„Origin“ – Dan Browns neuester Thriller und die Grenzen des Naturalismus
Dan Browns neuestes Buch Origin bewegt wieder einmal die Gemüter. Auch diesmal wagt sich der gefeierte amerikanische Thriller-Autor weit hinaus auf die Äste populärwissenschaftlicher Spekulation. Dieses Mal geht um die Entstehung des Lebens auf der Erde. Darunter macht es Brown nicht mehr. In einem wie üblich etwas weit hergeholten Plot jagt der Protagonist Robert Langdon hinter dem profunden Geheimnis seines ermordeten Freundes, eines Computer-Genies, her, das dieser sensationellerweise aufgedeckt haben soll: Eine unumstössliche Erklärung, wie das Leben auf unserem Planeten entstanden ist. Aber Brown beschäftigt sich mit mehr als nur einem existentiellen Rätsel: Auch wie sich das irdische Leben in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird, will der ermordete Protagonist Edmond Kirsch herausgefunden haben. Dazu lässt Brown seinen Protagonisten Kirsch ein Super-Genie sein, der es vor allen anderen – also auch vor Google, Microsoft und IBM – geschafft hat, einen Quantencomputer zu bauen und eine eigenständige künstliche Intelligenz zu erschaffen. Mit der Hilfe seiner rechnerischen Übermacht, ist es Kirsch gelungen, den Prozess der Lebensentstehung aus der Ursuppe heraus zu simulieren, also das Miller-Urey Experiment auf dem Computer über viele Millionen Jahre lang nachzurechnen.
Wie er dies bereits in seinen letzten Thrillern getan hat, vermischt Brown wissenschaftlich anerkannte Erkenntnisse und aktuelle technologische Entwicklungen (das Miller-Urey Experiment, die Bemühungen auf dem Gebiet des Quantencomputer und der künstlichen Intelligenz) mit spekulativer Extrapolation bis hinzu ausgemachtem Unsinn. Doch versteht es er es, diese Vermischung derart geschockt dazustellen, dass sich so mancher Leser fragt, wie realistisch das in Origin aufgeführte Szenario denn ist. Aufklärung tut not, die Dan Brown natürlich selber nicht liefert. Bzgl. der Frage, wie das irdische Leben entstanden ist, soll diese an dieser Stelle geleistet werden. Den Fragen nach der Möglichkeit von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz, wie Brown sie ebenfalls aufwirft, und so spannende diese auch sind, muss an anderer Stelle nachgegangen werden.
Was ist Leben? – Eine alte Frage aus Sicht der modernen Naturforschung
Die Probleme beginnen bereits mit der Frage, was Leben überhaupt ist. Die lexikalische Definition gemäss „Wikipedia“ lautet: „Lebewesen sind organisierte Einheiten, die unter anderem zu Stoffwechsel, Fortpflanzung, Reizbarkeit, Wachstum und Evolution fähig sind.“ Informationsträger in diesen Prozessen sind Biomoleküle, von denen die wichtigsten die Desoxyribonukleinsäure (DNA) und die Ribonukleinsäure (RNA) sind. Lebewesen sind also selbst replizierende Systeme, deren Struktur und Leistungsfähigkeit über lange Zeiträume und zahlreiche Generationen hinweg aufrechterhalten werden. Andererseits bestehen durch die Ungenauigkeit der Replikation Möglichkeiten zur evolutionären Anpassung an Umweltänderungen, was langfristig eine Evolution des Darwin’schen Typs ermöglicht.
Die heutige Biologie sieht den Übergang vom Unbelebten zum Belebten als kontinuierlich an. Aus diesem Grund vermag sie keine vollständige und abgeschlossene Definition des Leben zu geben. Diese Unfähigkeit widerspricht allerdings keineswegs ihrem naturalistischen Programm. Im Gegenteil: Eine vollständige und damit ausschließende Grenzziehung würde per Definition eine Diskontinuität zwischen Unbelebtem und Leben voraussetzen. Dieser Diskontinuität müsste etwas zugrunde liegen, was sich nicht auf Physik oder Chemie zurückführen lässt. Der Anspruch der Biowissenschaftler auf die Möglichkeit einer vollständigen physikalisch-biochemischen Erklärung des Lebens setzt also voraus, dass die konstituierenden Bestandteile einer Definition des Lebens nicht aus eindeutigen Abgrenzungen und irreduziblen Begriffen gebildet werden können. Mit anderen Worten: Eine eindeutige, vollständige und abgegrenzte Definition des Lebens steht geradezu im Widerspruch zum naturalistischen Forschungsprogramm.
