Auf der internationalen politischen Bühne entfaltet sich in diesen Wochen – je nach Betrachtungsweise – ein Drama, eine Komödie oder eine Tragödie. Ein Land, das nach vielen Jahren korrupter Vetternwirtschaft seiner Führung vor der Pleite stand und zuletzt nach umfangreichen Versprechungen und Verpflichtungen Hunderte von Milliarden Euro an öffentlichen Geldern von seinen europäischen Partner erhalten hat, will nun nichts mehr von vergangenen Abmachungen wissen und stellt sich als Opfer internationaler – oder je nach Leseart global-kapitalistischer – Verschwörungen dar. Die (nicht-griechische) Öffentlichkeit ist entsetzt über so viel Unverfrorenheit und Selbstgerechtigkeit, die zudem mit einem kulthaften und ego-geschwängerten Auftreten seiner neu gewählten Protagonisten gepaart ist. Das politische Establishment ist ratlos. Anscheinend reichen heute schon fehlende Krawatte und die Darstellung mehr oder weniger abstruser Finanz- und Wirtschaftstheorien, um als gefeierter Visionär bzw. Revolutions- und Hoffnungsträger daherzukommen.
Wer in den letzten Tagen den hinteren Teil einer (guten) Tageszeitung gelesen hat, stiess dort auf eine Meldung aus der Wissenschaft, die bei weiterer Recherche und näherer Betrachtung einige interessante Ähnlichkeiten zum Griechenland-Geschehen besitzt. Mit grossem Pompös wurde (zu) viel versprochen, es geht um (sehr) viel Geld, und das Ego der beteiligten Protagonisten ist weit grösser als der Realismus- Gehalt ihrer Behauptungen. Es geht um das „Human Brain Project (HBP)“, welches vor zwei Jahren zu einem von zwei milliardenschweren EU-Forschungsflaggschiffen gewählt wurde. Erinnern wir uns an die öffentliche Botschaft, mit der dieses Projekt insbesondere von seinem umstrittenen Projektkoordinator Henry Markram von der Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL) verbunden wurde: Supercomputer und neue Datenbanken sowie eigens dafür entwickelte Softwarewerkzeuge sollten es ermöglichen, das menschliche Gehirn zu begreifen. Das ultimative Ziel: der Aufbau einer Computersimulation des kompletten menschlichen Gehirns, von den molekularbiologischen Bausteinen der Zellen bis zur Erfassung komplexen menschlichen Verhaltens. Damit sollte es möglich werden, in den zehn Jahren, während denen das Projekt läuft, Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer besser zu verstehen und schliesslich sogar zu heilen.
Grossspurige Heilsversprechungen finden in der Forschergemeinschaft selten uneingeschränkte Zustimmung. So kam bereits damals zahlreichen Wissenschaftlern das ausgesprochene Ziel als unrealistisch und unerreichbar vor, und es mangelte nicht an entsprechender Kritik. Für manche war es gar selbstherrliche „Spinnerei“. Auch der gerade für Wissenschaftler kaum hinnehmbare hierarchische und autoritäre Führungsstil von Henry Markram wurde beanstandet. Nachdem bereits im Sommer 2014 ein offener Protestbrief von zunächst 150 teils sehr renommierten Neurowissenschaftlern an die EU-Kommission einen in der Wissenschaft beispiellosen Eklat auslöste – Anlass war die als eigennützig angesehene Entscheidung des Projektgremiums, die kognitiven Neurowissenschaften aus dem Kernprojekt auszulagern und sich stattdessen stärker auf den Aufbau einer Informations- und Kommunikationsplattform zu konzentrieren – wird nun sozusagen die Notbremse gezogen. Das milliardenschwere Forschungsflaggschiff steht vor einem peinlichen (und teuren) Eklat und massiven Umbrüchen. Die dreiköpfige Koordinationsgruppe um Markram soll durch eine Riege der 22 Direktoriumsmitglieder stärker kontrolliert oder gar ersetzt werden. Zudem verliert die EPFL, an der Markram forscht, voraussichtlich ihre zentrale Funktion als verantwortliche Institution des Projekts. Dabei ist bezeichnenderweise viel von „Demokratisierung“ des Projektes die Rede. Fernziel soll die Schaffung einer Forschungsstruktur für die europäischen Neurowissenschaften nach dem Vorbild des CERN in Genf sein, eines seit Jahrzehnten erfolgreichen Grossprojektes der Elementarteilchenphysik.
