Mit Künstlicher Intelligenz an die Weltspitze – Die Sicht der deutschen Bundesregierung

Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde die breite Öffentlichkeit vom Sieg des Google-Computers AlphaGo über den Go-Weltmeister Lee Sedol überrascht. Blitzartig wurde vielen klar, wie weit die Lernalgorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI) bereits sind. Denn beim Go-Spiel kommt es auf Intuition und Kreativität weitaus mehr an als auf stures Rechnen. Entsprechend ist AlphaGo nicht nur ein schneller Rechner, sondern besteht vielmehr aus einer unvorstellbar grossen Zahl von lernenden – man ist versucht zu sagen: lebendigen – neuronalen Verbindungen, die Lern- und Denkprozesse des menschlichen Gehirns direkt nachahmen. Der Computer wurde mit unzähligen historischen Go-Partien gefüttert und lernte aus diesen ganz neue Strategien des Spiels, die selbst Experten noch nie gesehen hatten. Damit war klar: Die der heutigen KI zugrunde liegenden Lern-und Optimierungsverfahren (das so genannte „deep learning“) ermöglichen eine massive maschinelle Intelligenzsteigerung in die Breite. Zukünftige Computer werden nicht mehr nur ausschliesslich den bestimmten Zweck bewältigen, für den sie konstruiert wurden, z.B. Schach spielen oder Datenbanken durchstöbern, sondern auf einem sehr viel ausgedehnteren Gebiet einsatzfähig sein.

Wie schnell diese Entwicklung verläuft, zeigt die Weiterentwicklung von AlphaGo. Nur 18 Monate nach AlphaGos Sieg über den besten menschlichen Spieler hatte Google bereits eine neue Version einer Go spielenden künstlichen Intelligenz geschaffen. AlphaGo Zero brauchte nun gar nicht mehr mit alten Spielen gefüttert zu werden, um seine Spielstärke zu erreichen. Wie der bekannte Dr. B. aus Stefan Zweigs Schachnovelle liessen ihn seine Entwickler nur noch gegen sich selbst spielen und so lernen. Bereits nach drei Tagen, in denen er 4.9 Mio. Partien gegen sich selbst spielte, hatte AlphaGo Zero eine Fertigkeit im Go-Spiel erreicht, die ihn seinen noch auf realen Partien ausgebildeten Vorgänger AlphaGo in 100 Spielen mit 100 zu Null besiegen liess. Einer der Erschaffer von AlphaGo und AlphaGo Zero, Demis Hassabis, sprach im Anschluss davon, dass eine KI wie AlphaGo Zero so mächtig sei, weil sie „nicht mehr durch die Grenzen des menschlichen Wissens beschränkt“ sei. Damit wird immer klarer: Die Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz strebt eine maschinelle Intelligenz an, die menschliche Intelligenz auf breiter Basis zu übertreffen vermag.

Was die meisten Menschen allerdings noch gar nicht auf ihrem Radarschirm haben: KI ist längst Teil unseres Alltags. Computer mit KI-Software optimieren heute den Energieverbrauch in Industrieanlagen, erstellen Krebsdiagnosen, schreiben auf Knopfdruck sekundenschnell journalistische Texte, beraten Bankkunden bei ihrer optimalen Anlagestrategie und helfen Juristen bei der Bearbeitung komplexer Rechtsfälle. Sie lesen Kundenbriefe und E-Mails von Verbrauchern und erkennen dabei den Grad der Verärgerung der Absender, und Computer unterhalten sich in Call-Centern am Telefon wie menschliche Mitarbeiter. KI schreibt sogar gesamte Plots für Filme, komponiert Sinfonien und Opern und malt im Stil von echten Meistern. Und KI-gesteuertes „Kognitives Kochen“ könnte der nächste grosse kulinarische Trend werden.

Und all dies macht die KI nicht schlechter als menschliche Experten: So schneiden KI-Algorithmen zur Mustererkennung bei der Diagnose von Hautkrebs bereits so gut ab wie Hautärzte. Und KI gesteuerte Maschinen sind auch handfertig: Der OP-Roboter „Smart Tissue Autonomous Robot (STAR)“ übertrumpft bei chirurgischen Eingriffen an Schweinen in puncto Präzision schon menschliche Chirurgen.

Die Bedeutung von KI für unsere Zukunft hat nun auch die deutsche Bundesregierung erkannt. Auch wenn dies reichlich spät geschah, gebührt ihr dafür Lob. Die Geschichtsschreibung in 10 Jahren wird kaum noch das Drama um die Person des Fussballers Mesut Özils kennen oder die Politik-Folklore eines Horst Seehofers, welche die Republik seit einigen Wochen in Atem halten. In 50 Jahren wird Merkels Flüchtlingspolitik aus dem Jahr 2015 vergessen und in 100 Jahren vielleicht Angela Merkel selbst nur noch Historikern bekannt sein. Aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden Schüler im Jahr 2118 im Geschichtsunterricht lernen, dass die 2010er und 2020er Jahre den epochemachenden Durchbruch der KI in unser Alltagsleben sahen. In Anbetracht dieser Entwicklung erscheint der Ausspruch der Bundesforschungsministerin Anja Karliczek doch ein wenig flach: „Künstliche Intelligenz hält Einzug in unseren Alltag und wir wollen, dass diese Technik den Menschen hilft“.

