Verschränkung – Von einem bizarren und lange unverstandenen Quantenphänomen zu einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts
Im Jahr 1981 hielt der berühmte theoretische Physiker Richard Feynman eine vielbeachtete Rede, in der er einen Gedanken entwickelte, der Physiker und Ingenieure bis heute in Atem hält. Er entwarf die Vision einer ganz neuen Art von Computer, der heutige Hochleistungs-Computer aussehen lassen würde wie einen Commodore 64 aus den frühen 1980er Jahren: ein „Quantencomputer“. Grundlage eines solchen Computers ist das wohl ominöseste Phänomene in der Quantenwelt, das bereits den Gründungsvätern der Quantentheorie viel Kopfzerbrechen bereitete: die Verschränkung von Quantenteilchen.
Damals nur ein verwegener Gedanke eines einzelnen visionär denkenden Physikers treibt die Idee Feynmans heute eine ganze Schar von Physikern und Ingenieuren an, und mit ihnen milliardenschwere Investoren, die bereits die nächste technologische Revolution mitsamt beträchtlichem Gewinnpotential wittern. Sie alle wissen: Quantencomputer, einmal aus den Kinderschuhen erwachsen, werden ein neues Zeitalter in der Datenverarbeitung einleiten. Sie könnten das 21. Jahrhundert ähnlich prägen, wie die Entwicklung digitaler Schaltkreise das 20. Jahrhundert. Aber es ist nicht nur der Quantencomputer, der seit einigen Jahren die Herzen der Physiker höher schlagen lässt. Seit Beginn der 2000er-Jahre zeichnet sich eine breite neue Quantenrevolution ab. Sie hat auch bereits einen Namen: Quantum 2.0.
Ohne Zweifel ist die Quantentheorie die einflussreichste Theorie des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche auf Quantenphysik beruhende Technologien sind nicht mehr aus unserem heutigen Alltag wegzudenken: Elektronische Bauteile und integrierte Schaltungen auf Halbleiterchips, Laser, Elektronenmikroskop, LED-Licht, spezielle Festkörper-Eigenschaften wie die Supraleitung, besondere chemische Verbindungen oder auch die Magnetresonanztomografie. Und nicht zuletzt beruhen die Nukleartechnologien auf den Gesetzen in der Quantenwelt. So war die allererste technische Anwendung der Quantentheorie die furchtbarste Waffe, die jemals militärisch eingesetzt wurde: die Atombombe.
Alle heutigen Quantentechnologien besitzen eine Gemeinsamkeit: Sie beruhen auf den Eigenschaften großer Ensembles von Quantenteilchen und der Möglichkeiten ihrer Kontrolle: der Steuerung des Flusses vieler Elektronen, der gezielten Anregung einer großen Anzahl von Photonen, der Messung des Kernspins massenhafter Atomen. Beispiele sind der Tunneleffekt beim Transistor, die Kohärenz von Photonen beim Laser, die Spin-Eigenschafen vieler Atome bei der Magnetresonanztomographie, die Bose-Einstein Kondensation oder die Quantensprünge in einer Atomuhr. An die damit verbundenen bizarren Quanteneffekte wie Quantentunneln, dem wie durch eine unsichtbare Hand gesteuerten Gleichtakt vieler Milliarden von Teilchen oder der Wellencharakter von Materie haben sich die Physiker längst gewöhnt. Denn das statistische Verhalten eines Ensembles von vielen Quantenteilchen lässt sich mit der seit nun 90 Jahre etablierten Quantentheorie (der Schrödinger-Gleichung) sehr gut erfassen, und die darin ablaufenden Prozesse sind noch einigermaßen anschaulich beschreibbar.
Bei der sich abzeichnenden zweiten Generation von Quantentechnologien steht dagegen etwas ganz Neues im Vordergrund: die gezielte Präparation, Kontrolle, Manipulation und nachfolgende Auslese der Zustände einzelner Quantenteilchen und ihre Wechselwirkungen miteinander. Hier rückt mit der Verschränkung genau jene Eigenschaft der Quantenwelt ins Zentrum, die die frühen Quantentheoretiker um Einstein Bohr und Co so sehr verwirrte und deren fundamentale Bedeutung die Physiker erst viele Jahre nach der ersten Formulierung der Quantentheorie vollständig erkannten. Sie beschreibt, wie sich eine beschränkte Anzahl von Quantenteilchen in einem Zustand befinden kann, in denen diese sich so verhalten, als wären sie mit einer Geisterhand aneinandergekoppelt, auch wenn sie räumlich weit voneinander entfernt sind. Jedes Teilchen „weiss“ dann sozusagen, was die anderen gerade treiben. Sie gehören allesamt einer gemeinsamen physikalischen Entität (die Physiker sagen: einer einzigen „Wellenfunktion“) an. Zwischen den Teilchen besteht dann eine Korrelation, die eine instantane (d.h. ohne jegliche Zeitverzögerung) Vorhersage darüber erlaubt, welcher Zustand für ein Teilchen realisiert ist, wenn man gerade ein anderes gemessen hat, auch dann, wenn viele Kilometer zwischen ihnen liegen. Es ist so, als wenn jemand in Deutschland instantan spüren würde, was seinem Zwilling in Australien gerade passiert. Es sollte fast 50 Jahre dauern, bis die Physiker dieses merkwürdige Phänomen der Quantenwelt so richtig verstanden hatten, und noch heute kommt es vielen von ihnen als Magie vor. Nicht weniger magisch erscheinen die mit ihm möglich werdenden Technologien.
