Das Jahr 2015 kommt mit zahlreichen Jubiläen, vom 200. Jahrestag des Wiener Kongresses, 70 Jahre Ende des 2. Weltkrieges, bis hin zum 25. Jahrestag der Falls des Eisernen Vorhangs. Die Schweiz feiert die Schachten von Morgarten, 1315, und Marignano, 1515 (was hierzulande teils merkwürdige historische Reflexe auslöst), und die Amerikaner begehen den 150. Jahrestag der Beendigung ihres Bürgerkrieges. So feiert jedes Land und jeder Kontinent seine eigenen grossen und kleinen Jubiläen. Die Auswirkung eines Ereignisses vor 200 Jahren jedoch lassen sich weltweit in nahezu jeder regionalen und nationalen Geschichtsschreibung wiederfinden. Es handelt sich um eines der frühesten historischen Ereignisse globalen Charakters. Da gesellschaftliche Ereignisse damals noch kaum globale Dimensionen besassen, kommen für ein solches nur geologische Geschehnisse in Frage. Am 10. April 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Es war die verheerendste Vulkaneruption der letzten 10‘000 Jahre, in den Worten der Fachsprache der Katastrophen, ein „superkolossales Ereignis“.

Die dabei freigesetzte Energie entsprach der von sechseinhalb Millionen Hiroshima-Bomben. Eine unvorstellbare Menge an Gestein, im Volumen ca. drei Mal so gross wie die Wassermenge des Bodensees, wurde in die Atmosphäre geschleudert, der daraufhin einsetzende Ascheregen bedeckte eine Fläche annähernd so gross wie Westeuropa, und ein Mix aus Gasen und feinsten Partikel breitete sich in der gesamten oberen Erdatmosphäre aus. Dies hatte dramatische Auswirkungen auf das globale Klima: rotbrauner und gelber Schnee, sinnflutartiger Regen mit Überschwemmungen und Minusgrade im Juli in Europa, wo 1816 mit Missernten und als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte, Kaltlufteinbrüche mit Frost und Schnee im Hochsommer in Nordamerika, verheerende Hochwassern in China und ausbleibender Monsunregen in Indien. Die globale Klimaveränderung führte zur letzten grossen Hungerperiode in Westeuropa (mit vermutlich Hunderttausenden von Toten), schweren Ernteeinbussen in den USA (dies sollte der Auslöser des ersten grossen Siedlertrecks in den Mittleren Westen sein) und einer von Indien ausgehenden globalen Choleraepidemie, die im 19. Jahrhundert Millionen von Menschen tötete. .

Den Zusammenhang zwischen Atomsphärenzusammensetzung und globalem Klima kannten die Wissenschaftler der damaligen Zeit noch nicht. So konnten die Menschen den Vulkanausbruch auf der anderen Seite der Erdkugel als wahren Grund ihrer plötzlichen Not nicht erahnten. Einige führten den kalten Sommer auf Sonnenflecken zurück oder auf das Vordringen arktischen Eises im Nordatlantik. Am populärsten aber war die Einschätzung, dass es sich hier um ein göttliches Strafgericht handelte. Offenbar hatten zu viele Menschen kein gottgefälliges Leben geführt.

Das muntere Ratespiel der damaligen Zeit erinnert an gewisse Teile der heutigen Klimadiskussion, suchen doch diejenigen, die immer noch keinen Zusammenhang zwischen menschen-verursachter industrieller CO2-Emission und der Erwärmung unserer globalen Biosphäre erkennen wollen, ebenfalls nach allerlei, teils nicht weniger absonderlichen Gründen, um steigende Temperaturen zu erklären: ein „in den 80er Jahren besonders aktive Phase der Sonne“, „natürliche Zyklen in der Aufnahme und Abgabe von Kohlendioxid in den Weltmeeren“, die Veränderung des irdischen Magnetfeldes, usw. Gerade wieder in diesen Tagen, in denen der US-Bundesstaat Kalifornien unter der schwersten Dürre seit Aufzeichnung von Wetterdaten leidet, lässt sich dieses Argumentationsmuster verfolgen. Und so mancher Protagonist würde vielleicht auch gerne den Herrgott als Verantwortlichen heranziehen, fürchtet dann aber wohl doch (und zurecht) um den vollendigen Verlust seiner Glaubwürdigkeit.

