Von Mathematik und Genderpolitik – Emmy Noether: Wegbereiterin der abstrakten Algebra und der modernen theoretischen Physik
Wer die Geschichte der Mathematik betrachtet, erkennt schnell, dass hier offenbar ausschliesslich geniale Männern gewirkt haben müssen. Ob der „Mathematiker-Fürst“ („Princeps mathematicorum“) Carl Friedrich Gauß oder der Schweizer Leonhard Euler, ob Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz oder David Hilbert, ob Pythagoras, Archimedes, Euklid, Fibonacci oder al-Chwarizmi, in der Riege grosser historischer Mathematik-Figuren finden wir kein einzige Frau. Bis zum 20. Jahrhundert ist die Liste von überlieferten Mathematikerinnen überhaupt sehr überschaubar. Aus der Antike überliefert ist nur Hypatia von Alexandria, von der allerdings keine Werke überliefert sind und die hauptsächlich wegen der spektakulären Umstände ihrer Ermordung in Erinnerung geblieben ist. Die frühe Aufklärungszeit kannte Émilie du Châtelet, die sich als mathematische Expertin der Physik Newtons auszeichnete, Bekanntheit aber eher als Partnerin Voltaires erlangte. Gewisse Ehren erwarb im 19. Jahrhundert Sophie Germain für den Beweis der Fermat’schen Vermutung (heute Satz) für eine bestimmte Gruppe von Primzahlen (die heute so genannten „Sophie-Germain-Primzahlen“), und 1889 erhielt Sofja Kowalewskaja als weltweit erste Frau einen Lehrstuhl für Mathematik. Kowalewskaja ist heute allerdings eher dafür bekannt, dass sich hartnäckig das – wohl falsche – Gerücht hält, es gebe keinen Nobelpreis für Mathematik, weil sie eine Liaison mit Alfred Nobel gehabt und ihn dann wegen eines anderen (Gösta Mittag-Leffler) verlassen habe. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Liste der Mathematikerinnen länger, aber auch daraus ragt kein Name hervor, mit einer einzigen Ausnahme, den ausserhalb der Mathematik (und theoretischen Physik) allerdings auch so gut wie niemand kennt: Emmy Noether. Und dass es bis zum Jahr 2014 dauerte, bis eine Frau die höchste Auszeichnung für Mathematik, die „Fields-Medaille“ zugesprochen erhielt (es handelt sich um die Iranerin Maryam Mirzakhani), gibt nicht weniger zu denken.
Die Suche nach Gründen für diese nahezu komplette Abwesenheit von Frauen auf der Liste grosser Mathematiker gleicht dem Stochern in einem Wespennest, mit der man sich heute nur allzu schnell auf eine Abschussliste manövrieren kann, wie dies beispielsweise Larry Summer, immerhin ehemaliger US-Finanzminister im zweiten Kabinett Bill Clintons, sehr gut weiss. Nach seiner törichten Aussage von einem Frauen möglicherweise fehlenden Gens für wissenschaftliches Talent und angeborenen Unterschieden zwischen Männern und Frauen, wenn es darum geht, Naturwissenschaften an den besten Unis zu praktizieren, war er 2005 gezwungen, von seiner Position als Präsident der renommierten Harvard-Universität zurückzutreten. Denn tatsächlich gibt es keine erstzunehmende akademische Referenz dafür, dass Frauen eine tiefere durchschnittliche mathematische Intelligenz besitzen als Männer, auch wenn es sowohl kognitive Aufgaben gibt, bei denen Männer im Durchschnitt besser abschneiden, als auch solche, bei denen Frauen überlegen sind. Zudem gibt es einige Hinweise dafür, dass die Varianz der Intelligenzverteilung bei Männern breiter ist als bei Frauen, mit anderen Worten, es gibt mehr äusserst dumme und äusserst intelligente Männer als Frauen. Aber auch diese Aussage ist nicht unumstritten. So tritt der Varianz-Unterschied nicht in allen Ländern auf und erscheint auch abhängig vom Mass der gesellschaftlichen Gleichstellung der Frauen. Ein einfacher Blick in die Geschichte der akademischen Einrichtungen gibt einen wesentlich deutlicheren Hinweis darauf, wo die Gründe für die augenfällige Unterrepräsentanz von Frauen in der Mathematik liegen: Bis weit ins 20. Jahrhundert war es Frauen schlicht verboten, an Universitäten Mathematik zu lehren. Unter diesen Umständen zu mathematischem Ruhm und Ehren kommen, war äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Nichtsdestotrotz ragte in der männlich dominierten Zunft der Mathematiker des frühen 20. Jahrhunderts eine Frau heraus, Emmy Noether. Doch auch sie hatte unter den Einschränkungen ihrer Zeit zu leiden. Denn man darf ohne weiteres davon ausgehen, dass wäre Noether ein Mann gewesen, dieser als einer der grössten Mathematiker (und theoretischen Physiker) des 20. Jahrhunderts gelten würde. Ihr Name sollte eigentlich auf einer Stufe mit denen von David Hilbert, Albert Einstein, Erwin Schrödinger oder Werner Heisenberg stehen. Doch hatte Emmy Noether zeit ihres Lebens noch nicht einmal eine feste Anstellung als ordentliche Professorin.
