Symmetrie und Schönheit – Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst?
Es gibt einen Begriff, der Naturwissenschaftler und Künstler zugleich bewegt und der wie kein anderer geeignet zu sein scheint, eine seltene diskursive Brücke zwischen ihren beiden Disziplinen zu schlagen. Es handelt sich um den Begriff des Schönen, im engeren Rahmen um den der „Symmetrie“. Die meisten antiken und neuzeitlichen Kunstauffassungen erkennen in der Symmetrie ein wesentliches Kriterium von Schönheit. Die theoretische Physik des 20. Jahrhunderts wiederum entdeckte in ihr so etwas wie ein begründendes Prinzip.
Der Begriff leitet sich aus dem altgriechischen symmetría ab, eine Verbindung von syn (zusammen) und métron (das rechte Mass). Symmetrie bedeutet also Eben- oder Gleichmass. In der antiken Kunstauffassung beschrieb Symmetrie die idealen Proportionen von Längen- und Abstandsverhältnissen in Skulpturen (Bildhauerei), Bildern (Malerei) oder Gebäuden (Architektur). Ganz wie die perfekten Harmonien in der Musik sollten sich diese in entsprechenden Zahlenverhältnissen ausdrücken. Als Vorbild galt dabei der menschliche Körper. So beträgt beispielsweise das Verhältnis der Länge des Arms zum gesamten Körper ein Viertel. Und bei ausgestreckten Armen und Beinen beschreiben ihre Enden genau ein Quadrat bzw. einen Kreis mit dem Bauchnabel als Zentrum. Nicht zufällig betonte diese Erkenntnis in der Renaissance genau der Gelehrte, der bis heute als einer der grössten Künstler und Wissenschaftler in einer Person gilt: Leonardo da Vinci. Neben idealen Proportionen kannte die antike Kunst bereits zwei weitere Konzepte für Symmetrie: die Spiegelsymmetrie, wie sie in der Beziehung von linker und rechter Körperhälfte ihren Ausdruck findet, und das Gleichgewicht von Gegensätzen, wie es sich beispielsweise in der griechischen Medizin und ihrer Lehre von den Körpersäften artikulierte.
Das wesentliche Bestreben der Naturwissenschaftler hingegen ist, aus der verwirrenden Komplexität der Naturphänomene einfache Vorgänge und Strukturen herauszuarbeiten. So hegen die meisten theoretischen Physiker den tiefen Glauben, dass sich die Natur trotz der Vielfältigkeit ihrer Erscheinungen in ihrer Struktur auf fundamentaler Ebene als einfach erweist. Und in dieser Einfachheit, die ihre Entsprechung in den mathematischen Strukturen der sie beschreibenden physikalischen Theorien findet, wollen sie die wahre Schönheit der Natur erkennen. Dass dabei die Schönheit ihren Ausdruck gerade durch die Disziplin gibt, deren Grammatik viele Künstler seit je her weder besonders schätzen noch beherrschen, mag ironisch erscheinen. „Einfach“ ist für einen Physiker so ziemlich alles, was mathematisch exakt dargestellt werden kann. Nicht das also ist einfach, was uns die Natur unmittelbar darbietet, sondern erst müssen die Wissenschaftler das bunte Gemisch der Phänomene trennen, das Wichtige von allem unnötigen Beiwerk (wie z. B. die Reibung beim freien Fall) befreien, bis sich die „einfachen“ Vorgänge zeigen. Erst dieses Einfache kann dann als „schön“ erscheinen.
