Intellektuelle Redlichkeit – Von der Bedeutung der gesellschaftlichen Akzeptanz der wissenschaftlichen Methode
Vom erstaunlichen Widerspruch unserer Zeit, dass immer mehr Menschen ein Leben in höchstem Komfort führen, in nahezu totaler Sicherheit und mit einem beispiellosen Mass an Gesundheit bis ins hohe Alter leben, und gleichzeitig denken, der Zustand der Welt sei schlecht und würde immer schlechter, ist oft die Rede. Für beide Szenarien ist derselbe Auslöser verantwortlich – der wissenschaftliche und technologische Fortschritt. Diesem Gegensatz ist jedoch noch eine weitere Paradoxie aufgesetzt: Die Wissenschaft gilt heute vielen in Bezug auf Fragen die Natur betreffend (und immer mehr auch die zum Menschen) als höchste Instanz der Wahrheit. Zugleich tut sie sich mit diesem besonderen Begriff, der seinen Ursprung in der Philosophie hat, dessen Heimatdisziplin jedoch nie genau festzustellen vermochte, was er eigentlich genau bezeichnet, selbst sehr schwer. Denn die Wissenschaften lehren uns die Dynamik eines ständigen Befragens des Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität und die nicht endende kritische Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Wissens und Meinens. Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz.Diese scheinbare Widersprüchlichkeit des wissenschaftlichen Geistes ist für Nicht-Wissenschaftler nicht immer leicht zu verstehen. Was in der Wissenschaft Normalität ist, nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis innerhalb der wissenschaftlichen Community immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei Laien für Verunsicherung – und erlaubt es leider auch Politikern, die Hände in den Schoss zu legen, wenn es um wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse wie beispielweise den Klimawandel geht, ganz frei nach dem Motto: „Schaut, die Wissenschaftler sind sich ja selbst nicht einig! Woher sollen wir dann wissen, was zu tun ist?“
Dazu kommt, dass die Wissenschaft ihrem Anspruch intellektueller Bescheidenheit selbst nicht immer gerecht geworden ist. Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und Sturheit vertragen sich nicht, zugleich war letztere oft wichtig für ersteren. Galilei blieb unbeweglich bei seiner einmal gefassten Meinung, dass die Sonne im Mittelpunkt der Welt steht und war zu keiner ernsthaften Diskussion dazu bereit (obwohl es damals noch viele Anhaltspunkte dafür gab, dass seine Auffassung falsch sein könnte). Man könnte es sogar als einen Zufall bezeichnen, dass sich später erwies, dass er auf der Seite derjenigen war, die Recht behielten. In anderen Fällen stand er dagegen mit seiner Meinung auf der falschen Seite: Zum Beispiel verwarf er bis an sein Lebensende den Nachweis Keplers, dass sich die Planeten auf elliptischen Bahnen bewegen. Und er irrte auch, als er in seinem Hauptwerk Dialogo („Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische“) die Gezeiten der Meere als empirischen Beweis für das kopernikanische Weltbild anführte. Die Drehung der Erde um ihre Achse und um die Sonne sei die Ursache für die Gezeiten, sagt er, „die Gewässer würden dabei beschleunigt und hin- und her bewegt“ (er war sich seiner Sache so sicher, dass er die erste Fassung seines heute bekanntesten Werks sogar „Diskurs über Ebbe und Flut“ genannt hatte). Dass er mit dieser Theorie falsch lag, hätte er eigentlich wissen müssen. Schon damals war bekannt, dass die Gezeiten mit den Zyklen des Mondes und nicht mit dem Sonnenstand zusammenhängen.
Wissenschaftler mussten erst mühsam lernen, dass sie zu ihrer jeweiligen Zeit vieles gar nicht genau wissen können, ja schliesslich, dass die Sehnsucht nach endgültigen Gewissheiten ins Leere führt. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts war mit Relativitätstheorie und Quantenphysik der radikale Wandel im Erklärungs- und Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften vollzogen. Leider sind diese Theorien für Laien nur sehr schwer nachzuvollziehen, ja widersprechen gar „dem gesunden Menschenverstand“ (wobei nie ganz klar war, was an dem so „gesund“ ist). Es geht in der Wissenschaft heute nicht mehr darum, absolute Wahrheiten zu formulieren, sondern sich möglichen Wahrheiten so weit wie möglich zu nähern.
Bereits Galileis etwas älterer Zeitgenosse Francis Bacon hatte beschrieben, dass der Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis weit weniger geradlinig verläuft, als uns dies in der historischen Rückschau erscheinen mag. Ganz im Gegenteil: Die Suche nach Erkenntnis ist nahezu notwendig mit Umwegen und Fehlgriffen verbunden. Und auf Galilei sollten viele Wissenschaftler folgen, die irrten, darunter die bedeutendsten der Geschichte. Teils geschah das, weil sie die Beobachtungen falsch deuteten, teils, weil sie sich weigerten, gegen ihre Weltsicht sprechenden Fakten anzuerkennen. Oft waren sie sich auch bewusst, dass die von ihnen aufgestellten Theorien der Wahrheit nur nahe kamen, entscheidende Erkenntnisse aber noch fehlten. Selbst der grosse Albert Einstein war vor Fehlern nicht gefeit. So lag er mit seiner Interpretation der Quantenphysik zuletzt falsch (was sich allerdings erst sehr viel später bestätigte). Tatsächlich erwies sich bis heute die grosse Mehrheit der wissenschaftlichen Theorien als falsch, oder zumindest nur beschränkt gültig. Weder Newtons Theorie der Gravitation und Mechanik noch Maxwells Theorie der Elektrodynamik waren das letzte Wort der Physik. Und auch das heutige Standardmodell der Elementarteilchenphysik, das auf einer vereinheitlichten relativistischen Quantenfeldtheorie beruht, wartet nur darauf, von einem besseren Modell abgelöst zu werden. Doch genau darin liegt die grosse Stärke der Wissenschaften in der Moderne: Sie ist nicht so erfolgreich, obwohl sie ständig Irrtümer korrigieren und Theorien verbessern muss, sondern weil sie es tut.