Lässt sich Leben nachbauen?
„Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen“, schrieb Arthur Schopenhauer im 19. Jahrhundert und mahnt damit Respekt vor der Einzigartigkeit des Lebens an. Die vollständig künstliche Synthese eines lebenden Organismus würde den wohl entscheidenden Wendepunkt in der Diskussion um Wesens und Ursprungs des Lebens darstellen.
Das erste und bis heute bekannteste wissenschaftliche Experiment zur Simulation der Entstehung des irdischen Lebens führten (wie Dan Brown korrekt aufführt) Stanley Miller und Harold Clayton Urey im Jahre 1953 durch. Darin konnten die beiden Amerikaner zeigen, dass untern den Bedingungen auf unserem Planeten vor ca. 4 Milliarden Jahren (kohlendioxid-reiche Atmosphäre, hoher Säuregehalt in den Meeren, intensive Blitze, etc.) nach verhältnismässig kurzer Zeit zwangsläufig einfache Aminosäuren entstehen, nach etwas längerer Dauer auch komplexere Aminosäuren. Zuletzt entsprachen die erzeugten Aminosäuren genau den 20 Aminosäuren, die wir heute in lebenden Organismen vorfinden. Doch trotz dieser aufsehenerregenden Einsicht bleiben die Details der Entwicklung dieser einfachen Bausteine hin zu Zellen und komplexeren Lebensformen mit Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Evolution bis heute ungeklärt. Hier schlägt Brown eine fiktive Brücke, die alles andere als fakten-belastbar ist und keinerlei Bezug zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung besitzt, indem er seinen Protagonisten den Vorgang im Urey-Miller-Experiment einfach in einer Computersimulation nachrechnen lässt, und zwar in jede einzelnen Detail bis heute (und darüber hinaus). Das ist, gelinde gesagt, stumpfer Blödsinn: Auch ein leistungsfähiger Quantencomputer könnte niemals die komplexen Anfangs- und Randbedingungen in der Ursuppe vor 3.6 Milliarden Jahre bis hin zur Dynamik unserer globalen heutigen Gesellschaft simulieren.
Unstrittig ist, dass wir für eine Erklärung des Lebens und dessen Anfänge auch den neben der Evolutionstheorie zweiten Block der modernen Biologie benötigen, die Genetik. Unterdessen ist es fast 15 Jahre her, dass der genetische Code des Menschen geknackt werden konnte, d.h. die Biochemiker ermittelt haben, welche Kombination von DNA-Bausteinen welche Aminosäuren kodieren und wie sich die Aminosäuren dann in unserem Körper zu den vielfältigsten Proteinen zusammenfügen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alles über unsere genetische Konstitution wissen. Zum einen wissen wir nicht, wofür bestimmte Proteine synthetisiert werden, d.h. wie einzelne Proteine und Proteinkombinationen mit spezifischen Körperfunktionen zusammenhängen. Zum anderen ist die Wechselwirkung zwischen Genen und Proteinsynthese äußerst komplex und bisher nur zu einem Bruchteil verstanden. Auch der Prozess der Proteinfaltung, d.h. wie sich ein Protein in seine dreidimensionale Struktur bringt, ist in vielem noch offen. Hier wäre ein Quantencomputer möglicherweise tatsächlich sehr hilfreich.