Am einfachsten fällt diese Trennung des „unnötigen Beiwerks“ in der Astronomie (im Weltall gibt es keine Reibung), weshalb diese auch den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Revolution darstellte. Johannes Kepler war so begeistert von der Schönheit und Einfachheit der Himmelsbewegungen, die sich für ihn zuletzt in seinen Gesetzen von der Planetenbewegung offenbarte, dass er in ihnen höchste göttliche Prinzipien sah. Und Newton verschaffte der Physik nicht nur die Mathematik, mit der sich die Planetenbewegung konkret berechnen lässt, sondern er gab auch der von Galilei noch recht wagemutig ausgesprochenen Ansicht, dass „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist“, erst ihre eigentliche Berechtigung (und der Wissenschaft damit den Anspruch, alles Naturgeschehen ableiten und berechnen zu können, ein Anspruch, den sie bis heute in der einen oder anderen Form aufrecht erhält und der sie zur einflussreichsten gesellschaftlichen und intellektuellen Kraft der Moderne machen sollte). Nicht weniger war Einstein bewegt von der in der mathematischen Struktur der Naturgesetze zum Ausdruck kommenden Stringenz und Erhabenheit. Seine allgemeine Relativitätstheorie, die das Phänomen der Gravitation in eine wunderbare geometrische Formulierung brachte, gilt bis heute als eine der erhebendsten und schönsten Theorien der Natur. In das gleiche Horn stösst Heisenberg: „Die endgültige Theorie der Materie wird ähnlich wie bei Platon durch eine Reihe von wichtigen Symmetrieforderungen charakterisiert sein.“ Doch sind diese Symmetrien nun nicht mehr unbedingt anschaulich, wie er weiter ausführt: „Diese Symmetrien kann man nicht mehr einfach durch Figuren und Bilder erläutern, so wie es bei platonischen Körpern möglich war, wohl aber durch Gleichungen.“
Wie Heisenberg uns bereits andeutet, ist der Symmetriebegriff der Naturwissenschaften ein anderer als in der Kunst. Hier geht es weniger um Proportionen oder Gleichgewichte als vielmehr um Ordnung und Struktur. In der mathematischen Erfassung der Natur beschreibt Symmetrie einen wichtigen Aspekt bei der Charakterisierung der Struktur und Dynamik von natürlichen Objekten. Ein Beispiel ist die Klassifikation von Kristallen, wie sie im 18. Jahrhundert ihren Anfang und im 19. Jahrhundert ihren Abschluss fand. Die Symmetrien von Kristallformen zeigen sich darin, dass Drehungen um bestimmte Winkel (und Achsen) ihre Erscheinung nicht verändern. So sind, wie bereits Kepler feststellte, Schneekristalle bei aller ihrer Individualität immer symmetrisch wie ein Sechseck (der Grund ist die besondere Form des Wassermoleküls). Der Einfluss der Kristallographie war auch deutlich erkennbar, als im 19. Jahrhundert ein verallgemeinerter mathematischer Begriff von Symmetrie entwickelt wurde: Invarianz gegenüber Transformationen. Darin wird eine Struktur als symmetrisch angesehen, wenn bestimmte Drehungen sie wieder in die gleiche Form überführen.
Ganz wie die Drehungen von Körpern lassen sich auch algebraische Gleichungen, Differenzialgleichungen und allgemeine geometrische Strukturen durch Transformationen charakterisieren, die sie invariant lassen. Daraus entwickelten die Mathematiker im 19. Jahrhundert unter Führung des Franzosen Évariste Galois (für algebraische Gleichungen) und des Norwegers Sophus Lies (für Differenzialgleichungen und allgemeine geometrische Strukturen) eine ganz neue mathematische Disziplin, die dem Schema der Kristallographie folgte (und nachweisbar von ihr beeinflusst war): die Gruppentheorie. Es war die Übertragung von einer konkreten geometrischen auf eine abstrakte algebraische Struktur, die Symmetrie zu einem ‚Urprinzip‘ der Physik machen sollte.