Richard Feynman sagte einmal: „Religion ist eine Kultur des Glaubens, Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifels.“ Und mehr als 800 Jahre vor ihm schrieb der mittelalterliche Theologe und Philosoph Peter Abaelard: „Durch Zweifeln kommen wir nämlich zur Untersuchung; in der Untersuchung erfassen wir die Wahrheit.“ Bei aller rationalen Bescheidenheit und dem methodischen Zweifel und aufgrund der intellektuellen Redlichkeit der Wissenschaft verstehen wir heute die Welt um uns herum sehr viel besser als mit Hilfe von Dogmen, die uns vorgeben, mit absoluter Sicherheit zu wissen, wie die Dinge wirklich sind. Die Erkenntnis, dass sich bisher die meisten wissenschaftlichen Theorien letzten Endes als falsch oder nur eingeschränkt richtig herausgestellt haben, hilft uns, Fehler zu akzeptieren. Es ist also nur ein scheinbarer Widerspruch: Indem wir unsere eigene Fehlerhaftigkeit erkennen und auch zulassen, machen wir insgesamt weniger Fehler in der Beschreibung der Welt als je zuvor. Dies verdanken wir der Macht des selbstkritischen Rationalismus der Wissenschaft. Dieser stellt zugleich das Fundament der Aufklärung dar.
Vor diesem Hintergrund wird klar, wie gefährlich es ist, dass wir heute eine wachsende Skepsis gegenüber Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einsichten beobachten müssen. Für viele Menschen wirken die Diskussionen unter Wissenschaftlern und der oft über eine Kette von Irrtümern stattfindende Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisfindung wenig glaubwürdig. Fehler in wissenschaftlichen Arbeiten oder die Probleme einer Theorie werden als Beleg dafür verwendet, dass die Wissenschaft insgesamt zu diskreditierten ist. Dass dahinter ein klassischer Kategorienfehler liegt (die menschliche Fehlbarkeit der einzelnen Wissenschaftler als Menschen sowie die Tatsache, dass Theorien nie „die ganze Wahrheit“ wiedergeben, stellt nicht die Wissenschaft als Methode in Frage), entgeht leider den meisten Kritikern der Wissenschaften und Leugnern wissenschaftlicher Erkenntnisse. Vielmehr versuchen sie, ihre eigenen Wahrheiten vor der Schärfe wissenschaftlicher Skepsis zu schützen.
Dieser Mechanismus lässt sich heute besonders eindrucksvoll in der Diskussion um den Klimawandel beobachten. Die unangenehme, wissenschaftlich jedoch immer besser belegte Einsicht, dass sich unser Klima verändert, und zwar durch unser Tun, wird immer wieder angegriffen, und dies nicht mit wissenschaftlichen Argumenten, sondern aus politischem Kalkül, das die Lüge bewusst in Kauf nimmt. Dabei wird jeder noch so kleine Widerspruch und jede minimale Abweichung zwischen wissenschaftlicher Theorie und Messung hämisch als Hinweis genommen, dass die Klimawissenschaftler doch selbst nicht wissen, was sie tun.
Eine weitere, nicht weniger gefährliche Entwicklung ist, wenn „selbsterklärte Experten“ versuchen, sich den Anspruch wissenschaftlicher Skepsis zunutze zu machen, um ihre eigenen, oft völlig abstrusen Theorien zu rechtfertigen. Da wimmelt es in den Kommentarzeilen wissenschaftlicher Blogs teils von Leuten, die die Relativitätstheorie widerlegt zu haben glauben oder die scheinbaren Widersprüche der Quantentheorie dazu verwenden, um das Weltbild der modernen Physik grundlegend in Grund und Boden zu verdammen , ohne dass sie auch nur annähernd die dafür notwendige physikalische Bildung besitzen. Die digitalen Medien ermöglichen es diesen Menschen, jeden auch noch so abstrusen Unsinn herauszulassen. Ja, die Wissenschaft ist offen und lebt vom Zweifel und der Skepsis. Aber sie ist eben auch messerscharf in ihrer Ablehnung von Unsinn und rechthaberischem Wahn. Ihre Methodik erlaubt es nicht jedem, allem zu widersprechen und mit eigenen Wahrheiten aufzutreten. Vielmehr bedarf es grosser intellektueller Disziplin, sich auf ihre kritische Methode einzulassen und sich dem so fruchtbaren wie scharfen Diskurs auf dem Weg zur Wahrheit zu stellen. Das ist nicht jedermanns Sache, und so gerät die Wissenschaft eben leider auch hier schnell in den Verruf, ihre „eigenen“ (d.h. falschen) Wahrheiten zu haben.
Genau diesem verhängnisvollen Eindruck müssen wir begegnen! Denn in einem Umfeld, in dem Wissenschaft offen diskreditiert wird, ist eine Lösung der komplexen Probleme unserer heutigen Zeit nicht möglich. Ganz im Gegenteil: Das Prinzip von Versuch und Irrtum, intellektuelle Disziplin und Redlichkeit müssen noch viel mehr den Weg in den Alltag von uns allen finden. Auch Laien müssen so wie Wissenschaftler lernen damit zurecht zu kommen, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, doch sehr mächtige Wege, Unwahrheiten aufzudecken, seien sie uns noch so angenehm. Dass uns das gelingt, daran könnte sich nichts weniger als das Überleben unserer Art entscheiden.