Noch eine Öko-Krise – Und keiner merkt es

Autofahrer haben es längst gemerkt: Die Zahl der Insekten nimmt ab. Im Vergleich zu früher ist die Windschutzscheibe nach dem Rasen auf der Autobahn kaum mehr mit den lästigen Viechern beschmiert. Was für deutsche Schnellfahrer vielleicht angenehm ist, hat das Potenzial, sich zu einer globalen Ökokatstrophe zu entwickeln. Für manche Ohren mag dies alarmistisch klingen, und genau das soll es auch: Man kann ohne weiteres davon ausgehen, dass mit einer massiven Reduktion oder gar dem Aussterben von Insekten das Leben auf diesem Planeten, wie wir es kennen, nicht mehr möglich wäre. Unsere Nahrung, frisches Wasser, Hygiene und Sauberkeit, all dies ist mit dem Verschwinden der Insekten bedroht. Denn diese sind so etwas wie die Multitasker unseres Ökosystems: Nutz- und Wildpflanzen brauchen sie zum Bestäuben (nach Auskunft des Weltrats für Biologische Vielfalt (IPBES) hängen fünf bis acht Prozent der aktuellen Nahrungspflanzenproduktion direkt von der Bestäubung durch Insekten ab. Dies entspricht einem jährlichen Marktwert von vielen hundert Milliarden Euro), der Abbau von Müll und unseren Exkrementen geschieht zum grössten Teil über Insekten, vielen Tieren, insbesondere Amphibien, Vögeln und Fischen, dienen Insekten als Nahrung, d.h. ohne Insekten keine Frösche, Lerchen oder Forellen. Aber ohne Insekten gibt es auch keine Zersetzung des Kuh- oder Wildkots. Stellen wir uns nur einmal vor, überall liegen Exkremente herum. Als in Australien Kühe importiert wurden, wurde dieses Szenario zur Realität. Denn die Käfer, die ihn verwertet hätten, gab es dort nicht. Die heimischen Käfer waren nur auf Känguru-Dung spezialisiert. Das Problem konnte nur durch den Import von Dungkäfern aus Südafrika gelöst werden.

Bereits vor 18 Monaten schlugen in Deutschland Experten Alarm. Eine Studie mit Daten von unzähligen ehrenamtlichen Insektenzählern kam zum Schluss, dass die Insektenzahlen in Deutschland dramatisch zurückgehen. Hat es jemand mitgekriegt? Hat die Presse breit drüber berichtet? Oder war Deutschland vielleicht nur ein Einzelfall? Die letzte Frage hat nun eine wissenschaftliche Übersichtsstudie der Forscher um den australischen Ökologen Francisco Sánchez-Bayo vom Sydney Institute of Agriculture beantwortet (Francisco Sánchez-Bayo, Kris, A. G. Wyckhuys, Worldwide decline of the entomofauna: A review of its drivers, Biological Conservation, Volume 232, April 2019, S.8). Es handelt sich dabei um die erste umfassende wissenschaftliche Analyse zum Rückgang von Insektenpopulationen weltweit. Die Autoren präsentieren einen Überblick über 73 historische Berichte, hauptsächlich aus Nordamerika und Europa, und bewerten systematisch die hinter dem Rückgang liegenden Treiber. Ihr Bericht liest sich wie eine Horrorstory. Er zeigt die dramatischen Rückgänge auf, die in den nächsten Jahrzehnten zum Aussterben von 40% der weltweiten Insektenarten führen können. Darunter befinden sich Schmetterlinge (Rückgang von über 50%), Käfer (Rückgang von fast 50%) und Hautflügler, zu denen Ameisen, Wespen und Bienen (minus 45%) gehören, sowie zahlreiche Wasserinsekten. Bei fast der Hälfte aller Arten sinkt die Zahl der Insekten. Die gesamte globale Insektenmasse schrumpft pro Jahr um 2.5 Prozent. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, könnten innerhalb eines Jahrhunderts weitgehend alle Insekten verschwunden sein, so die Autoren. „Die Auswirkungen, die diese Entwicklung auf das Ökosystem des Planeten sowie auf das Überleben der Menschheit haben wird, sind katastrophal“, sagt Sánchez-Bayo.

