Nobelpreis für Physik 2022 – Für die Beantwortung einer Frage aus der ganz frühen Quantenphysik
Es kam bisher nicht vor, dass der Physik-Nobelpreis für ein Experiment vergeben wird, das sich auf ein fundamentales Problem der Physik von vor über 90 Jahren bezieht und dieses letztendlich zu lösen vermochte. Der Preis für 2022 ist ein solch einmaliger Fall: Neben Anton Zeilinger, der in den 1990er Jahren schon Anwendungen dieser grundlegenden Einsicht in der Physik entwickelte, erhielten John Clauser und Alain Aspect den Nobelpreis für die letztendliche Beantwortung der bis dahin offenen fundamentalen Frage der Quantenphysik: Gibt es in der Natur das Phänomen, dass Teilchen, die sehr weit voneinander entfernt sind, dennoch in direktem Kontakt miteinander stehen können? Äquivalent zu dieser Frage ist die, ob es in der Quantenphysik keine versteckte Variablen gibt. Diese Frage wurde von Alain Aspect 1982 (in seiner Doktorarbeit) beantwortet.
Um diese Frage zu erläutern und ihre grundlegende Bedeutung für die Physik sowie das Fundament einer die Zukunft vermutlich ebenso grundlegend prägenden Applikation auch Nicht-Physikern zu erläutern, wollen wir zunächst einmal ihr historisches Fundament betrachten. In der 1925 von (neben Erwin Schrödinger) Werner Heisenberg entwickelten Quantentheorie befand sich ein für die Nano-Welt bedeutendes Charakteristikum: Bestimmte Variablen eines Teilchens, wie z.B. dessen Ort und Impuls, lassen sich nicht mehr gleichzeitig beliebig genau bestimmen (Physiker sprechen von der «Heisenberg’schen Unschärferelation»). Für viele Physiker war dies eine grundlegende neue und für manche – wie Albert Einstein – nicht akzeptable Eigenschaft von Quantenteilchen. Letztere postulierten zur Erklärung Variablen, die nicht messbar sind, so genannte «versteckte Variablen», die den Teilchen letztendlich die «klassischen Eigenschaften zurückgeben» sollten. Doch im Jahre 1932 gab der grosse, damals aber noch recht junge, Mathematiker John von Neumann einen Beweis dafür bekannt, dass es solche verborgenen Variablen nicht geben kann. Damit schien das Problem ein für alle Mal gelöst – auch wenn sich Einstein noch Zeit seines Lebens dagegen wehrte. Schrödinger, ebenfalls kein Anhänger der nun mehrheitlich vertretenen Quantendeutung, führte 1935 als Konsequenz der Abwesenheit von versteckten Variablen ein Prinzip ein, dass Quantenteilchen damit auch über beliebig grosse Entfernungen miteinander – sogar auch mit makroskopischen Teilchen – verkoppelt («verschränkt») sein können, etwas, das in unserer alltäglichen Welt nicht möglich ist. So schrieb er:
„Sie [die Ψ-Funktion des Messobjektes] hat sich, nach dem zwangsläufigen Gesetz der Gesamt-Ψ-Funktion, mit der des Messinstrumentes verheddert (…)“
Doch hatte von Neumanns scheinbar unwiderlegbarer Beweis ein grosses Problem: Er war schlicht und einfach falsch. Über dreissig Jahre lang kam es niemandem in den Sinn, dem grossen John von Neumann zu widersprechen. Die bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, von Bohr über Heisenberg bis zu Pauli, von Dirac über von Weizsäcker bis zu Feynman, nahmen den Beweis widerspruchslos als gültig an. Sogar Schrödinger und Einstein, die doch ein starkes Interesse daran hatten, jedes Argument zu hinterfragen, das diese Quantendeutung (die sogenannte «Kopenhagener Deutung») stützte, kamen nicht auf die Idee, von Neumanns Beweis in Zweifel zu ziehen. Nur eine einzige Person erkannte gleich zu Beginn, ebenfalls 1935, den Fehler in dessen mathematischer Herleitung: Grete Hermann. Überraschenderweise hatte ihr klarer (und gar nicht so schwer verständlicher) Gegenbeweis[1] lange Zeit keine Konsequenzen für die Quantenphysik. Es war, als hätte sie ihre Arbeit nie veröffentlicht.
Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde die Diskussion um verborgene Variablen in der Quantenwelt erneut aufgenommen. Man hatte in der Zwischenzeit zwar technologisch gewaltige Fortschritte in der Anwendung der Quantenphysik machen können – vom Laser im CD-Player bis zum modernen Computer, doch in der Beantwortung der Frage, wie die Phänomene der Quantenwelt im Detail zu erklären seien, war man noch nicht viel weitergekommen.