Entstehung des Lebens – Das Kernproblem aller möglichen Anfänge
Der Stoffwechsel der ersten Lebensformen bestand wohl im Wesentlichen darin, aus Wasser und atmosphärischem Kohlendioxid organische Substanzen herzustellen. Vereinfacht gesagt: Die Grundsynthese des Lebens bestand darin, Wasserstoff und Kohlendioxid − Ausgangsstoffe, über welche die Atmosphäre der frühen Erde in direkter oder indirekter Form im Überschuss verfügte, welche aber normalerweise nicht miteinander reagieren – in eine komplexere chemische Verbindung zu bringen. Zusammen mit Stickstoffverbindungen (aus dem in der Atmosphäre vorhandenem Ammoniak), Schwefel- und Phosphorverbindungen (die durch Vulkane aus dem Erdinneren an die Erdoberfläche gelangten) und gewissen Metallverbindungen (in den Ozeanen üppig vorhanden) entstand eine gut gewürzte Suppe für die Entstehung des Lebens.
Wie Urey und Miller aufzeigten, können sich unter diesen Bedingungen tatsächlich verschiedene elementare organische Kohlenwasserstoffverbindungen – die ersten „Moleküle des Lebens“ – bilden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war dann der nächste Schritt hin zum Leben die Zusammenballung (die so genannte „Polymerisation“) dieser ersten Biomoleküle (der sogenannten „Monomere“) zu kettenartigen Makromolekülen. Dies konnte nur mit Hilfe von externen Energiequellen geschehen, welche in Form von Sonnenstrahlung, Vulkanen, Radioaktivität oder chemischen Prozessen damals wohl auch reichhaltig zur Verfügung standen. Da die Syntax des genetischen Codes für jedes Lebewesen gleich ist, ist für die Biologen die Annahme mehr als plausibel, dass diese frühen Prozesse für alles heutige Leben auf der Erde, von den einfachsten Bakterien bis zum Menschen, einheitlich abgelaufen sein musste. Und es gab Orte, wo die Umstände für die Entstehung der ersten Moleküle des Lebens so gut wie perfekt waren: vulkanische Quellen in der Tiefsee (sogenannte „Schwarze Raucher“). Hier, so vermuten viele Biologen, entwickelten sich die „chemischen Gärten“, in denen die entsprechenden Reaktionen abliefen, die die ersten komplexeren Moleküle hin zum Lebens entstehen ließen, unter ihnen die Makromoleküle, die in den Stoffwechselreaktionen allen Lebens noch heute die wesentliche Rolle spielen.
Dabei mussten die frühen Lebensformen allerdings zwei grundlegende Probleme lösen. Sie benötigten erstens die in „ihrem Körper“ ablaufenden Prozesse wie Wachstum und Vermehrung eine stetige Energiezufuhr von außen. Schon aus physikalischen Gründen kann es ohne Energie einen solchen „Stoffwechsel“ gar nicht geben: Ein lebender Organismus muss, will er seinen geordneten Zustand aufrechterhalten, die physikalisch unvermeidbare Zunahme der Entropie im Inneren seines Körpers durch von außen zugeführte Energie ausgleichen. Browns stark verkürzte Darstellung, dass Entropie einfach bedeutet, „dass Energie so breit wie möglich verteilt wird“, greift hier derart kurz, dass man dies durchaus wieder in die Kategorie „Blödsinn“ einordnen kann. Zweitens mussten die frühen Lebensformen in der Lage sein, sich selbst zu reproduzieren. Während Energie ausreichend zur Verfügung stand, erwies sich die Vermehrung als wesentlich schwieriger. Da bei allen Lebewesen sowohl für die Speicherung von lebensnotwendigen Information als auch für deren Weitergabe an die zukünftigen Generationen die DNA und RNA zuständig sind, müssen wir bei der Frage nach dem Ursprung des Lebens verstehen, wie aus Kohlenhydraten und Aminosäuren über die ersten Polymere letztlich die RNA bzw. DNA entstehen konnten. Denn ein komplexer Informationsträger wie die RNA kann kaum zufällig entstanden sein.