Wer den Bericht Eckpunkte der Bundesregierung für eine Strategie Künstliche Intelligenz liest, wird von wohligen Worten nur so überflutet. Da steht zum Beispiel, dass „sowohl Forschung und Entwicklung als auch Anwendung von KI in Deutschland und Europa auf ein weltweit führendes Niveau“ gebracht werden sollen. Des Weiteren soll „KI Made in Germany“ zum weltweit anerkannten Gütesiegel werden. Oder: Wirtschaftliche Wertschöpfung aus der Anwendung von KI soll „zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger in den Fokus der Bemühungen gestellt werden“, und „KI-basierte Geschäftsmodelle“ sollen in Deutschland entwickelt und zu neuen Exportschlagern gemacht werden. Auch von Sicherheit, Privatsphäre, Risikominimierung, Fokussierung auf den Menschen, sozialer Teilhabe und sogar „ethischen und rechtlichen Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz“ ist die Rede. Doch all dies bleibt sehr vage.

Der Bericht erkennt klar an, dass Deutschland und Europa beim Thema KI ins Hintertreffen geraten ist. Andere Staaten wie die USA und China haben ihr besonderes Potenzial längst erkannt und eigene nationale KI-Strategien und -Programme entwickelt. Es wurde also Zeit für eine solche Initiative der Bundesregierung. Leider beschränkt sich der Bericht insgesamt grösstenteils auf hehre Worten ohne viel konkreten Inhalt. Es wimmelt geradezu von Phrasen wie „Innovation fördern“, „Vernetzung herstellen“, „Talente anziehen“, „neue Geschäftsmodelle entwickeln“, „Kompetenzzentren ausbauen“, usw. Nur wer genau liest, entdeckt den einen oder anderen konkreten Plan. So sollen ein TechGrowth-Fund eingerichtet, das Programm EXIST für Existenzgründungen aufgestockt und neue KI-Lehrstühle gefördert werden.

Im Allgemeinen betrachtet der Bericht das Gebiet KI mehr als ein Ingenieursthema als eine wissenschaftliche Disziplin, die grundlegendere Fragen aufwirft. Das ist schade, doch entspricht dies dem bekannten eingeschränkten Wissenschaftsverständnis der Bundesbildungsministerin Anja Anja Karliczek: Wissenschaft und Forschung haben der Wirtschaft zuzuarbeiten. Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen werden als blosse Zulieferer der Unternehmen gesehen, aus denen vor allem technologische Innovationen generiert werden müssen.

Entsprechend geht der Bericht der Bundesregierung gar nicht weiter auf mögliche weitaus dramatischere und gefährliche Auswirkungen der KI ein. Der Begriff „Gefahr“ taucht darin überhaupt nicht auf. Zwar spricht man von einer „menschenzentrierten Entwicklung und Nutzung von KI-Anwendungen“, vom Ziel eines „hohen Niveaus an IT-Sicherheit, damit Manipulation, Missbrauch und Risiken für die öffentliche Sicherheit dieser sensitiven Technologie bestmöglich verhindert werden“ oder auch ganz allgemein von „Transparenz schaffen“. Doch all das klingt wirklichkeitsfremd. Hier fehlt der Mut zur klaren Aussage. So mancher echter KI-Experte scheut vor solchen nicht zurück. Der KI-Pionier Stuart Russel zeichnet das drastische Bild von uns Menschen in einem Auto, welches auf eine Klippe zufährt und wir dabei hoffen, dass der Benzintank leer ist, bevor wir in den Abgrund stürzen. Wie Elon Musk behauptet auch Russel, dass KI für den Menschen so gefährlich werden kann wie Nuklearwaffen. Experten betteln daher teils förmlich um staatliche Rahmengesetze und Regulierungen. Dahinter steckt ihre ernste Sorge, dass politische Entscheidungsträger die technologischen Entwicklungen verschlafen, sie nicht ernst genug nehmen oder, wie in den allermeisten Fällen, sie überhaupt nicht verstehen. Genau dies verdeutlicht leider auch der neue Bericht der Bunderegierung auf geradezu exemplarische Weise: Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt besitzt unterdessen eine derart rasante und komplexe Entwicklungsdynamik, dass er sich dem Vorstellungs- und Gestaltungsraum der allermeisten politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger entzieht.

Man merkt schnell, dass das Papier von Politik-Beamten geschrieben wurde und nicht von KI-Experten und -Wissenschaftlern. Ein klein wenig Hoffnung macht nichtsdestotrotz, dass der Bundestag Ende Juni parallel eine Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ eingesetzt hat, um die mit der KI-Technologie verknüpften Chancen, Potenziale und Risiken mit echten Experten zu diskutieren. Auch soll auf der Basis des Berichtes das Thema auf Expertenworkshops und Fachforen weiter diskutiert werden und dann auf dem Digitalgipfel am 3. und 4. Dezember 2018 eine detailliertere Strategie vorgestellt werden. Immerhin ist dann keine Fussball-WM, und mit Rücktritten prominenter Nationalspieler ist nicht zu rechnen. Und wer weiss, vielleicht hat Deutschland bis dahin auch einen anständigen Innenminister. Hoffen wir, dass die weitergehende Diskussion auch nur annähernd die Aufmerksamkeit erhält, die das Thema verdient.

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