Die Hauptursachen für den Artenrückgang sind, so schreiben die Wissenschaftler (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung): i) Verlust von Lebensraum durch die Umstellung auf monokulturelle Landwirtschaft (ein Acker mit nur einer Pflanzenart ist für die meisten Insekten so wertvoll wie ein geteerter Parkplatz), sowie durch Urbanisierung, beispielsweise den Bau von Strassen und Häusern; ii) Verschmutzung und Vergiftung der Lebensräume von Insekten, hauptsächlich durch synthetische Pestizide und Düngemittel (die Autoren glauben, dass neue Klassen von Insektiziden, die in den letzten 20 Jahren eingeführt wurden, darunter Neonicotinoide und Fipronil, besonders schädlich waren, da sie routinemässig verwendet werden und sich nicht zersetzen); iii) biologische Faktoren wie eingeführte fremde Arten, die die Vielfalt heimischer Insekten bedrohen; und iv) der Klimawandel. Der letztere Faktor ist besonders in tropischen Regionen von Bedeutung, betrifft jedoch innerhalb der gemässigten Zonen nur eine Minderheit von Arten in kälteren Gegenden und Gebirgslagen.

Nur selten werden Wissenschaftler in ihren Aussagen derart konkret, verwenden so klare Worte und verbinden ihre Arbeiten mit einem Aufruf zu greifbaren Massnahmen. „Wir wollen die Leute aufwecken“, sagt Sánchez-Bayo, und Gutachter und Editoren waren hier einer Meinung, fügt er hinzu. Der Bericht empfiehlt explizit ein Umdenken in Bezug auf die derzeitigen landwirtschaftlichen Praktiken, um die gegenwärtigen dramatischen Trends zu verlangsamen oder gar zu stoppen und die ökologisch so wichtigen Funktionen von Insekten zu bewahren. Die Autoren erwähnen insbesondere die Überwindung der Monokulturen und eine erhebliche Verringerung des Pestizideinsatzes. Um das Insektensterben aufzuhalten, müsste die Landwirtschaft grossflächig umgestellt werden. Wir müssen wieder mehr strukturreiche Lebensräume, wie Wiesen, Buschlandschaften, etc. schaffen, anstatt nur Weizenfelder und Apfelbaumplantagen. Felder müssten insektenfreundlicher gestaltet werden, etwa mit Blühstreifen und Hecken an ihren Rändern. Ein sparsamerer Einsatz von Pestiziden und Dünger muss den Lebensraum der Insekten schützen.

Der Umfang des globalen Insektensterbens hat selbst Experten schockiert. Dazu muss man wissen, dass Studien zu Insektenzahlen oft mit grossen Unsicherheiten verbunden sind. Beim Insektenbestand gibt es teils starke jährliche Schwankungen, abhängig vom Wetter eines Jahres (so können beispielsweise kalte Winter mit viel Schnee die Bestände dezimieren). Daher sind Studien über lange Zeiträume wichtig, wenngleich sehr aufwendig und mühsam. Ebenso wichtig ist es, diese vielen lokalen Studien dann zusammenzufassen, um einen globalen Trend aufzuzeigen. Letzteres hat die Studie von Bayo nun zum ersten Mal gemacht.

Wie so oft reagiert sowohl die Journalisten- wie auch die Politikerzunft nur zögerlich. Der Bericht wurde in der Tagespresse kaum erwähnt, und wenn dann nur auf den hintersten Seiten (mit Ausnahme des englischen Guardian und der Huffington Post). In unseren Mainstream-Nachrichten ist eben selten von bedeutenden wissenschaftlichen Entwicklungen die Rede, während uns das alljährliche nutzlose Stelldichein einer selbsterklärten Weltelite in Davos oder eine haltlose zweiseitige Kampfschrift von Gegnern von Schadstoffbegrenzungen in allen Einzelheiten beschrieben werden. Politiker wie die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner wiegeln ihrerseits nur ab und fordern erst weitere Erkenntnisse, bevor konkrete politische Initiativen gestartet werden können. Es ist immer das gleiche Muster: Mit der Forderung nach mehr Wissen werden notwendige Schritte immer weiter hinauszögern, bis es zu spät ist. Dabei kann der ehemaligen Weinkönigin wohl kaum zugemutet werden, solche wissenschaftlichen Studien selbst zu lesen. Wo sind diejenigen, die sie über den tatsächlichen Stand der Forschung aufklären?

Doch dass wir Bürger Dinge in die Hand nehmen können, um gegen beängstigende Entwicklungen entschlossen vorzugehen, wenn Politiker und Regierungen zu träge, betriebsblind oder von mächtigen Lobbygruppen kontrolliert werden, zeigt das Beispiel der Volksinitiative zum Schutz der Bienen in Bayern vom Januar 2019. Die Menschen standen Schlange, um diese Initiative zu unterschreiben, ganz so als ob Helene Fischer Freikarten für ihr nächstes Konzert verteilen würde. Die Initiatoren von der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) setzen die CSU geführte bayrische Landesregierung damit massiv unter Druck. Mit dieser Studie haben sie nun ein weiteres starkes wissenschaftliches Argumentationsfundamt gewonnen.

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