Dabei zeigt gerade der sich nun jährende Vulkanausbruch auf der anderen Seite der Welt besonders deutlich, dass unser Ökosystem durchaus dramatisch und direkt auf Veränderung in der Atmosphäre (ob mensch-gemacht oder aufgrund „natürlichen“ Geschehens) reagiert. Dies soll natürlich nicht heissen, dass wir die genauen Kausalbeziehungen zwischen Atmosphärenzusammensetzung und Klima kennen. Weit gefehlt. Es heisst allerdings, dass wir uns vom Gedanken verabschieden sollten, dass wir Menschen in unserem Handeln kausal unverbunden mit dem Rest der Natur sind, ein Gedanke, der den so genannten „Klimaskeptikern“ (schon das Wort stellt eine logische Achterbahnfahrt dar) derart sakrosankt erscheint. Wie die Ereignisse vor 200 Jahren zeigen, wirkt die Natur auf uns und unsere Lebensbedingungen. Was dann ist am Gedanken so fernliegend, dass zugleich auch wir mit unserem Handeln auf die Natur wirken? Tatsächlich weiss die moderne Biologie, dass alle Ökosysteme eine komplexe Dynamik zwischen sämtlichen ihrer Bestandteile aufweisen. Und das grösste uns bekannte Ökosystem ist unser Planet, mitsamt all seinen Pflanzen, Tieren und anderen Bestandteilen. Wir Menschen sind integraler und kausal wirkender Bestandteil darin.

So einleuchtend, ja nahezu banal, diese Erkenntnis den meisten von uns auch erscheinen mag, so liegt sie doch konträr zu grossen Teilen der abendländischen Philosophie, der Religion und sogar der ursprünglichen metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaft. Könnte darin (neben handfesten politischen Interessen) vielleicht ein tieferer psychologischer Grund für die „Klimaskepsis“ so mancher Menschen liegen? Dies soll näher erläutert werden: Seit den vorsokratischen Ursprüngen des (westlichen) philosophischen Denkens geht es den „Liebhabern der Weisheit“ um die Frage nach den letzten Gründen und Zusammenhängen, die hinter den Phänomenen der Natur liegen. Sie wollen wissen, was den Dingen der Welt zugrunde liegt. Das unveränderliche, zeitlose, umfassende Wesen der Dinge bezeichnen sie mit dem philosophischen Terminus „Sein“ (griech. “είναι”, “einai”). Für das darin Selbstständige, dasjenige, das unabhängig von allen Umständen und den veränderlichen Eigenschaften allen Seienden zugrunde liegt, verwenden die Philosophen den Begriff „Substanz“ (vom lat. „substrahere“: „abziehen“. „Substanz“ ist also das, was übrigbleibt, wenn man alles andere abzieht). Mit der Vorstellung einer Substanz oder mehreren Substanzen, die allem Seienden sowie den Gegenständen unserer Erfahrung zugrunde liegen und nur aus sich heraus und unabhängig von allem anderen existieren, entsteht das Konzept eines strikten Dualismus, einer Trennung in zwei Sphären zwischen etwas, das sich verändert und in seinem Wesen abhängig von anderen Dingen ist (Gegenstände unserer Erfahrung), und den immer gleichen und unabhängigen – der philosophische Terminus dafür ist „absoluten“ – Substanzen. Die meisten Religionen haben diese Trennung übernommen, nur dass sie die Substanz, den Wesensgrund allen Seins, in ein Konzept von Gott hineinlegen. Und zunächst machte auch die moderne Naturwissenschaft diese Trennung, ja sie ist ein wesenskonstituierender Grund ihrer. Am klarsten brachte dies wohl ihre „Vaterfigur“ Galileo Galilei zu Ausdruck, in dem er unterschied zwischen demjenigen in der Welt, das absolut, objektiv, unveränderlich (mit einem Wort „substantiell“) gegeben ist, und demjenigen, das uns relativ, subjektiv und wechselhaft (mit einem Wort „sinnlich“) gegeben ist. Dieses dualistische Denken wurde schliesslich zum metaphysischen Denkgebäude der klassischen Physik. Sie beschreibt die Gesetze von unveränderliche Substanzen mit den von uns Menschen und unserer subjektiven geistigen Wahrnehmung unabhängigen Mechanismen, nach denen diese miteinander in Wechselwirkung treten.