So sind in den letzten Jahren weltweit zahlreiche Forschungszentrum für neue Quantentechnologien entstanden, und zahlreiche staatliche Förderprojekte wurden ausgerufen mit Zuwendungen in Milliardenhöhe. Beispiele sind das kanadische Institute for Quantum Computing mit einer Anlauffinanzierung von rund 300 Millionen Dollar, das Centre for Quantum Technologies in Singapur, das Joint Quantum Institute in den USA, das Engineering and Physical Sciences Research Council in Großbritannien, und das QuTech in den Niederlanden. Und auch die Europäer sind unterdessen aktiv geworden: Im Jahr 2016 unterzeichneten 3.400 Wissenschaftler das Quantum Manifesto, einen Aufruf zur Förderung der Koordination zwischen Hochschulen und Industrie zwecks der Erforschung und Entwicklung von neuen Quantentechnologien in Europa. Darin heisst es:
„Europa braucht jetzt strategische Investition, um die zweite Quantenrevolution anzuführen. Auf seiner wissenschaftlichen Exzellenz aufbauend hat Europa die Gelegenheit, eine wettbewerbsfähige Industrie für langfristigen Wohlstand und Sicherheit zu schaffen.“
Diesen Ansatz hat schliesslich auch die Politik aufgegriffen: So beschloss die EU-Kommission, ein Flagship-Projekt für die Forschung an Quantentechnologien in den kommenden zehn Jahren mit einer Milliarde Euro zu fördern. Das ist eine Menge Geld für die chronisch schwachen Haushalte der europäischen Länder. Das Projekt konzentriert sich auf vier Quantentechnologien: Kommunikation, Computing, Sensoren und Simulationen. Konkrete neue Technologien, die daraus entstehen könnten, sind:
- Sichere Kommunikation durch die Quantenkryptologie: Die Eigenschaften verschränkter Quantenteilchen ermöglichen es, absolut sichere Verschlüsselungen zu produzieren.
- Quanteninformationsübertragung: Dies umfasst die Möglichkeit, Quanteninformation (Qubits) über große räumliche Distanzen zu transportieren, was oft als „Quantenteleportation“ bezeichnet wird. Dies könnte den Weg zu einem Quanteninternet ebnen.
- Hochempfindliche Quantensensoren: Verschränkte Quantenzustände erlauben vielfach genauere Messungen diverser physikalischer Variablen wie Zeit, Gravitationskräfte oder elektromagnetische Felder. Grundlage dafür ist die extreme Empfindlichkeit der Verschränkung gegenüber äußeren Einwirkungen.
- Nachbau biologischer Systeme, etwa bei der Herstellung eines künstlichen Blattes zur Energieumwandlung durch Photosynthese, bei der Quanteneffekte eine bedeutende Rolle spielen
- Und schliesslich das ultimative Ziel: Eine neue Ära des Rechnens mit der Entwicklung eines Quantencomputers.
Auch die Industrie ist längst auf die neuen Möglichkeiten der Quantentechnologien aufmerksam geworden. Firmen wie IBM, Google und Microsoft erkennen in ihnen neue Milliardengeschäfte und investieren massiv in die Forschung darüber, wie sich verschränkte Quantenzustände technologisch ausnutzen lassen. Beispiele dafür sind Partnerschaften von Google mit zahlreichen akademischen Forschungsgruppen, das kanadische Unternehmen D-Wave Systems Quantum Computing und die Investitionen vieler britischer Unternehmen im UK National Quantum Technologies Programme.
Regierung und Unternehmen haben längst verstanden: Die Quantentechnologien 2.0 sind Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Das Verständnis des bizarren und lange unverstanden gebliebenen Phänomens der Verschränkung eröffnet uns zuletzt also einen Blick in eine scheinbar weit entfernte technologische Zukunft, die uns mit Sicherheit aber schon bald bevorsteht.