„Liebe Radioaktive Damen und Herren“ – so begann auf einer Physiker-Versammlung in Tübingen im Dezember 1930 ein Brief des Physikers Wolfgang Pauli an seine Kollegen. Er skizzierte darin eine Idee, die er für zu unausgegoren hielt, um sie direkt zu publizieren. Es ging um den so genannten „Beta-Minus-Zerfall“. Bei diesem radioaktiven Vorgang konnten die Physiker nur ausgesandte Elektronen beobachten, welche zu ihrer Verblüffung ein kontinuierliches Energiespektrum aufwiesen. Ein solches schien aber dem Energieerhaltungssatzes zu widersprechen, denn die Elektronen sollten bei gegebener Energie des Kernes immer genau die gleiche kinetische Energie besitzen. Dies führte Pauli dazu, ein neues Elementarteilchen anzunehmen, das, von den Detektoren unbeobachtet, gleichzeitig mit dem Elektron aus dem Kern ausgesandt wird und einen Teil der beim Zerfall freiwerdenden Energie davonträgt, was es wiederum den Elektronen ermöglicht, unterschiedlich viel Energie zu erhalten. Der italienische Physiker Enrico Fermi nahm diese Idee Paulis auf und gab dem virtuellen Teilchen den Namen „Neutrino“, was entsprechend der italienischen Verkleinerungsform so viel wie „Neutrönchen“ heissen sollte. Es sollte allerdings mit anderer Materie so gut wie gar nicht wechselwirken, zumindest nicht mittels der damals bekannten Kräfte. So richtig glücklich war Pauli deshalb mit seiner Hypothese nicht. „Ich habe etwas Schreckliches getan: Ich habe ein Teilchen postuliert, dass man nicht nachweisen kann“, sagte er.
Für Physiker, die einen Nobelpreis anstreben, sollte das Neutrino allerdings ein lukratives Forschungssujet werden. Bereits zum dritten Mal zeichnet das Nobelkomitee nun Neutrino-Physiker mit dem begehrtesten Forscherpreis aus. Der von Pauli kaum möglich gehaltene Nachweis des „kleinen Neutrons“ gelang 1956, wofür den verantwortlichen Physikern im Jahre 1995 der Nobelpreis verliehen wurde. Ironischerweise war dieser bereits sieben Jahre zuvor anderen Physikern für die Entdeckung einer weiteren Neutrino-Art verliehen worden. Nun also ein drittes Mal: Der Physik-Nobelpreis 2015 geht an den Japaner Takaaki Kajita und den Kanadier Arthur B. McDonald für ihre Entdeckung der so genannten „Neutrino-Oszillation“. Und es nicht ausgeschlossen, dass es nicht der letzte Nobelpreis für die Erforschung von Neutrinos sein wird.
Was macht dieses kleine Teilchen so besonders? Für das Proton wurde nur ein einziger Nobelpreis ausgesprochen (1959 für die Entdeckung des Anti-Protons), für das Neutron derer zwei (1935 für seine Entdeckung, 1994 für die Neutronenstreuung) und ebenso zwei für das Elektron (1929 für die Entdeckung seiner Wellennatur, 1955 für die Bestimmung seines magnetischen Momentes). Nach den Photonen sind Neutrinos das häufigste Teilchen im Universum. Doch anders als andere Elementarteilchen gibt das schwer fassbare Teilchen den Physikern noch immer schwierige Rätsel auf. Denn aufgrund seiner Wechselwirkungseigenschaften ist es nur sehr schwierig zu vermessen. Es unterliegt nur der so genannten „schwachen Kernkraft“, und damit weder der starken Kernkraft noch der elektromagnetischen Kraft, wie es die allermeisten Teilchen tun. Da es kaum mit anderen Teilchen wechselwirkt, besitzen Neutrinos eine grosse Bedeutung für die kosmologische Forschung. Denn nicht nur werden sie in sehr grosser Zahl bei Kernprozessen in der Sonne oder anderen kosmischen Ereignissen produziert (so spielen sie beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Erforschung von Supernovae, die etwa 99 % ihrer Energie in einem Neutrino-Blitz freisetzen), sondern sie gelangen dabei auch häufig bis zur Erde (während elektromagnetische Strahlung oder andere Teilchen durch die interstellare Materie abgeschirmt werden). Seit einigen Jahren sind die Astrophysiker in der Lage, extrasolare oder gar extragalaktische Neutrinos zu messen
Analog zum Elektron gibt es drei Arten von Neutrinos: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino (Elektronen und Neutrinos bilden die Gruppe der so genannten „Leptonen“, von denen es jeweils immer drei gibt. Hinzu kommen die entsprechenden Antiteilchen). Eine bedeutende Eigenschaft von Neutrinos ist, dass sie sich, anders als Elektronen oder andere Elementarteilchen, durch quantenmechanische Prozesse ineinander umwandeln können, wofür die Physiker den Begriff „Neutrino-Oszillation“ geprägt haben. Und genau für den Nachweis dieser Neutrino-Oszillationen sprach das Nobelkomitee dieses Jahr ihren Preis aus. In aufwendigen Experimenten gelang es den beiden jüngsten Preisträgern in den späten 90er Jahren nachzuweisen, dass sich einige Elektronen-Neutrinos, die in der Sonne entstehen (wo ausschliesslich diese Sorte von Neutrinos entsteht), auf ihrem Weg zur Erde in andere Arten von Neutrinos umwandeln. Aus ihnen werden also Myon- oder Tau-Neutrinos. Doch für diesen Umwandlungsprozess müssen Neutrinos eine – wenn auch sehr geringe – Masse besitzen. Und das widerspricht dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik, gemäss welchem sie gar keine Masse haben sollten. Woher die Neutrinos ihre Masse erhalten, bleibt den Physikern unklar. Denn sie glauben nicht, dass dafür der gleiche Higgs-Mechanismus verantwortlich ist, der den anderen Teilchen seine Masse verleiht (Nobelpreis 2013). Es ist dies eine offene Frage, für deren Antwort es vielleicht eines Tages einen weiteren Nobelpreis gibt.
Nun muss man sich bekannterweise bei Nobelpreisen immer die Frage stellen, was der praktische Nutzen der preisgekrönten Entdeckung ist. Hier lässt sich zunächst nur sagen, dass, wie es Kajita selbst formuliert, diese Forschung „den Horizont des menschlichen Wissens erweitert“. Tatsächlich stellten Neutrino-Oszillationen den allerersten Hinweis auf eine „neue Physik“ dar, von der sich die Physiker so viel versprechen, dass sie unterdessen ein fünf Milliarden US Dollar teures Experiment am CERN betreiben. Denn ihr Standardmodell zeigt sich am Ende seiner Erklärungsmöglichkeiten, und wir treten in eine aufregende Zeit für der Teilchenphysik ein. Werden die Physiker eine neue vereinigte Theorie der Materie entdecken? Hinweise auf eine neue grundlegende Physik sind sicher ein sehr guter Grund für einen Nobelpreis.