Dieses „klassische“ Denken liegt zuletzt auch der Auffassung einer von uns unabhängig existierenden und funktionierenden Welt zugrunde. Ist aber die Welt von uns unabhängig, wie können wir sie dann durch unser mondänes Handeln, z.B. durch das Verbrennen von Kohlenwasserstoffverbindungen, zugrunde richten? In religiöser (zugegeben extremer) Formulierung: „Gottes Schöpfung ist zu erhaben und absolut, als dass wir Menschen sie zerstören könnten“. Dies erklärt auch die von Bezügen auf göttliche Missstimmungen oder extraterrestrische Kausalitäten geprägten Reaktionen auf die verheerenden Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs vor 200 Jahren.

Nun hat die moderne Physik bereits vor 100 Jahren, als sie sich aufmachte, die Mechanismen auf der Ebene der Atome zu untersuchen, (gezwungenermassen) begonnen, sich von einem substantiellen Weltbild zu entfernen (Kenner der indischen Philosophie werden hier anmerken, dass die Mādhyamaka-Philosophie des Nāgārjuna dies bereits vor fast 2000 Jahren gemacht hat). Die Quantenmechanik lehrte die Physiker, dass im Mikrokosmus nicht die vermuteten unveränderlichen Atome, aus denen alles Materielle zusammengesetzt und erklärt werden kann, das Geschehen beherrschen, sondern vielmehr, dass sich mit zunehmend genauer Analyse der Mikrostrukturen jegliche unabhängige Substanz auflöst. Es kam also ganz anders als erwartet: Gemäss der Quantentheorie lassen sich Mikroteilchen gar nicht mehr isoliert voneinander betrachten. Der klassische Begriff der „Realität“ in dem Sinne, dass die Dinge stets klare und von der Umgebung unabhängige Eigenschaften haben, findet in der Quantenwelt keine Verwendung mehr. In ihr besitzen Objekte keine eigenständige Form des Seins mehr, denn indem sie ihre Form erst durch Wechselwirkung mit der Umgebung erhalten, besitzen sie nur noch eine kontextuell definierte Existenz. Ein „Teilchen“ ist also kein kleines bzw. kleinstes Stück Materie, wie es unsere anschauliche Vorstellung sowie die klassischen Physiker noch portraitiert, sondern vielmehr eine Wolke aus Feldern, Wechselwirkungen und anderen Teilchen, die allesamt einander bedingen und nicht voneinander trennbar sind.

Die klassische metaphysische Vorstellung einer unabhängigen Substanz erweist sich in der modernen Physik also als unzutreffend. Analog kennt die biologische Disziplin der Ökologie, welche die Beziehungen der Lebewesen untereinander und mit ihrer Umwelt erforscht, keine unabhängigen und voneinander trennbaren Essenzen in einem Biosystem. So sind wir Menschen Teil eines Systems, in dem wir wirken und welches auf uns wirkt. Die alte metaphysische Trennung zweier verschiedener Sphären, einer niederen Sinnessphäre, in der wir leben und erleben und einer höheren Substanzsphäre, in denen sich die Dinge verhalten, wie sie wirklich und absolut sind, gehört auf den Müllhaufen der Geistesgeschichte. Doch wie stark ihre Wirkung nach wie vor ist, erkennen wir nicht zuletzt in der vehementen Ablehnungen der Möglichkeit menschengemachter Klimaveränderungen bei so manchem unserer Zeitgenossen. Dass wir Menschen Bestandteile eines äusserst komplexen und störungsempfindlichen Gesamtsystems namens „Ökosystem Erde“ sind, in dem jeder Teil, also auch wir Menschen, auf den anderen wirkt, deckt sich nun einmal nicht mit der Vorstellung einer Trennung zwischen unserem alltäglichem Tun und einer wie auch immer gearteten davon unabhängigen Substanzordnung. Die Besinnung auf eine 200 Jahre zurückliegende Katastrophe und ihre Auswirkungen helfen vielleicht, uns diese Zusammenhänge vor Augen zu führen.

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