Hier sind wir beim „Knackpunkt“ einer naturalistischen Erklärung für das Auftreten irdischen Lebens angelangt. Damit auf molekularer Ebene so etwas wie eine Darwin’sche Evolution und damit die Entwicklung zu funktionsfähigen Lebensformen überhaupt in Gang kommen konnte, bedurfte es eines Kriteriums für die natürliche Auslese von Molekülen, bei der sich „verbesserte“ Moleküle mit der Zeit in ihrer Synthese gegen „weniger gute“ Moleküle durchsetzten (ein solchen Prozess der natürlichen Selektion und Evolution auf der Ebene von Molekülen hatte bereits Darwin für möglich gehalten). Ein solcher Prozess setzt jedoch a priori Standards für „Tüchtigkeit“ und „Lebenstauglichkeit“ eines Moleküls voraus. Mit anderen Worten: Es braucht dafür bereits „biologische Information“, und dafür wiederum einen genetischen Code. Erst ein entsprechender genetischer Code, wie primitiv dieser zunächst auch gewesen sein mochte, ermöglichte es den Molekülen, die für die Weiterentwicklung und Selektion notwendige Information zu speichern und zugleich Träger evolutionärer Veränderungen zu sein. Ein klassisches Huhn-Ei-Problem!
Darwinismus versus Kreationismus – Die wirklich offene Frage
Ein bedeutendes fehlendes Glied in der Erforschung der Ursprünge des Lebens und damit zu einer vollständig naturwissenschaftlichen Erklärung des Lebens ist also die Entstehung der biologischen Information. Wie kann aus einer völlig informationsfreien Umgebung, also in einer Welt, in der ausschließlich der Zufall reagiert, überhaupt so etwas wie Information bzw. Bedeutung entstehen? Ihre Entstehung ähnelt der „creatio ex nihilo“ beim kosmischen Ursprung − nur dass es sich hier nicht um Energie oder Materie handelt, sondern um Information. Die Ausgangsstoffe für die ersten RNA-Monomere (Nukleotide) und kürzeren Polymere sowie die notwendige Energie für ihre Herstellung waren im Ur-Ozean sicher ausreichend vorhanden. Phosphate gab es in den heißen Quellen, der Zucker Ribose und die anderen organischen Verbindungen konnten sich in der „Ursuppe“ aus den Kohlendioxid-Wasserstoff-Verbindungen bilden. Aber einzelne RNA-Moleküle können so wenig genetische Information enthalten, wie ein einzelner Buchstabe eine sinnvolle Aussage ergeben kann. Zu diesem Kernproblem der Lebensentstehung können die Biologen auch heute noch keine Antwort geben. Die vage Referenz auf Entropie, dissipative Strukturen und Emergenz, wie sie Brown seinen Protagonisten aufführen lässt, greift hier massiv zu kurz. Also auch hier, beim entscheidenden Punkt, hat uns Brown außer haltlose Spekulation und substanzlosen Nebel nichts Ernsthaftes zu bieten.
So sollte sich der bereits 150 Jahre währende Streit zwischen Kreationismus und Evolutionismus heute nicht mehr um die Frage drehen, ob der Mensch und alle Tiere und Pflanzen irgendwann einmal in ihrer heutigen Form durch eine wie auch immer geartete externe Intelligenz geschaffen wurden. Diese Auffassung kann heute kein informierter Mensch mehr ernsthaft vertreten. Alle Lebewesen auf der Erde sind das Ergebnis einer Evolution, die ihren Ursprung vor ca. 3,5 Milliarden Jahren hatte. Doch ist Streit durchaus angebracht, wenn Biologen behaupten, die genetische Information sei plötzlich und völlig zufällig in Form einer ersten selbstreplizierenden RNA oder einer Vorform davon entstanden, aus welcher heraus sich dann das irdische Leben durch Evolution in seine heutige Form entwickelt hat. Die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Vorgang liegt nahe genug bei null, dass wir ihn getrost ausschließen können.
