Sternstunden des Denkens – Wie sich die Tugenden der Wissenschaften entwickelten 

„Die anderen Völker dieser Gruppe, welche die Wissenschaften nicht gepflegt haben, gleichen eher Tieren als Menschen. […] Ihr Charakter ist deshalb kühl, ihr Humor primitiv, ihre Bäuche sind fett, ihre Farbe ist bleich, ihr Haar lang und strähnig. So mangelt es ihnen an Verstandesschärfe und Klarheit der Intelligenz, und sie werden von Unwissenheit und Apathie, fehlender Urteilskraft und Dummheit überwältigt.“

Dies schrieb im 11. Jahrhundert der arabisch-andalusische Richter Said Ibn Ahmad über die europäischen Völker und ihre intellektuellen Leistungen. Er sah den westlichsten Teil der damals bekannten Welt, das heutige Europa (mit Ausnahme der arabisch geprägten iberischen Halbinsel), als den zurückgebliebensten und bedauernswertesten Kulturraum überhaupt an. Und doch sollte aus genau diesem Erdteil schon einige Jahrhunderte später die bedeutendste Revolution des menschlichen Geistes hervorgehen: die Entwicklung des rationalen, wissenschaftlichen Denkens.

Denn nach dem oft als finster bezeichneten Mittelalter beginnt in Europa eine der bedeutendsten Entwicklungen der Geistes- und Menschheitsgeschichte: Es entsteht eine neue Art zu denken, und mit ihr gelangt in immer schnelleren Schritten immer grösseres Wissen in die Köpfe der europäischen Menschen. Mit diesem Wissen und dem sich daraus ergebenden technologischen Fortschritt sollte ihr Kontinent in den Jahrhunderten, die dem Mittelalter folgten, zur unumstrittenen ökonomischen, politischen, militärischen Weltmacht, ja zum Zentrum der Welt überhaupt werden. Auch führte er dazu, dass die westliche Welt heute in einem Wohlstand lebt, der alle Hoffnungen und Vorstellungen früherer Generationen bei Weitem übertroffen hat.

Das wissenschaftliche Denken wurde nicht aus einer plötzlichen Eingebung heraus geboren. Seine Ursprünge reichen weit in die Geistesgeschichte zurück. Die intellektuellen Tugenden, die dazu entwickelt und gelernt werden mussten, sind in Ansätzen bereits im antiken Denken erkennbar. Im Mittelalter, das aus der Perspektive des wissenschaftlichen Denkens zu Recht als „dunkel“ bezeichnet wird, waren sie verschüttet. Erst im Verlauf vieler Jahrhunderte – und mit zahlreichen Rückschlägen – fanden diese Tugenden ab Mitte des zweiten Jahrtausends in die Köpfe und Herzen der europäischen Denker.

Der Siegeszug der Wissenschaften ging einher mit der Herausbildung von vier wesentlichen intellektuellen Tugenden, die die Grundlage unseres modernen rationalen wissenschaftlichen Denkens bilden. Jede einzelne dieser vier wesentlichen Tugenden brauchte viele Jahrhunderte, um sich im Denken der Menschen fest zu verankern. Bei der vierten Tugend ist dieser Prozess auch heute noch nicht abgeschlossen.

