Trump und die Wissenschaften – ein Konflikt der Grundsätze
Im letzten Jahr hat die Pan-Amerikanischen Gesundheitsorganisation die Masern als fünfte durch Impfungen vermeidbare Erkrankung (neben Pocken, Kinderlähmung, Röteln und die entsprechenden Erkrankungen des Embryos) als auf dem amerikanischen Kontinent offiziell ausgerottet erklärt. Dies sei das Ergebnis umfassender Impfaktionen gegen Masern, Röteln und Mumps, die in Nord- und Südamerika sowie der Karibik seit 22 Jahren durchgeführt worden seien, hiess es in der Erklärung. Ein ausserordentlicher Erfolg der modernen Medizin, sollte man meinen. Bevor umfassende Impfungen im Jahr 1980 begannen, starben weltweit fast 2,6 Millionen Menschen pro Jahr an Masern. Auf dem amerikanischen Kontinent gab es während der 1970er Jahren mehr als 100‘000 Tote, die auf Masern zurückgingen. Viele weitere Menschen trugen schwere langfristige Gesundheitsschäden davon. Dennoch existiert bis heute in einigen Teilen der amerikanischen (und deutschen) Bevölkerung eine ausgeprägte Impfskepsis, die in unzähligen impfkritischen Internet mit sehr persönlichen und emotionalen Berichten angefeuert wird (in den allermeisten Fällen handelt es sich bei diesen Darstellungen nicht um anerkannte Impfschäden, welche tatsächlich nur sehr selten auftreten, sondern um irgendwelche Pseudo-Zusammenhänge).
Geht es nach dem neuen US-Präsidenten Donald Trump, so soll sich diese Skepsis noch weiter verstärken. Dazu beabsichtigt er, den erklärten Impf-Skeptiker Robert F. Kennedy Jr. zum Chairman einer Kommission zur „Impfsicherheit und wissenschaftlicher Integrität“ zu berufen. Kennedy hat in der Vergangenheit in zahlreichen Publikationen, Äusserungen und sogar in einem eigenen Buch immer wieder einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus propagiert, und dies, obwohl ein solcher in unzähligen wissenschaftlichen Studien nie aufgezeigt werden konnte.
Die eine Studie, auf die sich Kennedy mit seinen Ausführungen meint beziehen zu können, stammt aus dem Jahr 1998. Darin stellte der britische Arzt Andrew Wakefield fest, dass acht Kinder einer Gruppe (von insgesamt 12) innerhalb eines Monats nach einer Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln nach Angaben ihrer Eltern auffällige Symptome von Autismus entwickelten. Bei diesen Kindern wurden mittels einer Endoskopie gastrointestinale Probleme diagnostiziert. Aus diesen Beobachtungen folgerte Wakefield, dass der Impfstoff eine Darm-Entzündung verursacht hat, die ihrerseits schädliche Stoffe entstehen liess. Diese sollten dann in den Blutkreislauf und schliesslich ins Gehirn gewandert sein, um dort Autismus zu verursachen. Von Kontrollgruppen, die Hinweise darauf geben, ob das Auftreten von Autismus nach dem Erhalt des Impfstoffs mit diesem kausal verbunden war oder beide rein zufällig zusammenfielen, fehlte in der Studie jede Spur. Es lohnt sich, die Statistik dieses Falles etwas genauer zu betrachten, weil hier ein besonders grober Verstoss gegen wissenschaftliche Redlichkeit vorliegt. Pro Monat erhielten 1997 ca. 50.000 britische Kinder im Alter von 1 bis 2 Jahre diesen Impfstoff. Zugleich kam Autismus in England mit einer Häufigkeit von 1 zu 2000 Kinder vor. Das bedeutet, dass pro Monat ca. 25 Kinder rein zufällig innerhalb eines Monats nach Verabreichung des Impfstoffes eine Autismus-Diagnose erhielten. Die besagte Studie mit acht Kindern war also vollständig wertlos! Auf dem gleichen elementaren statistischen Fehler beruht die Schlussfolgerung von Naturheilpraktikern, die schildern, dass fast alle Kinder mit allergischen Reaktionen, die zu ihnen kommen, geimpft seien, und daher doch ein Zusammenhang zwischen beidem existieren muss. Da mehr als 90% der Kinder geimpft sind, ist es nicht erstaunlich, dass auch der allergrösste Teil der Allergiker in diese Gruppe fällt. Doch wenn die meisten Kinder, die unter Allergien leiden, geimpft sind, heisst das noch längst nicht, dass die meisten Geimpften auch allergische Reaktionen zeigen.
