013 war Exxon das wertvollste börsennotierte Unternehmen weltweit gewesen, doch in weniger als sieben Jahren hat die Firma etwa zwei Drittel ihres Marktwertes verloren, währenddessen NextEra um fast 300% zugelegt hat. Die Firma Singularity in Zürich hat sich darauf spezialisiert, Firma wie NextEra auf allen möglichen technologischen Feldern systematisch zu identifizieren.
So sollte klar sein: Ein grünes oder soziales Image und eine starke zukünftige Ertragskraft sind beides zentrale Kriterien für erfolgreiches Investieren in Firmen nach ESG-Kriterien. Einfach Kriterien nach statischen ökologischen oder sozialen Kriterien und Regeln zu definieren und auszuwerten, wie dies die meisten ESG-Datenanbieter, die Investoren heute verwenden, noch tun, birgt Potential für Enttäuschungen. Nach moderner Portfoliotheorie sollte sich ein solches Vorgehen sogar negativ auf die (risiko-adjustierten) Renditen auswirken, denn Beschränkungen bewirken per se weniger optimale Portefeuilles. Für erfolgreiches ESG-ausgerichtetes Investieren muss daher ein weiterer, ein neben „E“, „S“ und „G“ vierter Faktor, berücksichtigt werden. Und es spricht viel dafür, dass dieser „technologische Innovation“ heisst. Denn zur Umsetzung und Verbesserung langfristiger ESG-Kriterien kommt neuen Technologien eine zentrale Aufgabe zu. Technologische Innovation ermöglicht ökologische Nachhaltigkeit, die soziale Ausrichtung von Humankapital und langfristige unternehmerische Gewinne. Nicht nur ermöglicht sie immer neue Ansätze zur Lösung ökologischer und sozialer Probleme, sondern sie befähigt Unternehmen auch zur Adaption in einer sich immer schneller verändernden Welt.
Technologische Innovation ist viel enger mit ESG-Kriterien verbunden, als dies viele heutige Anleger erfassen. Innovative Technologien könnten gar der entscheidende Faktor sein, der ESG-Kriterien in der Zukunft zu erfolgreichen Investmentkriterien macht. Mit anderen Worten, eine Filter für Innovationsfähigkeit könnte den so wichtigen Unterschied ausmachen, um mit ESG-Kriterien renditetechnisch erfolgreich und langfristig nachhaltig zu investieren. Daher müssen Anleger bei der Auseinandersetzung mit ESG-Themen auch dem Thema, wie Innovationen gemanagt werden und wie sie in eine nachhaltige Geschäftsstrategie passen, einen wichtigen Platz einräumen. Es ist keine Überraschung, dass die erfolgreichsten Anlagefonds, die nach ESG-Metriken investieren oder solche als wichtigen Teil ihres Auswahlprozesses berücksichtigen, Aktien wie Apple, Amazon, Tesla oder Microsoft als Position halten, aber auch NextEra, Vestas Wind Systems, Osram und TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing). Vielleicht sollte man in der Zukunft von „ESGI“ sprechen?