Die wohl beeindruckendste Mathematikerin des 20. Jahrhunderts sollte dem Streben der Physiker nach Symmetrie schliesslich eine stringente mathematische Form geben: Im Jahr 1918 formulierte Emmy Noether ein Theorem, das als „Noether Theorem“ bekannt werden sollte. Es verknüpft elementare physikalische Grössen (wie Energie, Impuls, Drehimpuls Ladung, Spin) mit algebraisch-geometrischen Symmetrien, nämlich der Invarianz physikalischer Grundgleichungen unter bestimmen (Symmetrie-)Transformationen. So beruht beispielsweise der Satz von der Energieerhaltung auf der Eigenschaft des Newton‘schen Gesetzes der klassischen Mechanik (wie auch der Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik und allen anderen heute akzeptierten physikalischen Gleichungen), bei einer Verschiebung auf den Zeitachse ihre Form nicht zu verändern. Mit anderen Worten: Aus der Tatsache, dass sich die Naturgesetze von heute auf morgen nicht verändern, ergibt sich der Gesetz von der Energieerhaltung. Umgekehrt muss bei Vorliegen einer Erhaltungsgrösse die zugrunde liegende Theorie eine bestimmte Symmetrie aufweisen. Ein erstaunlicher Zusammenhang. Dabei können in der modernen theoretischen Physik Symmetrietransformationen sehr viel abstrakter ausfallen als einfache zeitliche Verschiebungen. So ergeben sich aus nur sehr wenig anschaulichen Symmetrien in den abstrakten Räumen der Quantenfeldtheorien Dinge wie die acht Gluonen der starken Kernkraft oder auch die Existenz von zwei fundamental verschiedenen Sorten von Quantenteilchen (Bosonen und Fermionen). Das Noether-Theorem wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Grundlagen der theoretischen Physik.
Der „Glaube“ der Wissenschaftler ist ein tiefes Vertrauen in das Schöne in der Natur im Allgemeinen und die Symmetrie ihrer Gesetze im Besondern. Damit erweisen sie sich als ästhetisch empfindsame Menschen. Auch wenn der Begriff von „einfach“ in der modernen theoretischen Physik ein etwas anderer als der umgangssprachliche und die ihr zugrunde liegende Mathematik hochgradig abstrakt ist, so zeichnen sich ihre Theorien und Gesetze nichtsdestotrotz durch eine wunderschöne Konsistenz und Symmetrie aus. Symmetrie ist damit nichts weniger als die conditio sine qua non einer jeden physikalischen Theorie. Als erster und wohl am radikalsten artikulierte diesen Glauben der theoretische Physiker Paul Dirac (und ungewollt wohl auch die damit zusammenhängende Problematik): „Es ist wichtiger, Schönheit in seinen Gleichungen zu haben als Übereinstimmung mit dem Experiment“. Gerade die von ihm auf der Basis rein theoretischer Symmetrieüberlegungen hergeleitete Vereinigung von Quantenmechanik und spezieller Relativitätstheorie in der so genannten „Dirac-Gleichung“ gilt bis heute als eines der beeindruckendsten Beispiele von mathematischer Eleganz und Schönheit in der Physik. Aus ihr folgen zahlreiche erstaunliche und unterdessen ausnahmelos empirisch validierte Vorhersagen, wie beispielsweise die Existenz von Antimaterie. Und auch die Existenz des bekannten Higgs-Teilchens wurde von den Physikern auf der Grundlage von Symmetrie-Überlegungen bereits in der 1960er Jahren postuliert. Sie waren sich ihrer Theorie und damit der Existenz dieses ominösen Teilchens sogar derart sicher, dass sie bereit waren, ein halbes Jahrhundert Jahre auf seiner experimentellen Detektion zu warten (die schliesslich am 4. Juli 2012 verkündet wurde).
Doch besitzt das Verlangen der Physiker nach Symmetrie nicht vielleicht auch wahrnehmungs- oder motivationspsychologische Ursprünge? Physikern wie Dirac ist sicher nicht entgangen, dass sie Symmetrie zu etwas nahezu Metaphysischem stilisieren, in philosophischer Terminologie: zu einem „Prinzip des wahren Seienden“. Sie stützen sich dabei auf ein Argumentationsgefüge, das durchaus Ähnlichkeiten mit dem der mittelalterlichen Scholastik besitzt: Symmetrie ist wahr, weil sie das Prinzip des Seienden ist, und dies einfach, weil sie schön ist. Hier stellt sich unwillkürlich die Frage, ob eine solche „epistemische Einfachheit“, wie sie in der Symmetrieforderung der nach Erkenntnis strebenden Physiker ihren Ausdruck findet, das alleinige Gütekriterium einer wissenschaftlichen Theorie oder gar Ideal der Wissenschaft sein kann. So offenbart sich die ganze Problematik einer Haltung, wie sie in Diracs Worten ihren Ausdruck findet: Sie erklärt „schöne“ Theorien a priori als immun und appelliert, an ihnen trotz möglicher experimenteller Widerlegung festzuhalten, alleine aufgrund ihrer Einfachheit und Symmetrie. In der heutigen Diskussion unter theoretischen Physiker um die Supersymmetrie (SUSY) und supersymmetrische Quantenfeldtheorien findet diese Frage eine sehr aktuelle Brisanz. Denn trotz grösster Bemühungen und Aufwendungen haben die Physiker bis heute nicht das geringste Zeichen eines experimentellen Nachweises für die mit ihr verbundenen, so genannten SUSY-Teilchen gefunden. Sie müssen mit immer neuen Erklärungen aufwarten, um diese Nullergebnisse mit ihrer Theorie zu vereinbaren. Das Ganze erinnert doch eher an die immer weitergehende Flickschusterei im Ptolemäischen Weltbild im Mittelalter, um dieses mit den mit der Zeit immer zahlreicher gewordenen widersprechenden Beobachtungen in Einklang zu bringen.