Es war der nordirische Physiker John Bell, der die Unzulänglichkeit des von Neumann’schen Beweises ein zweites Mal ans Licht brachte. Er kam dessen Fehler 1964 auf die Spur. Die Physikergemeinschaft musste anerkennen, dass in der Quantenwelt möglicherweise doch verborgene Variablen existieren. Ein Teil von Bells Aufsatz erklärte genau das – teils gar in ähnlicher Formulierung –, was Grete Hermann über dreissig Jahre zuvor schon längst herausgefunden hatte. Doch Bell ging in seiner Veröffentlichung einen Schritt weiter. Es gelang ihm, in Form einer Ungleichung ein mathematisches Kriterium anzugeben, das die Umstände benennt, unter denen verborgene Variablen in einer Quantentheorie auftreten können. Wenn jemand nachweisen konnte, dass die Bell’sche Ungleichung nicht zutrifft, wäre gleichzeitig bewiesen, dass es keine verborgenen Variablen gibt. Das Sensationelle an der Bell’schen Ungleichung war, dass sie nur experimentell überprüfbar ist. Theoretisch ging es nicht.
In den folgenden Jahren versuchten Physiker, ein Experiment zu kreieren und durchzuführen, dessen Ergebnis die Bell’sche Ungleichung verletzt. Ein erfolgreiches Experiment gelang jedoch erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Es war das Jahr 1982, in dem es Alain Aspect endlich gelang, eindeutig eine Verletzung der Bell’schen Ungleichung experimentell zu zeigen. Dies leitete 50 Jahre nach Grete Hermanns Widerlegung einen neuen Aufschwung für die Grundlagenforschung in der Quantenphysik ein. Unter anderem war nun der Weg frei für ein tieferes Verständnis der Verschränkung räumlich getrennter Teilchen, wie sie Schrödinger bereits 1935 eingeführt hatte. Die neuen Erkenntnisse in der Theorie beflügelten wiederum die technologische Anwendung der Quantentheorie. Zum Beispiel folgte aus dem experimentellen Nachweis der Existenz verschränkter Teilchen die Vision von Quantencomputern, die Richard Feynman, ebenfalls in den frühen 1980er Jahren, artikulierte, und deren ersten experimentellen Schritte Anton Zeilinger in den 1990er Jahren umsetzte. Endlich wurde dafür nun der Physik-Nobelpreis vergeben.
[1] Siehe Lars Jaeger, Emmy Noether – Ihr steiniger Weg an die Weltspitze der Mathematik, Süd-Verlag (2022)
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Diese „Lösung“ des physikalischen Problems zeigt damit aber auch endgültig, dass die Welt der Quanten eine ganz andere ist als unsere Alltagswelt. Dadurch wird eine alte philosophische Frage wieder aktuell: Ist diese unsere Alltagswelt (und damit auch wir selbst) in letztendlicher Hinsicht eigentlich real, wenn selbst das materielle Sein wie bei Schrödingers Katze sich in einem Schwebezustand zwischen Sein und Nicht-Sein befinden kann? Sind wir letztlich auch nur so ein Phänomen wie eine in der Sonne geschmolzene Schneeflocke?
In seinem Buch „Wissenschaft und Spiritualität“ hat Lars Jäger geschrieben: „Quantenobjekte besitzen keine Realität mehr, sondern nur noch ‚Potenzialität’“. Diese Potenzialität wird durch das Gedankenexperiment von „Schrödingers Katze“ veranschaulicht, die sich in einem Kasten in einem Zustand zwischen tot und lebendig bzw. zwischen Sein und Nicht-Sein befindet. Im Sinne der Quantenmechanik bleibt dieser indifferente Zustand so lange erhalten, bis jemand den Deckel des Kastens öffnet und in seinem Bewusstsein erkennt, ob die Katze tot oder lebendig ist.
Die Frage war bisher, ob es nicht doch verborgene Variablen gibt, die diese nicht-reale Potenzialität der Quantenphysik doch wieder in unsere gewohnte Realität verwandeln bzw. unserer gewohnten Alltagsrealität eine entsprechende bestätigende Grundlage gibt. Die endgültige Klärung dieser Frage wurde jetzt mit den Nobelpreis gewürdigt, denn, mit den Worten von Joachim Ullrich, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG): „Die Experimente von Aspect, Clauser und Zeilinger zeigen uns, dass die Physik der Quanten eine ganz andere ist als das, was wir um uns herum sehen und typischerweise erleben“.