Emmy (Amalie) Noether wurde am 23. März 1882 in Erlangen als Tochter des Mathematikers Max Noether geboren. Der grosse David Hilbert lud sie ab dem Jahr 1909 regelmässig nach Göttingen ein, dem damals führenden mathematischen Zentrum der Welt, und ermutigte sie 1915, dort einen Antrag auf Habilitation zu stellen. Diesem folgten kontroverse Diskussionen in der Fakultät, in der sich viele grundsätzlich gegen eine Habilitation von Frauen aussprachen. Erst Hilberts Autorität und sein Ausspruch „eine Fakultät sei doch keine Badeanstalt“ brachten den erwünschten Erfolg unter den Göttinger Mathematikern. Doch wurde der entsprechende Antrag auf eine Sondergenehmigung (die Habilitation von Frauen war an preußischen Universitäten bis 1919 untersagt) vom zuständigen Minister mit der Begründung abgelehnt, dass „die Zulassung von Frauen zur Habilitation als Privatdozent in akademischen Kreisen nach wie vor erheblichen Bedenken begegnet“. Emmy Noether blieb nichts anderes übrig, als ihre Vorlesungen unter dem Namen Hilberts, als dessen Assistentin, anzukündigen – ohne dafür bezahlt zu werden. Erst als in der frühen Weimarer Republik die Habilitationsordnung geändert wurde, so dass auch Frauen eine mathematische Lehrbefugnis erhalten konnten, habilitierte sich Emmy Noether 1919 als erste Frau in Deutschland in Mathematik (der Anstoss dazu kam allerdings nicht von den Göttinger Mathematikern, sondern von Albert Einstein, der sie durch ihre Arbeiten zu Fragen der Relativitätstheorie kennen- und schätzen gelernt hatte) und erhielt die Lehrbefugnis – allerdings bei immer noch sehr geringer Bezahlung. Eine volle Professur wurde ihr vorenthalten, und selbst als international berühmte und verdiente Mathematikerin wurde ihre Beförderung in die Göttingen Gesellschaft der Wissenschaften 1930 abgelehnt.
Emmy Noether gilt als Begründerin der modernen abstrakten Algebra („Mutter der modernen Algebra“), eine der bedeutendsten Innovationen der Mathematik des 20. Jahrhunderts. Mitte der 1920er Jahre etablierte sich um sie eine eigene Schule, in der sich eine Reihe von hochbegabten Studenten aus aller Welt um sie scharten, die so genannten „Noether-Knaben“ (auch wenn unter ihren Doktoranden zwei Frauen waren). Viele ihrer akademischen Schüler wurden ihrerseits bedeutende Mathematiker (u. a. Grete Hermann, deren Rolle in der mathematischen Formulierung der Quantenmechanik von Historikern erst kürzlich erkannt wurde) und spielten eine bedeutende Rolle bei der Durchsetzung abstrakter algebraischer Methoden auf verschiedenen Gebiet der Mathematik. Nach Emmy Noether sind heute zahlreiche mathematische Strukturen und Sätze benannt (Noetherscher Ring, Noethersche Ordnung, Noetherscher Raum, Noetherscher Modul, u.a.).
