Es fällt schwer zu glauben, dass in einem hochentwickelten Land wie Deutschland Kleinkinder an Masern sterben, einer Krankheit, für die es seit Jahrzehnten eine wirksame und im Vergleich zur Infektion selbst, welche gerade für Erwachsene sehr heftig verlaufen kann, nahezu risikolose Impfung gibt. Gerade in vermeintlich gebildeten Schichten grassiert zuweilen eine ausgeprägte Impfskepsis, welche im Internet eine nahezu unerschöpfliche Nahrung erhält. In unzähligen impfkritischen Foren lassen sich dort sehr persönliche und emotionale Berichte darüber finden, was einzelnen Kindern nach der Immunisierung passiert ist. In den allermeisten Fällen ist jedoch nicht von anerkannten Impfschäden die Rede (welche nur sehr selten auftreten), sondern von Pseudo-Zusammenhängen wie erhöhten Allergien, von denen Naturheilpraktiker berichten, wenn sie schildern, dass fast alle Kinder, die zu ihnen kommen, geimpft seien. Dass bei solchen Darstellungen elementare statistische Fehler wie Ignorieren von Samplebiases und Nicht-Berücksichtigung von bedingten (Bayesschen) Wahrscheinlichkeitsregeln gemacht werden, verstehen auch gebildeten Eltern nicht immer (da mehr als 90% der Menschen geimpft sind, ist es nicht erstaunlich, dass auch der allergrösste Teil der Allergiker in diese Gruppe fällt). Zahlreiche seriöse wissenschaftliche Studien haben dagegen gezeigt, dass es keinerlei Zusammenhang zwischen Impfungen und Allergien gibt.

Nun ist es so, dass menschliche Entscheidungen im Allgemeinen eher von unseren Gefühlen geleitet werden als von Wissen. Geschichten über Einzelschicksale sprechen unsere Emotionen stärker an als Statistiken und wissenschaftliche Studien, welche oft nur allzu fade wirken. Dazu können wir Wahrscheinlichkeiten im Promille-Bereich oder darunter kognitiv nur schwer verarbeiten. So gewinnt im öffentlichen Bewusstsein oft die Oberhand, was sich gegenüber harter statistischer, wissenschaftlicher Evidenz als „anekdotische Evidenz“ bezeichnen lässt. Wer von uns hat nicht schon von einmal von einem Fall gehört, bei dem homöopathische Mittel gegen ein Leiden gewirkt haben? Die unzählig häufiger auftretenden Fälle, in denen die kleinen Zuckerkügelchen nichts ausgerichtet haben, verschwinden dagegen schnell im Nichts des Vergessens. Führte man darüber Buch, wie oft sich eine Verbesserung eines Krankheitszustandes nach reinem Nichtstun einstellt, so kämen wir auf die gleichen Ergebnisse wie nach der Einnahme von homöopathischen Mitteln. Tatsächlich liegen uns entsprechende Studien hundertfach vor. Nur sind sie kaum so interessant wie die Geschichte des Freundes, dessen Husten nach Einnahme eines Globulis aufhörte. Oder die einer Freundin, die am Tag, als ihr das Horoskop Glück in der Liebe versprach, den Mann ihres Lebens gefunden zu haben meinte (betrachten wir regelmässig unser Horoskop, so müssten wir an den meisten Tagen die grosse Liebe finden).

Dass wir Menschen bei zeitlich korrelierenden Ereignissen schnell in kausalen Kategorien denken, mag unser evolutionäres Erbe sein. Wer das Rascheln von Blättern kausal mit einem Löwen in Verbindung brachte, anstatt mit dem (sehr viel wahrscheinlicheren) Wind, hatte mehr Chance, unser Vorfahr zu werden. Ein Fehlalarm kostete den Menschen nicht viel, ein Löwe jedoch zumeist das Leben. Entsprechend verarbeiten wir Informationen heute. Doch oft genug liegen wir mit unseren schnellen, instinkt- und gefühlsgetriebenen Schlüssen falsch, wie uns der Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem lesenswerten Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ eindrucksvoll darlegt. Gehen wir einer Sache auf den Grund und untersuchen sie in ihren Einzelheiten – Kahneman spricht hier von „langsamem Denken“ – so kommen wir oft zu ganz anderen Schlussfolgerungen.