  1. Tugend: Die Abkehr von Dogmen.
    Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifels, nicht des Glaubens. Dogmen unterbinden Zweifel und machen einen offenen Diskurs unmöglich. Was Autoritäten für wahr erklären, erweist sich zuletzt nur allzu oft als unwahr. Allumfassende Welterklärungsmodelle, philosophische Gedankengebäude und wissenschaftliche Theorien müssen immer wieder auf den Prüfstand. Dank ihrer kompromisslosen Neugier wagten es einige Gelehrte, seit Jahrhunderten bestehende Auffassungen kritisch zu hinterfragen. Erst eine solche Haltung der intellektuellen Redlichkeit, des Hinterfragens herkömmlicher Wahrheiten sowie der eigenen Akzeptanz der Möglichkeit des eigenen Irrtums erlaubt es uns, die Welt immer besser so zu erfassen, wie sie wirklich ist.
  2. Tugend: Das Vertrauen in die eigene Beobachtung.
    Über viele Jahrhunderte war ausschlaggebend, wie die Welt philosophisch gesehen sein müsste. Gelehrte konnten zum Beispiel endlos miteinander darüber spekulieren, wie viele Zähne ein Pferd theoretisch haben müsste. Einfach einmal nachzuschauen, war buchstäblich indiskutabel. Erst als die Menschen den Mut fanden, sich gegen philosophische und religiöse Autoritäten aufzulehnen, war der Weg frei, über eigene Beobachtungen die Welt so zu erkennen, wie sie ist. Die Auffassung durch, dass sich die Welt nur durch den Einsatz der eigenen Sinne realitätsnah erfassen lässt, setzte sich aber nur langsam, dafür aber mit immer stärkerer Kraft durch. Zum Zentrum dieses neuen, strikt empirischen Ansatzes wurde das wissenschaftliche Experiment.
  3. Tugend: Die Suche nach dem grossen Ganzen.
    Solange die Beobachtungen einzelner Gelehrter und die Ergebnisse ihrer Experimente für sich allein stehen, kann sich die Macht der Wissenschaften nicht entfalten. Galileo Galilei erkannte als Erster: Die Sprache der Natur ist die Mathematik. Es ist erstaunlich: Die Abstraktionen der Mathematik lassen sich konkret auf die Natur anwenden. Mit ihrer Hilfe lassen sich aus isolierten Beobachtungsdaten allgemeine Naturgesetze herleiten. Wenn wir die Mathematik beherrschen, verstehen wir, wie die Welt als Gesamtgefüge funktioniert. Und als Wissenschaftler die allgemeingültigen Gesetze der Natur erkannten und mathematisch beschreiben konnten, war der Weg frei, sich ihrer auch zu bedienen.
  4. Tugend: Die Anwendung von Wissen zum Wohlergehen der Menschheit.
    Wissen an sich macht die Welt nicht besser. Es sollte vielmehr den Menschen dienen, um ihr Leben zu erleichtern und sicherer zu machen. So entwickelte sich aus dem Wissen über die Naturgesetze die Möglichkeit ihrer technologischen Verwendung. Mit ihr wurde das Wohlergehen der Menschen immer weiter gesteigert. Und dies bis heute, denn die Entwicklung dieser Tugend des wissenschaftlichen Denkens ist noch nicht abgeschlossen. Immer noch wird Technologie auch bewusst eingesetzt, um Menschen zu schaden. Eine besonders grosse Gefahr geht von ihr aus, wenn ihr Einsatz zu einer gravierenden Verschlechterung der Lebensbedingungen führt, ohne dass wir es beabsichtigen – der Klimawandel ist das bekannteste Beispiel für diesen Effekt. In der Verankerung und Anwendung der vierten Tugend ist also noch viel Luft nach oben.

Merkwürdigerweise sieht sich der westliche Kulturkreis heute mit der grossen Herausforderung konfrontiert, dass alle vier Tugenden gleichzeitig angegriffen werden und in Gefahr sind:

  • Fundamentalistisch-dogmatische Bewegungen, die wissenschaftliche Wahrheiten ablehnen, verbreiten sich ungehemmt.
  • Der Wert der eigenen Wahrnehmung wird von immer mehr Menschen unterschätzt. Sie gehen auch dann fake news auf den Leim, wenn diese offensichtlich ihren eigenen Erfahrungen widersprechen.
  • Das grosse Ganze gerät aus dem Fokus; die Welt teilt sich immer weiter in einzelne Informations- und Wahrheitsblasen auf. Es wird wieder salonfähig, sich seine eigene Wahrheit zurechtzubasteln.
  • Dass wir in der Anwendung von Technologie zum Wohle der Menschheit noch nicht am Ziel angekommen sind, ist offenbar. Auf der Haben-Seite können wir schier unglaubliche Erfolge vorweisen, doch auch auf der Soll-Seite summieren sich die Auswirkungen. Zum Beispiel können autokratische Regierungen dank der digitalen Technologien ihre Bürger immer effizienter unterdrücken.