Und allzu viel Zeit stand zwischen dem Punkt, an dem komplexe Makromoleküle zuerst „überlebensfähig“ waren (d.h. nicht aufgrund der widrigen Bedingungen auf der Erde sofort wieder zerfielen), bis zu den frühesten (bakteriellen) Formen des Lebens, von denen die ältesten uns heute bekannten Fossilien stammen, auch gar nicht zur Verfügung (ca. 250 Millionen Jahre). Dies kann also kein a priori allzu unwahrscheinlicher Prozess gewesen sein. Ein weiterer Grund, warum die Entwicklung erster Formen des Lebens viel schneller abgelaufen sein muss, als wenn sie nur auf einfachen statistischen Schwankungen beruht hätte. Vertreter religiöser Bewegungen berufen sich hier auf einen göttlichen Schöpfungsakt. Naturgemäß lehnen Wissenschaftler eine solche nicht überprüfbare „Ad-hoc-Hypothese“ ab. Doch bis der genaue Ablauf der Entstehung des Lebens geklärt ist und gegebenenfalls im Labor nachvollzogen wurde, wird es kaum möglich sein, religiöse Beschreibungsformen des Lebensursprungs mit den Methoden der Wissenschaften zu widerlegen.
Doch auch wenn die genauen Prozesse und real-historischen Abläufe noch unbekannt sind, zeigt die heutige Molekularbiologie, dass die frühe Entwicklung des Lebens auf der Grundlage rein biologischer Mechanismen prinzipiell möglich sein konnte. Denn unterdessen gibt es durchaus plausible naturwissenschaftliche Erklärungsansätze für den Übergang von unbelebter Materie zu lebendigen Systemen. Eine natürliche Entstehung des Lebens könnte somit durchaus im Einklang mit den bekannten Gesetzen der Physik und Chemie stattgefunden haben, womit der Ursprung des Lebens naturalistisch deutbar wäre. Grundlage für diese Einschätzung sind Entwicklungen in der Physik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen es um die Beschreibung und Modellierung „komplexer selbstorganisierender Systeme“ geht.
Der hoffnungsvollste Weg, die für die ersten Formen des Lebens so bedeutende Entstehung von Information zu erklären, sind Modelle selektiver Selbstorganisation mitsamt katalytischer Unterstützung innerhalb einer Ursuppe von unbelebten Molekülbausteinen, wie sie zuerst von Manfred Eigen und Ilya Prigogine in den 1970er und 1980er Jahren skizziert wurden. Doch stellen selbst die primitivsten Formen von Leben komplexe interagierende Systeme dar, in denen sich die Funktionen der einzelnen Bestandteile, seien es Moleküle oder Zellen, nicht mehr intrinsisch aus sich selbst heraus als separate, individuelle Komponenten begreifen lassen. Die Bestandteile sind keine isolierten, substantiellen Einheiten mehr, sondern lassen sich nur noch „kontextuell“ oder „relational“, d.h. in Bezug auf das gesamte System und die konkreten Umweltbedingungen erfassen. Somit ist die realhistorische Entwicklung des sehr frühen Lebens von vielen spezifischen Randbedingungen und Parametern abhängig, die sich kaum in einem Modell erfassen und darstellen lassen. Wir stehen also auch hier vor einer ähnlichen erkenntnistheoretischen und methodologischen Problematik wie bei der Zufallshypothese.
Genau hier setzt ein zentraler Kritikpunt an Browns Ausführungen ein: Wir kennen die Anfangs- und Randbedingungen gar nicht ausreichend, um den Prozess der Lebensentstehung, wie er real abgelaufen ist, auf dem Computer zu simulieren, geschweige denn zu errechnen, wie von dort der Stand unserer heutigen Zivilisation erreicht wurde bzw. sich darüber hinaus entwickeln wird. Auch ein Quantencomputer kann diese Entwicklung nicht berechnen. Hier entwirft Brown mit Hilfe des Mythos Quantencomputer (versteht ja eh niemand!) ein schlich unmögliches und unsinniges Szenario. Höchstens können wir Szenarien simulieren, wie das Leben in seiner Frühphase entstanden sein könnte.