Das Human Brain Project ist ein visionäres und ambitioniertes Projekt, welches seine Kraft nicht zuletzt der intellektuellen Energie und dem Charismas seines Initiators Henry Markram verdankt. Doch zugleich ist es ein Lehrbeispiel dafür, was im modernen Wissenschaftsbetrieb problematisch ist. Ambitionierte Forschung wird immer abhängiger von den finanziellen Rahmenbedingungen. Wissenschaftler verbringen bereits einen grossen Teil ihrer Zeit damit, Forschungsanträge an Behörden und Geldgeber zu schreiben. So gerät der wissenschaftliche Erfolg eines Forschers in immer grössere Abhängigkeit von seinem Geschick in der Aussendarstellung. Im Milliarden-Poker um Fördergelder haben charismatische Figuren wie Henry Markram, oft mit ausgeprägtem Ego und Vermögen zur Selbstinszenierung ausgestattet, die besseren Karten.
Wer allerdings denkt, dass das wissenschaftliche Geschäft immer nach rein sachlichen und objektiven Kriterien funktioniert oder zumindest in der Vergangenheit funktioniert hat, kennt sich weder in der Wissenschaft-Historie aus noch hat sich vermutlich selber je länger im Wissenschaftsbetrieb bewegt. Denn wie jeder Bereich des menschlichen Lebens ist auch dieser voll von Neigungen und Abneigungen, Egos und Allüren, Ehrgeizen und Karrieresehnsüchten seiner Protagonisten. Wir kennen und ereifern uns zuweilen ob der Selbstdarstellungssucht von Politikern und verkennen dabei, dass (gerade) auch viele berühmte Wissenschaftler diese unangenehmen Eigenschaften besitzen. So sind schon die Biographien der Väter der Wissenschaft, Galilei und Newton, voll von Eifersüchteleien, Selbsterhöhungen und Kollegenerniedrigungen. Newton verbrachter über viele Jahre einen grossen Teil seiner Energie damit, hässliche Streitigkeiten mit seinen Kollegen zu führen (am bekanntesten sind seine diversen Streits mit Robert Hooke und der Plagiatskampf um die Entwicklung der Infinitesimalrechnung mit Leibniz). Kritik an seinen Veröffentlichungen konnte Newton schwer ertragen. Und als er zum „Warden der Royal Mint“ und später zum „Master of the Mint“ (aus heutiger Sicht Finanzminister) ernannt wurde, was allgemein als lukrativ galt und ihn zuletzt sehr reich werden liess und ihn zu breiter gesellschaftlicher Anerkennung verhalf, war seine Karriere als schöpferischer Wissenschaftler faktisch beendet. Galilei wiederum hatte ein eher angespanntes Verhältnis zu seinem nicht minder genialen Zeitgenossen Johannes Kepler, mit dem er zwar öfter Briefe wechselte (ihm allerdings nur einmal ausführlich antwortete), jedoch nicht viel von dessen „fernwirkenden Kräften“ und „esoterischen Ellipsenbahnen“ hielt, was er – zur Verzweiflung des eher sensiblen Keplers -auch mit Schärfe öffentlich zum Ausdruck brachte (und in beiden Unrecht zuletzt behielt).
Politiker und Wissenschaftler sollten wissen: Wissenschaftliche Visionen sind wichtig, um die Grenzen dessen, was man im Moment für möglich hält, immer wieder zu verschieben. Doch zugleich tragen Wissenschaftler Verantwortung, gesellschaftliche Ressourcen und öffentliche Gelder verantwortungsvoll und effizient einzusetzen. Dabei sollte klar sein: Visionen und gute Vermarktung von Ideen alleine reichen vielleicht, um öffentliche Gelder zu ergattern (oder im Fall Griechenlands: Wahlen zu gewinnen), aber der Weg zu echten wissenschaftlichen Erfolgen (in der Politik: zu echten strukturellen Verbesserungen) ist wesentlich länger.