Homo naledi – Ein ganz neuer Blick auf die Menschwerdung?
Der Begriff „Breaking News“ wird mittlerweile auch dem nicht-englischsprachigen Nachrichten-Publikum vertraut sein. Mit geradezu nervtötender Frequenz wird er immer dann verwendet, wenn sich auf der Welt aktuell etwas – manchmal mehr und manchmal weniger – Dramatisches abspielt. Es vergeht unterdessen wohl kein Tag mehr, ohne dass wir nicht von irgendwoher eine neue „Breaking News lesen oder hören. Von „Breaking News“ können wir aber tatsächlich sprechen, wenn wir die heutige Nachricht aus dem Bereich der Wissenschaft lesen: Im Fachblatt „eLife“ berichten Paläoanthropologen von der Entdeckung fossiler Überbleibsel einer bis anhin unbekannten Menschenart, welche sie im Jahr 2013 in einer Höhle in Südafrika gefunden und in mühevoller Analyse bis heute eingehend untersucht haben. Ist die Entdeckung einer neuen Menschenart an sich bereits eine wissenschaftliche „Breaking News“, so ist das, von dem uns die Forscher heute berichteten, eine echte Sensation, die auch über die Fachkreise der Forscher hinaus öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Es handelt sich um den bisher größten zusammengehörigen Fund fossiler menschlicher Überreste auf dem afrikanischen Kontinent, der „Wiege der Menschheit“. Er ist im Fossilbericht des Menschen einmalig und derart umfangreich, dass die neue Menschenart den Forschern auf einen Schlag besser bekannt ist als alle anderen Vertreter der menschlichen Abstammungslinie.
Die Forscher gaben der neuen Art den Namen „Homo naledi“. Sein Schädel, Zähne und Becken ähneln denen der frühesten Vertretern Gattung „Homo“, wie etwa „Homo habilis“ oder „Homo erectus“, die vor ca. 2 Millionen Jahre gelebt haben, wohingegen die Schultern in ihrer Morphologie gar jenen von Menschenaffen ähneln. In anderen Punkten hingegen erkannten die Forscher Eigenschaften des modernen Menschen: So sind die Füsse von Homo naledi kaum von denen von uns Menschen zu unterscheiden. Mit seinen Händen war er wohl geschickt genug, Werkzeuge zu benutzen, wohingegen seine vergleichsweise stark gebogenen Finger darauf hinweisen, dass Homo naledi immer noch sehr gut klettern konnte. Sein Gehirn wiederum war eher von der Grösse desjenigen von Australopithecus-Arten, bzw. moderner Gorillas, und damit sogar kleiner als das von Homo habilis. Auch seine Zähne ähneln denen der frühesten Vertreter unserer Gattung.
Diese aussergewöhnliche, teils archaische, teils modern menschliche Kombination von anatomischen Eigenschaften unterscheidet Homo naledi von allen bisher bekannten Menschenarten. Doch was den Fund wohl endgültig zur erwähnten Sensation werden lässt, ist, dass die Forscher aufgrund des Fundorts sowie der grossen Anzahl an verschiedenen Individuen, inklusive Kinder und alter Menschen, annehmen müssen, dass die Toten an dieser Stelle bewusst abgelegt wurden. Es handelt sich also um so etwas wie ein frühmenschliches Massengrab. Alle anderen Möglichkeiten als die bewusste Beseitigung der Toten durch die Überlebenden behaupten die Forscher ausschliessen zu können. Doch die Bestattung von Verstorbenen galt bislang als Ritual des modernen Menschen, Homo sapiens, bzw. wie durch einige wenige vage Funde belegt, eventuell des Neandertalers, doch sicher nicht als Teil des Verhaltensmusters einer Menschenart, die mehr Züge des Homo habilis besitzt, das Hirnvolumen von Australopithecus-Arten aufweist und möglicherweise vor 2 Mio. Jahren gelebt hat.
Das Begraben von Toten ist eine sehr komplexe Verhaltensweise, die Fähigkeit zur Empathie, ein gewisse Form des Bewusstseins, sowie entwickelte transzendente Vorstellungen voraussetzt. Mit anderen Worten, es erfordert Respekt für die Verstobenen, das Wissen um die eigene Sterblichkeit und einen Glaubens an ein Leben nach dem Tod, und nicht zuletzt die kognitive Trennung von der Natur. Dies sind allesamt ausschliesslich Eigenschaften des kognitiven Rahmens bzw. metaphysischen Glaubenssystems des Homo sapiens. Doch handelt es sich bei Homo naledi nicht um Menschen, was diese Entdeckung umso spannender macht. Die Möglichkeit, dass Wesen mit derart kleinen Gehirnen derart hochentwickelte kognitive Fähigkeiten zur Abstraktion aufweisen, erscheint gar derart fragwürdig, dass sich mancher Forscher gezwungen sieht, diese Schlussfolgerung in Zweifel zu ziehen. Leider kennen die Paläoanthropologen das Alter ihres neusten Funds noch nicht. Ist er nur 100‘000 Jahre alt, so hätte wir vielleicht eine Parallelentwicklung der Homo-Linie vor uns. Wäre der Fund, wie die Morphologie der Knochen suggeriert, hingegen so alt wie Homo habilis, so hätten die Forscher womöglich den Ausgangspunkt der menschlichen Evolution entdeckt.
Beide Möglichkeiten wären aufregend genug, um dieser Wissenschaftsmeldung in der der Berichterstattung das Attribut „Breaking News“ oder gar „Sensational News“ zukommen zu lassen und den Lesern der morgigen Tageszeitungen anstatt Politik oder Wirtschaft den Wissenschaftsteil zur Lektüre zu empfehlen. Denn wir können nur erträumen, was es über die Ursprünge unseres menschlichen Daseins noch alles zu entdecken gibt.