Opfer einer Pandemie, Kritiker der wissenschaftlichen Rationalität – Zum 100. Todestag von Max Weber
Im Jahr 1788 schrieb Friedrich Schiller das Gedicht Die Götter Griechenlandes. Es ist ein Klagelied gegen die mechanische Philosophie und ontologische Kälte der modernen Naturwissenschaft, und zugleich ein Loblied auf den Zauber und den Mythos, wie sie in der Götterwelt der Antike ihren Ausdruck fanden. Darin heisst es:
[…] Unbewußt der Freuden, die sie schenket,Nie entzückt von ihrer Trefflichkeit,
Nie gewahr des Armes, der sie lenket,
Reicher nie durch meine Dankbarkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur!
[…]
Das «Gesetz der Schwere» war Newtons Gravitationsgesetz, mit dem dieser der Welt ihre erste «Weltformel» geschenkt hatte, ein erstes abgeschlossenes Theoriensystem, woraus die Naturwissenschaft ihren radikalen Anspruch ableitete, alles Naturgeschehen ableiten und berechnen zu können. Zu Schillers Bedauern drohte dieser Anspruch, das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichem und spirituellem Denken gravierend zu verändern.
129 Jahre später, im Jahre 1917 – aus der naturwissenschaftlichen Revolution waren unterdessen mindestens zwei technologische und zahlreiche andere Revolutionen hervorgegangen – blies Max Weber, der bekannteste Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf» ins gleiche Horn:
„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also […] daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbare Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“
In Webers Weltsicht zerstört die Wissenschaft mit ihrer Rationalität alles Geheimnisvolle und nicht direkt Erfahrbare, also Transzendente, und damit auch jeden Bezug auf Spiritualität. Er begegnete der steigenden Konfrontation gegensätzlicher religiöser Werte, spiritueller Vorstellungen, politischer Ideen, wirtschaftlicher Interessen und der immer weitergehende Erklärungskraft von Physik, Chemie und Biologie mit einer Mischung aus Entfremdung, Faszination und kühler Rationalität. Es war sein erklärtes Ziel, die treibenden Kräfte der modernen Gesellschaft zu erfassen. Wie sein Landsmann Karl Marx 50 Jahre vor ihm fand er diese im Kapitalismus. Anstatt ihn aber als vorübergehende Episode in einer bereits vorbestimmten historischen Entwicklung so schnell wie möglich zu überwinden, wollte Weber den Kapitalismus erst einmal genauer verstehen. Dabei kam er auf seine bekannte und bis heute umstrittene These von der Geburt des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik. In der Religion sah Weber eine Kernkraft der Gesellschaft. Damit wollte er die Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungswege der Kulturen des Okzidents und des Orients und damit die charakteristischen Elemente der westlichen Zivilisation erklären.
Doch sah er in der protestantischen Gesinnung nicht die einzigen Faktoren dieser Entwicklung. Unter anderem erkannte er den Rationalismus des wissenschaftlichen Strebens und die Verschmelzung der Beobachtung mit der Mathematik als einen charakteristischen Teil der westlichen Kultur, die für ihn allerdings mit einem Niedergang des Glaubens an die Magie einhergehen, ein Prozess, den er ganz im Sinne Schillers als «Entzauberung der Welt“ bezeichnete und bedauerte. Dass diese zugleich eine technologische Umwälzung hervorgebracht hat, deren Produkte für seine Vorfahren von nur wenigen Jahrzehnte zuvor von Magie kaum zu unterscheiden sind, stellt den Kontext seines berühmten obigen Zitats dar, dem er Folgendes anfügt:
„Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche. ”
Zu einer ganz anderen Einschätzung zum Wirken und Schaffen des modernen Naturwissenschaftlers kam nahezu zur gleichen Zeit der wohl bedeutendste dieser Zunft, Albert Einstein. Einstein beschreibt ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht des Naturwissenschaftlers vor dem Magischen, dem Geheimnisvollen der Natur:
„Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion und sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. Zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unseren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. ”
In Anbetracht des Spanungsfeldes zwischen der Erhabenheit und Erklärungskraft der Naturgesetze und dem immer noch geheimnisvollen Wesen des Unerklärten in der Welt kann gemäss Einstein kaum ein Wissenschaftler davon ausgehen, dass der Zauber aus der modernen Welt verbannt sei.