Der Verweis auf spontane Ordnung durch Emergenz und Selbstorganisation greift im Falle unseres Problems wohl aber auch prinzipiell zu kurz. Denn die Frage ist nicht, wie eine komplexe Ordnung aus einfachen Strukturen entsteht (das ist unterdessen in vielen Fällen sogar verhältnismäßig einfach zu erklären), sondern wie Information entsteht. Ein Tintenklecks (Zufall) oder turbulente Strömungen (mit verwickelter Dynamik) sind hochgradig komplex, jedoch nicht spezifiziert, d.h. ohne jegliche Information. Dagegen ist ein mit Tinte verfasster Text hochgradig spezifiziert, d.h. mit Information versehen (sowie auch komplex). Während wir den Tintenkleks auf einen Zufallsprozess oder eine sehr komplexe Dynamik zurückführen, der sich in seiner Entstehung systematisch, d.h. mathematisch, erfassen lässt, bedarf für die Entstehung der mit der Tinte geschriebene Text eines intelligenten Designs. Noch einmal: Was einer Erklärung bedarf, ist nicht der Ursprung einer komplexen Ordnung, sondern der Ursprung der Information.
So kann auch der wohl prominenteste Anti-Kreationist und Atheist Richard Dawkins trotz aller wortgewaltigen (und teils allzu polemischen) Ausführungen dieses Problem nicht aus der Welt schaffen und auf die Frage „Design (Gott) oder Zufall (Natur)?“ daher auch keine klare und endgültige Antwort finden. Stößt hier vielleicht die naturwissenschaftliche Methode selbst an ihre Grenze? Ist eine Kombination aus Zufall (Willkürlichkeit) und Notwendigkeit (natürliche Gesetze und Umstände) prinzipiell in der Lage, den Ursprung informationsreicher biologischer Komplexität erklären?
Kontextualität – Leben und seine Umgebung
Mit der Quantenphysik sahen sich die Physikergezwungen, die klassische Vorstellung von unabhängigen (atomaren) Substanzen aufzugeben. Nicht einzelne selbstständige Substanzen wie Atome stellen die fundamentale Wirklichkeitsstufe in unserer Welt dar, vielmehr sind es die permanenten Wechselwirkungen, denen diese Bestandteile ausgesetzt und von welcher sie nicht zu isolieren sind. Kann es uns verwundern, dass wir in der Frage nach den Ursprüngen des Lebens auf genau das gleiche Wirklichkeitsverständnis stoßen? Zwar stellt jede Zelle ein strukturell abgrenzbares, eigenständiges und selbsterhaltendes System dar, doch sind die Eigenschaften eines Lebewesens bei weitem nicht alleine aus denen einzelner irreduzibler Zellen zu verstehen. Ohne die äußeren Umstände, d.h. den Kontext, in dem sie lebt, wie Nährumgebung, pH-Wert, andere Zellen etc. bleiben Eigenschaften und Verhalten einer einzelne Zelle weitgehend unbestimmt. Wie die Genforscher heute wissen, gilt das sogar auf Stufen unterhalb der Zelle. Denn zuletzt lässt sich auch die DNA nicht ausschließlich aus sich selbst heraus verstehen. Biologen können unterdessen äußere, d.h. nicht in der DNA kodierte, Faktoren bestimmen, welche die Aktivität einzelner Gene steuern. In anderen, etwas fachspezifischeren Worten: Auf den Phänotyp wirken auch außerhalb der Genexpression Faktoren, die im Genotyp nicht explizit vorgegeben sind. Es handelt sich um (oft gar vererbbare) Veränderungen in der Genomfunktion, die zusätzlich zu den direkt durch die mit der DNA-Sequenz gegebenen Genfaktoren wirken und ihren Ursprung zumeist in Umwelteinflüssen haben, denen das Lebenswesen ausgesetzt ist. Die Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von „Epigenetik“.
Epigenetische Wirkungsmechanismen zeigen auf, was Psychologen, Pädagogen und Soziologen schon lange behaupten: Lebewesen sind weit mehr als nur das Ergebnis der spezifischen Gensequenz ihres Genotyps, sondern erhalten ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten immer auch durch Wechselwirkung mit der Umgebung, in der sie leben. Ein Begriff, der (neben „Emergenz)“ in diesem Zusammenhang oft fällt und der ursprünglich von den verwirrenden Eigenschaften der Quantenphysik geprägt wurde, ist „Kontextualität“.