So gibt es kaum etwas Spannenderes als eine Reise durch die spannende Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Man trifft dabei u.a. den einzigartigen arabischen Gelehrten Alhazen aus dem 10. Jahrhundert, den mutigen Theologen Peter Abaelard aus dem 12. Jahrhundert, abenteuerlustigen Seefahrern des 15. Jahrhunderts, die couragierten Naturforscher Kopernikus, Kepler und Galilei und nicht zuletzt auf den genialen Mathematiker und ersten theoretischen Physiker Isaac Newton. Auch kluge Ingenieure wie Archimedes und risikofreudige Unternehmer wie Johannes Gutenberg, deren Erfindungen Licht in die Welt brachten, lernt man dabei kennen. In dieser historischen Betrachtung der Entwicklung der wissenschaftlichen Tugenden liegt eine grosse Hoffnung: Wenn wir erkennen, wie lang und mühsam der Weg war, bis das rationale Denken endlich den Glauben an Autoritäten und Magie vertreiben konnte, werden wir den vier wissenschaftlichen Tugenden umso mehr Wertschätzung entgegenbringen. Denn dann erkennen wir, dass rationales Denken nicht selbstverständlich ist – und dass wir die vier Tugenden der Wissenschaft niemals kampflos preisgeben dürfen.

Lars Jaeger, Sternstunden der Wissenschaft. Eine Erfolgsgeschichte des Denkens, Suedverlag GmbH,

ISBN-13: 9783878001409, Erscheinungstermin: 7.Sept. 2020

4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • „Merkwürdigerweise sieht sich der westliche Kulturkreis heute mit der grossen Herausforderung konfrontiert, dass alle vier Tugenden gleichzeitig angegriffen werden und in Gefahr sind“.

    Es ist gerade nicht „merkwürdig“, denn das aufgeklärte, wissenschaftliche Denken wurde nicht in der Neuzeit „geboren“, sondern dort nur (als Renaissance) »wiederentdeckt« – und zwar unzureichend. Selbst dieses Unzureichende wurde schnell im entscheidenden Punkt geändert und vergessen, denn aus dem Idealismus der Aufklärung, in dem die Phänomene der Welt wie bei Kant nur als Erscheinungen galten, wurde wieder ein Realismus.

    Selbst als empirisch die Ergebnisse der Quantenphysik ergaben, dass die Phänomene der materiellen Welt nicht real sein können, hielten die Naturwissenschaftler weiter (dogmatisch!, zu Punkt 1: „Abkehr von Dogmen“) am Realismus fest, auch wenn sie ihn bis heute nur noch einen »hypothetischen Realismus« nennen.

    In dieser intellektuellen Ängstlichkeit und Beschränktheit des Denkens wird auch nicht gesehen, dass die Probleme des modernen Menschen wie der Klimawandel etwas mit seinem falschen Selbst- und Weltverständnis zu tun haben. Insofern passt der Satz des Anfangszitates: „So mangelt es ihnen an Verstandesschärfe und Klarheit der Intelligenz, und sie werden von Unwissenheit und Apathie, fehlender Urteilskraft und Dummheit überwältigt.“ durchaus noch auf die heutige westliche Kultur und ausdrücklich auch auf ihre Wissenschaft. So wird die Natur es den Menschen auf ihre Art lehren.

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  • Sehr geehrter Herr Jäger, die Theorie von Wissenschafts- und Geistesgeschichte, die Sie sich hier zusammenkonstruiert haben, ist falsch, unsinnig und zeigt höchstens Ihre beschränkten historischen Kenntnisse und Ihre eigene zum Dogma erobene Arroganz. Sie sind weder intelligenter noch fähig, unvoreingenommen zu beobachten. Ihr festgefügtes Weltbild hindert Sie daran. M.f.G.

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  • Jenkel, thomas
    Mai 24, 2021 10:10 am

    Mir fehlen in dem buch infos über die kosten von büchern und die sprache derselben-nach gutenberg.ebenso würde es mich interessieren, wer denn damals überhaupt die freizeit hatte auch zu lesen. Und über das gelesene nachzudenken! Wo wurde lesen gelernt-aus welchen büchern mit welchen inhalten ?

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