Doch ihren wohl bekanntesten Beitrag leistete Emmy Noether in der theoretischen Physik mit ihrem Aufsatz Invariante Variationsprobleme aus dem Jahr 1918. Das darin formulierte und heute so genannte „Noether-Theorem“ entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Grundlagen der modernen Physik. Auslöser ihrer Arbeit war ein Problem, das Hilbert in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie wähnte: Das Prinzip der (lokalen) Energieerhaltung schien darin verletzt, so Hilbert. Noether löste die scheinbare Unvereinbarkeit der Einstein‘schen Theorie mit diesem Grundprinzip der Physik auf sehr elegante Weise auf und konnte dabei einen viel allgemeineren Zusammenhang entwickeln. Einstein war derart beindruckt von ihrer Arbeit, dass er schrieb: „Gestern erhielt ich von Fr. Noether eine sehr interessante Arbeit über Invariantenbildung. Es imponiert mir, dass man die Dinge von so allgemeinem Standpunkt übersehen kann. Es hätte den Göttinger Feldgrauen nichts geschadet, wenn sie zu Frl. Noether in die Schule geschickt worden wären!“
Das Noether Theorem besagt, dass jeder kontinuierlichen (mathematisch genauer: differenzierbaren) Symmetrie eines physikalischen Systems eine Erhaltungsgröße entspricht, und umgekehrt. Was bedeutet dies konkret? Mit „Symmetrie“ ist hier eine Transformation gemeint, die das Verhalten eines physikalischen Systems nicht ändert. So macht es beispielsweise keinen Unterschied, ob man ein Experiment heute, morgen oder in einem Jahr (oder in einer Milliarden Jahren) durchführt. Physiker sprechen auch von der „Homogenität der Zeit“. Analog dazu gibt es die „Homogenität des Raums“: Wo ich ein Experiment ausführe, spielt ebenso keine Rolle. Das Ergebnis sollte (bei identischen Randbedingungen, d.h. keine verschieden wirkende äusseren Kräfte) das gleiche sein. Das mag schnell einleuchten, aber die Konsequenzen daraus sind alles andere als trivial. Denn aus diesen Invarianzen ergeben sich direkt physikalische Erhaltungsgrössen. Der Homogenität der Zeit entspricht das wichtige physikalische Prinzip der Energieerhaltung: In jedem physikalischen System bleibt die Gesamtenergie erhalten. Analog entspricht der Homogenität des Raumes die Erhaltung des Impulses. Tatsächlich gilt ganz allgemein, dass immer dann, wenn sich in einem mathematischen Naturgesetz eine Symmetrie finden lässt, es eine dazu gehörige Erhaltungsgrösse geben muss. Ein erstaunlicher Zusammenhang, für die es die geniale Einsicht Emmy Noethers bedurfte (der grösste Mathematiker und der grösste Physiker des 20. Jahrhunderts hatten sich an diesem Problem die Zähne ausgebissen). Besonders in den modernen Quantenfeldtheorien, wo sehr viel abstraktere Symmetrien als räumliche oder zeitliche Homogenität bedeutende Rollen spielen (so genannte „Eichsymmetrien“, die beispielsweise der Erhaltung der elektrischen Ladung entsprechen), ergeben sich aus dem Noether-Theorem wichtige Hinweise auf die fundamentalen Eigenschaften der physikalischen Strukturen in unserer Welt, sowie nützliche Rechenmethoden und Hinweise für mögliche experimentelle Überprüfungen physikalischer Theorien.
Ihre mathematischen Eisichten machen Emmy Noether zu einem der wenigen Menschen überhaupt (wahrscheinlich der erste seit Isaac Newton), deren Arbeiten sowohl für die Physik als auch für die reine Mathematik derart bedeutend waren, dass sie wohl beide Auszeichnungen, den Physik-Nobelpreis und die Fields-Medaille der Mathematik verdient hätten (die Fields Medaille gibt es erst seit 1936 und hat eine Altersgrenze von 40 Jahren (was David Hilbert ausschliesst, Noether war bei Publikation ihres bekanntesten Aufsatzes 36), den Nobelpreis seit 1901).
Es ist zuletzt aber auch Emmy Noether zu verdanken, dass Frauen heute einen besseren Zugang zu mathematischer Ausbildung und akademischen Positionen haben. In den USA gibt es heute beispielsweise die „Noether Lectures“, eine jährliche Ehrung der Association for Woman in Mathematics für Frauen, die fundamentale und nachhaltige Beiträge zur Mathematik geleistet haben. Die Liste verdienter Mathematikerinnen hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ein rasantes Wachstum hingelegt, was Aussagen eines Larry Summers als eine unbekömmliche Mischung aus Arroganz und Ignoranz entlarvt. Man muss nicht Feministin oder Feminist sein um zu mutmassen, dass unsere Nachkommen in 100 Jahren die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht als den Zeitpunkt erkennen werden, an dem die Menschheit endlich einen lange brachgelegenen Teil ihres mathematischen und intellektuellen Kapitals freigesetzt hat. Emmy Noether könnte sich also auch in dieser Hinsicht letztlich als eine Pionierin erweisen.