Doch wer einmal erfasst hat, wie elegant und nahezu wunderbar sich eine mathematische Struktur bei der Erfassung der Natur darstellen kann, der kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus. Was anderes als das Gefühl unbeschreiblicher Hochstimmung muss Einstein gefühlt haben, als er zuletzt merkte, dass seine Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie die richtigen mathematischen Eigenschaften (die „Kovarianz“) hatten und zugleich alle die Gravitation betreffenden Phänomene, inkl. der bisher unerklärten wie der Perihel-Drehung des Merkurs, exakt beschreiben. Ein solches Gefühl beschreibt auch Heisenberg in seiner Autobiographie „Der Teil und das Ganze“. Er beschrieb sein Empfinden just in dem Moment, als sich ihm mit einem Male in den Zeichen auf dem Blatt Papier Bedeutung offenbarte und er die Grundgesetze der Atome erkannte:
Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindelig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.
Doch schon Kant zeigte auf, dass in der Befriedigung menschlicher ästhetischer Bedürfnisse ein grundlegender Unterscheid zu unseren Erkenntnisbedürfnissen liegt, wie sie in der Wissenschaft ihren Ausdruck finden. Die Frage, ob die mathematischen Strukturen der Naturgesetze mit ihren Symmetrien einen von uns unabhängigen ontologischen Status besitzen, oder ob diese Symmetrien nur die Bedingung der Möglichkeit unserer Erfahrung darstellen, bestimmt die gesamte (späte) Kantische Philosophie. Sie hat bis heute nichts an Relevanz und Brisanz verloren.
Inwiefern lässt sich dann das Streben der modernen Wissenschaft (insbesondere der Physik) nach Symmetrie noch mit der Suche nach Schönheit in der Kunst vergleichen? In der bildenden Kunst mangelt es eher an mathematischen Symmetrieelementen. Sie dienen hier kaum als Kriterium für Schönheit oder gar als ästhetisches Ideal. So gelten regelmässige geometrische Körper in Bildern und Skulpturen eher als uninteressant. Vielmehr begreifen Künstler ihre Werke in ihrer Einzigartigkeit erst durch Symmetrie- und Ordnungsbrüche. Das ästhetische Empfinden der Wissenschaftler ist also durch ein extremes Bedürfnis nach Ordnung und Einfachheit bestimmt, wie es in der Kunst kaum eine Entsprechung findet. Wie steht es dann aber mit den Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft? Wenn es in der Wissenschaft bei Symmetrien eher um epistemische Motivation als um ontologische Substanzhaftigkeit geht, dann stellt Schönheit im Sinne der mathematischen Symmetrie zwar ein wichtiges wissenschaftliches Wahrheitskriterium dar, ist aber eben hauptsächlich eine wichtige Antriebsquelle und ein heuristisches Mittel der wissenschaftlichen Forschung. Als solches muss sie sich zuletzt eben doch am Experiment und der Erfahrung messen lassen. Daher sind sowohl Kunst als auch Wissenschaft als kreative menschliche Tätigkeiten jeweils auf ihre eigene Art auf das Streben nach Schönheit angewiesen. Zumindest dies sollte eine gewisse Brücke zwischen ihnen darstellen.