Solch langsames Denken mit seinen ausführlichen Studien und genauem Analysieren von Phänomenen ist das Wesensmerkmal der Wissenschaft. Dass die mit ihr verbundene Skepsis gegenüber schnellen kausalen Schlussfolgerungen bei rein korrelativen Parallelphänomenen auch einmal einem zutreffenden Zusammenhang übersieht, ist kein Argument gegen sie. Befürworter homöopathischer Medizin erzählen gerne die Geschichte von Zitrusfrüchten, die man früher unter vielem anderen Seeleuten zu Essen gegeben hat, um die Skorbut zu bekämpfen. Der Zusammenhang zwischen Heilung von ausfallenden Haaren und Zähnen und Zitronen war ungefähr so offensichtlich wie zwischen Zuckerkügelchen und der Heilung von Halsschmerzen. Hier jedoch war Korrelation tatsächlich kausaler Natur, eine Einsicht, welche die Wissenschaft, als sie sich diesem Phänomen schliesslich widmete, zur Entdeckung der Vitamine führte, was unser Verständnis von gesunder Ernährung revolutionieren sollte. Vergleichbares ist trotz analoger Bemühungen für Homöopathie nie gelungen.

Wo wir heute unsere Häuser vor Gewittern mit Blitzableitern schützen, welche die elektrischen Ladungen ableiten, anstatt wie früher durch Opfergaben an Götter, um deren guten Willen zu erbitten, so verlassen wir uns auf evidenzbasierte, wissenschaftlich etablierte Kausalzusammenhänge. Diese sind das Resultat skeptischen „langsamen Denkens“ (es hat fast hundert Jahr gebraucht von Benjamin Franklins Blitzversuchen bis zur Formulierung der Gleichungen, welche alle elektromagnetischen Phänomene beschreiben) und generell schwieriger zu erfassen als das einfache und schnelle Erklären durch übernatürliche Wesen (wer von uns kennt schon die Details der Maxwell’schen Feldtheorie). Auch der Transzendenzbezug vieler Religion gehört in die zweite Kategorie. Das mühsame Erforschen der Phänomene, das Erfassen der vielen Einzelheiten, die damit oft verbundenen Irrwege und Korrekturen, die Achtsamkeit gegenüber zu schnellen Schlussfolgerungen, dies alles zeichnet die Wissenschaft aus und fällt uns Menschen zugleich ungleich schwerer als das Formulieren von kausalen Zusammenhängen mit transzendenten Wirkungsmechanismen.

Das soll nicht heissen, dass jeder Transzendenzbezug spiritueller Traditionen das Ergebnis vereinfachenden „schnellen Denkens“ ist. Gerade in den kontemplativen geistigen Traditionen des Fernen Ostens bezieht sich Transzendenz in erster Hinsicht auf erleuchtungsartige Erfahrungen. Sie beschreibt nicht Jenseitigkeit im platonisch-christlichen Sinne, sondern ein „Hinaustreten“ (lateinisch „transcendere“) in neuartige Erfahrungsbereiche des eigenen Geistes. Doch wie wissenschaftliche Erkenntnis ist diese Form des „Tranzendierens“ erst das Ergebnis intensiver meditativer Bemühungen und langen Forschens – in diesem Fall über die Natur des eigenen Geist. Vergleichbar ist auch der damit verbundene Motivationsrahmen: Er liegt im ebenso unbedingten und kompromisslosen Willen nach Wissen und zweifelt genauso an den „schnellen“ Zusammenhängen unseres alltäglichen Schliessens.

Die wissenschaftliche (sowie die kontemplative) Methode ist mühsam und alles andere als perfekt. Oft sehnen wir uns nach schnelleren, einfacheren Einsichten und stellen dann schnelle Kausalzusammenhänge her, wo keine sind. Doch sollten wir diese mächtigste(n) Methode(n), über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur (und unseren Geist) und zuletzt der Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen, niemals geringschätzen. Sie lässt uns aus Fehlern lernen, auch wenn dies langsam und bisweilen schmerzhaft ist. Sie lässt uns bescheiden und intellektuell redlich bleiben in Anbetracht der Schönheit und Komplexität unserer Natur (sowie unseres eigenen Geistes).

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