Verschiedener könnten also die Einschätzungen des bedeutendsten Physikers und des bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts kaum sein. In Anbetracht ihre beider Grösse kann es nur als Anmassung erscheinen, ein eigenes Urteil zu fällen. Doch spiegelt sich in dieser so grundverschiedenen Einschätzung bezüglich des von Einstein subjektiv-erlebten und von Weber objektiv-normativ beanspruchten Hintergrunds der heutigen Wissenschaft nicht vielleicht ein guter Teil der Gegensätzlichkeit zwischen Wissenschaft und Spiritualität selbst wider? Handelt es sich hier vielleicht gar um ein Missverständnis bezüglich ihrer beider Wesen, in dessen Konsequenz Wissenschaft bzw. rationales Denken und Spiritualität als unvereinbare Gegensätze angesehen werden müssen?
Es ist erstaunlich: Albert Einstein, die Galionsfigur der Wissenschaft, beschreibt gerade das Geheimnisvolle und das mit ihm kommende und empfundene (subjektive) Gefühl der Erhabenheit als Quelle wissenschaftlichen Strebens überhaupt. Zahlreiche andere große Naturwissenschaftler wie Niels Bohr oder der Heisenberg-Schüler Hans-Peter Dürr äußerten sich in ähnlicher Weise. Dieses Staunen vereint Naturwissenschaftler und Menschen, die sich als spirituell bezeichnen. Unterschiedslos empfinden sie tiefe Ehrfurcht und anstachelnde Neugier angesichts der Schönheit der Natur, der Vielfalt ihrer Gestalten und der Mächtigkeit ihrer Gewalten, aber auch über den Reichtum unserer eigenen geistigen Erfahrung, der „Phänomenologie unseres Geistes“, wie es die Philosophen ausdrücken. Weber, der Soziologe schreibt hingegen (weiter unten in seinem Aufsatz):
„Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen […] Und nicht nur für das religiöse, nein für das Erlebnis überhaupt. “
Bereits die antiken Philosophen Platon und Aristoteles erkannten, dass der Ursprung wissenschaftlicher und philosophischer Bemühungen in unserem tiefen Staunen (griech. θαυμάζειν) liegt. So schreibt Aristoteles:
„Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Ungeklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, zum Beispiel über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls.“
Platon meinte seinerseits:
„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“
Und noch Thomas von Aquin schrieb im späten Mittelalter:
„Das Staunen ist eine Sehnsucht nach Wissen.”
So sind es doch die „Wunder“ der Natur, die uns zum „Wundern“ führen. Erst von dort geht es zum Wissen. Von einer „Entzauberung der Natur“ kann keine Rede sein. Heute wissen wir weit mehr als vor 100 Jahren über die Welt. Und doch gibt es eher mehr als weniger Geheimnisse. An Gründen, uns zu wundern, mangelt es uns bis heute nicht.
Max Weber starb vor genau 100 Jahren, am 14. Juni 1920 – im Übrigen, und das ist inmitten der heutigen Corona-Krise besonders bemerkenswert: an der Spanischen Grippe.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Es braucht für die Wissenschaft beide Seiten. Die Spiritualität gibt die Impulse und die Motivation, die Welt zu erforschen. Sie gibt der Wissenschaft Sinn. Sodann braucht es aber Rationalität, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Wissenschaftliche Methoden müssen zwangsweise rational sein, um dem Anspruch an die Objektivität gerecht zu werden.