Dennoch werden die Wakefield-Studie und andere Berichte von vermeintlichen Schäden durch Impfungen von Impfgegnern wie Kennedy (sowie von Trump selbst) immer noch prominent herbeigezogen, und dies entgegen all der Hunderte von seriösen Studien, die das Gegenteil belegen – sowie der Tatsache, dass Wakefields Studie zuletzt sogar als Betrugs identifiziert wurde: Die Kinder waren von ihm vorher sorgfältig ausgesucht worden, und er hatte von Anwälten, die einen Schadensersatzprozess gegen Impfstoffhersteller anstrebten, Zahlungen in Höhe von 400‘000 englischen Pfund erhalten, worauf ihm die Arztlizenz entzogen wurde und das Magazin den Artikel offiziell zurückzog. Wakefields Geschichte liest sich wie ein Mafia-Roman. „Wissenschaftliche Integrität“ sieht anders aus.
Aber auf diese kommt es der neuen US-Administration wohl auch gar nicht an. Wir müssen unsere Einschätzung von unmittelbar nach der US-Wahl wiederholen: Selbstgerechtigkeit statt epistemischer Bescheidenheit, alleinigem Wahrheitsanspruch statt reflektierendem Zweifel, die zweckdienliche Lüge statt kompromissloser Suche nach Wahrheit – Donald Trump steht in einem starken Gegensatz zu so ziemlich allem, was Wissenschaftler in ihrem Wertekanon und ihren Vorstellungen von Integrität und intellektueller Redlichkeit vertreten. Ab Freitag dieser Woche ist Schlimmes zu befürchten: Seine Präsidentschaft scheint sich den Kampf gegen die wissenschaftliche Methode selbst auf ihre Fahnen geschrieben zu haben.
Nun fragt sich so mancher Leser vielleicht bereits: Lohnt es sich überhaupt noch, sich darüber aufzuregen? Haben wir uns nicht schon genug über das „Drama Donald Trump“ empört und lamentiert? Sind das jetzt noch wirklich News? Die Antwort von Wissenschaftlern muss lauten: Nein, es sich nicht genug. Gerade sie sollten ihre Stimme laut und hörbar erheben, wenn das untergraben zu werden droht, was ihnen am heiligsten ist: intellektuelle Integrität. Dabei müssen wir auch erkennen: Der Weg von intellektueller Unaufrichtigkeit, d.h. wider besseres Wissen zu denken (oder zu glauben), zu ethischer Korrumpierbarkeit, d.h. wider besseres Wissen zu handeln, ist niemals weit. Und letzteres von Seiten der Führerschaft der freien Welt beobachten zum müssen, bedeutete nichts weniger als die Gefahr eines katastrophalen Rückschritts in der Gestaltung einer offenen und humanen Weltgesellschaft, dem gemeinsamen Traum von Wissenschaft, Demokratie und Humanismus (sowie des Kapitalismus, den so mancher vielleicht nicht ganz so gerne in dieser Reihe sieht).
Nicht zuletzt für die zukünftige Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischer Möglichketen bedarf es des wissenschaftlichen Idealismus, dieser Kombination aus kompromisslosem Wahrheitsstreben und dem intellektuellen Bekenntnis zur Bescheidenheit in Anbetracht unseres immer begrenzt bleibenden Wissens. Zugleich sehen wir uns bei der Gestaltung unserer Zukunft einer enormen Komplexität ausgesetzt, seien dies die abstrakten Methoden der Quantenmechanik oder Teilchenphysik, die schier unendlich erscheinende Komplexität der neuronalen Architektur unseres Geistes, die atemberaubend vielschichtige Interaktion der Gene mit unserem Körper und dem Gehirn, oder die Tatsache, dass sich durch nicht-lineare Rückkopplungen die Eigenschaften des Klimas auf unserem Planeten völlig anders darstellen als die gewohnten linearen Trends, nach denen sich politische und gesellschaftliche Entscheidungsträger normalerweise richten. Und da gibt es nun einfach einmal keinen Platz für „einfache Lösungen“ à la Trump wie „Der Klimawandel ist eine Erfindung der Chinesen“, „Impfen verursacht Autismus. Das konnte ich beim Kind einer meiner Mitarbeiterinnen beobachten“, oder „Stoppt alle Flüge nach Afrika, um Ebola zu bekämpfen“.
Nun wissen die Wissenschaftler selbst am besten: Ihre Methode per se ist alles andere als perfekt. Immer wieder hat sie uns Fehler machen lassen und uns auf die ein oder andere Weise in Schwierigkeiten gebracht – und wird dies auch weiterhin tun. Aber sie ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. Zugleich erinnert sie uns immer wieder an unser limitiertes Wissen. Sie nicht in ihrer ganzen Kapazität zu verwenden, wäre nicht nur töricht, sondern fahrlässig. Es ist zu befürchten, dass die neue US-Regierung beides sein wird. In einer Zeit, in der wir die ethischen und anthropologischen Konsequenzen einer immer weiteren Naturalisierung unseres Welt- und Selbstbildes und, damit einhergehend, die Implikationen zukünftiger wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischer Möglichkeiten, welche die Menschheit nachhaltig zu verändern drohen, zu beurteilen haben, müssen wir verfolgen, wie die politischen Entscheidungsträger in den USA auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand und das intellektuelle Niveau von Vorschulkindern zurückfallen.