Kennzeichnend für unsere Zeit ist dabei, dass diese jetzt gesicherte Erkenntnis nur auf ihre praktische, materiell-profitable Verwendung etwa als Quantencomputer bezogen wird. Eine geistig-philosophische Anwendung interessiert nicht. Wird entgegen diesem eingeschränkten Zeitgeist danach gefragt, was das philosophisch bedeutet, so kann festgestellt werden, dass durch die Quantenphysik Kant in seiner Aussage bestätigt wird, dass die Dinge der Welt nicht real, sondern nur erscheinungshaft sind – und dabei von unserem Geist abhängen. Dieser Sachverhalt und Bezug lässt sich bei Kant insbesondere in der folgenden Aussage finden, in der er praktisch die Ergebnisse der Quantenphysik – natürlich nicht konkret als solche, jedoch vom Grundmuster her – vorausgesehen hat:
„Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. Jene transzendentalen Fragen aber, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem dem doch niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung, als der unseres inneren Sinnes, zu beobachten. Denn in demselben liegt das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit. Ihre Beziehung auf ein Objekt, und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei, liegt ohne Zweifel zu tief verborgen, als daß wir, die wir sogar uns selbst nur durch inneren Sinn, mithin als Erscheinung, kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes, als immer wiederum Erscheinungen, aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten.“ (Kant KRV, B 334)
Kant hat das Entscheidende in dem folgenden Satz zusammengefasst: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“ (Kant KRV, B332-333).
Kant war jedoch nicht der Erste, der die Realität der Welt und unseres Seins darin hinterfragt hat und zu Erkenntnissen gelangt ist, die heute durch die Quantenphysik bestätigt werden. So ist bei Jens Halfwassen in seinem Buch „Plotin und der Neuplatonismus“ zu lesen: „Plotin deutet also die Weltschöpfung als die zeitlose Hervorbringung der gesamten erscheinenden Welt und der ihr zugrundeliegenden Materie durch die Seele.“ Der Neuplatonismus ist sogar noch weiter als Kant gegangen, indem dort eine Erkenntnisformel entwickelt wurde, die den Umgang mit einem absoluten Einen lehrt, wobei dieses Absolute wie bei Kant in seiner absoluten Transzendenz bestehen bleibt: das trinitarische Erkennen.
Doch dieser besonderen höchsten Erkenntnis des eigentlichen Wesens dieser Welt wurde dann in einem bis heute nachwirkenden Wendepunkt der abendländischen Geistesgeschichte ein Ende bereitet, das bis heute selbst die Quantenphysik in ihrem Umgang mit ihren seltsamen Erkenntnissen beeinflusst. Denn das entstehende Christentum hat die höchste Erkenntnis des neuplatonischen trinitarischen Erkennens zu ihrem neuen, vom Judentum so sehr unterschiedenen Gottesbild gemacht – allerdings mit der entscheidenden Verfälschung, dass das neuplatonische trinitarische Erkennen zu realen göttlichen Personen verwandelt wurde und es damit nicht mehr um das wahre Erkennen der Relativität der Welt und des Seins ging, sondern um das genaue Gegenteil davon, der „Rettung“ des als real angenommenen eigenen Seins in alle Ewigkeit. Von daher ist folgende Aussage von Halfwassen zu verstehen: „Es gehört zu den merkwürdigsten Ironien der Geschichte, dass ausgerechnet der erklärte Christenfeind Porphyrios mit seinem trinitarischen Gottesbegriff, den er aus der Interpretation der Chaldäischen Orakel entwickelte, zum wichtigsten Anreger für die Ausbildung des kirchlichen Trinitätsdogmas im 4. Jahrhundert wurde.“
Im Buddhismus ist praktisch das gleiche geschehen. Der thailändische Mönch Buddhadasa Bhikku sagt in seinem Buch „Paticcasamuppada, Pratical Dependent Origination“, dass so gut wie der gesamte heutige Buddhismus ein Rückfall in den Hinduismus mit seiner festen Seele ist, da die Wiedergeburt auch im Buddhismus wieder als ein Geschehen über den Tod hinweg und nicht als ein Augenblicksgeschehen im Bewusstsein verstanden wird, in dem von Augenblick zu Augenblick die Illusion eines Ichs geboren wird – wobei dieser Wiedergeburtsprozess mit dem individuellen Tod sein Ende hat. Das Wiedergeburtsverständnis über den Tod hinweg vermittelt dagegen, dass das Ich real ist und den Tod überdauert.
Kann der Mensch mit einem falschen Selbst- und Weltverständnis in einem begrenzten und überbevölkerten Lebensraum auf Dauer überleben? Nein, und das zeichnet sich in den heutigen Krisen ab. Aber der Mensch ist wie in der Religion so sehr von seiner realen Existenz überzeugt, die er mit den Mitteln der Technik jetzt sogar scheinbar hier auf der Erde perfektionieren kann, dass er es strikt ablehnt, ein mögliches Scheitern auch nur in Betracht zu ziehen – und so wird auch die jetzige Erkenntnis in der Quantenphysik ausschließlich dazu verwendet, das angenommene reale Sein mit Quantencomputern usw. weiter zu perfektionieren. Doch wenn der Mensch die letztendliche Wahrheit dieser Welt und seines Seins darin entgegen seinem mächtigsten Urinstinkt nicht geistig verwirklicht, so wird er sie unter den heutigen Umständen existentiell vollziehen.