Damit wird der langen Auseinandersetzung zwischen reduktionistischen (nur die Eigenschaften der Einzelteile berücksichtigenden) und holistischen (nur das Gesamtsystem betrachtenden) Denkströmungen in der Diskussion um Wesen und Ursprungs des Lebens eine interessante neue Dimension hinzugefügt. Der von Biologen wie Craig Venter suggerierte Reduktionismus, nach dem sich das Leben und sein Ursprung allein aus einer Beschreibung und Zusammenführung der einzelnen Komponenten und ihrer entsprechenden historischen Evolution erklären lassen, trifft auf methodische Grenzen. Können Biologen durchaus generelle naturalistische Erklärungen finden, wie das Leben entstanden sein könnte, so müssen wir erkennen, dass aufgrund unserer Unkenntnis der genauen Umgebungsparameter, d.h. der geologischen, chemischen und biologischen Randbedingungen bezüglich der konkreten Prozesse und real-historischen Abläufe, wie das Leben entstanden ist, wohl eine grundsätzliche Unklarheit darüber verbeiben muss, bis wir die Umstände der Urzeit der Erde vor ca. 4 Milliarden Jahren im Detail kennen. Denn anders als in der Physik, wo die Randbedingungen kontingent sind, d.h. nicht aus den Theorien abgeleitet werden können, sind sie dies in der Biologie der Lebensentstehung nicht. Vielmehr stehen sie selbst im Zentrum einer potenten biologischen Theorie. Mit anderen Worten, die spezifischen Umstände, unter denen das Leben entstand, spielen eine wesentliche Rolle.
Wie hält es die Biologie mit der Religion? − Gott und die Entstehung des Lebens
Betrachten wir die persönlichen Überzeugungen der heutigen Biologen, so erkennen wir, dass sich die meisten von ihnen, wenn es um die Frage nach dem Beginn des Lebens geht, von Gott und der Religion abgewandt haben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Eigenschaften einzelner Lebewesen oder die Entwicklung eines komplexen Organismus aus einer einzigen befruchteten Eizelle nicht auch Biologen als Wunder erscheinen können. Die genau aufeinander abgestimmten Organe und Funktionseinheiten von Lebewesen, ihr immer wieder erstaunlich zweck- und zielgerichtetes Verhalten und ihre nahezu perfekte Angepasstheit an die äußeren Umstände versetzen gerade sie immer wieder in Erstaunen.
Dies verleitet viele zum Glauben, dass eine höhere Absicht im Spiel war, eine planende Entität, die sich bei all dem doch etwas gedacht haben muss. Die (lang gehegte) Vorstellung, dass die Natur als Ganzes einen tieferen Sinn besitzt und ihre Entwicklung intentional progressiv, also in Richtung einer Höherentwicklung verläuft, ist in der modernen Biologe unterdessen allerdings gründlich erschüttert worden. Die Biologen finden keinerlei Evidenz und auch kein vernünftiges Argument für die Annahme, dass die Evolution irgendein Ziel anstrebt oder einen Sinn manifestiert. Der berühmte Evolutionsbiologe Ernst Mayr formuliert dies wie folgt.
Es existieren weder ein Programm noch ein Gesetz, die in der Lage wären, biologische Evolution teleologisch zu erklären oder vorherzusagen: Darüber hinaus besteht kein Bedarf mehr an einer teleologischen Erklärung: Der Darwin‘sche Mechanismus der natürlichen Auslese mit seinen Zufälligkeitsaspekten und Einschränkungen ist völlig ausreichend.
Doch auch dies hilft uns im Kern der Frage nach dem Ursprung des Lebens nicht weiter. Wir erkennen, wo das wahre offene Problem einer naturalistischen Erfassung dieser Frage liegt: Alle bisherigen Versuche, eine klare und eindeutige Erklärung für den Ursprung biologischer Information zu finden, sind fehlgeschlagen.
Dieses Scheitern verleitet einige wenige Biologen dazu, in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Aus dem „Am Anfang war das Wort“ im Prolog des Johannesevangeliums wird dann „Am Anfang war die Information“. Die zukünftige Diskussion zwischen Naturwissenschaften und Glauben sollte an diesem Punkt ansetzen. Dies wird den Lesern Dan Browns leider vorenthalten.