Grossdemonstration für die Wissenschaft – Die wissenschaftliche Methode selbst wird zum Politikum
Unsere weitläufige Vorstellung von politischen Demonstrationen ist, dass sich hier entweder politisch Unterdrückte (wie Kurden, Uiguren oder Tibeter), Menschen, die sich wirtschaftlich als zu kurz gekommen ansehen (Flugpiloten, Zugführer, oder ganz allgemein DGB-Mitglieder), oder Menschen, die sich einer bestimmten politischen Sache besonders stark verschrieben haben, treffen, um ihren Unmut über ihre Situation oder die Welt zum Ausdruck zu bringen. Hochschulprofessoren und wissenschaftliche Angestellte zählten bisher eher weniger zu diesen Gruppierungen (der eine oder andere von ihnen mag sich vielleicht in seiner linkspolitischen Jugendphase an einer Demonstration gegen AKWs, die Startbahn West, den Nato-Doppelbeschluss oder den Kapitalismus im Allgemeinen beteiligt haben).
So sollten wir genau hinschauen, wenn am 22. April diesen Jahres für einen „March of Science“ nach Washington gerufen wird. Nach Aussage ihrer Initiatoren („Wissenschaftler und wissenschaftliche Enthusiasten“) ist dies ein „Aufruf zur Unterstützung und Sicherung der wissenschaftlichen Gemeinschaft“. Sie sagen „Die jüngsten politische Veränderungen haben zu einer erhöhten Sorge unter den Wissenschaftlern geführt, und die Reaktion und Unterstützung vieler Menschen haben deutlich gemacht, dass diese Bedenken auch von Hunderttausenden von Menschen auf der ganzen Welt geteilt werden. Die verzerrte Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse gemäss politischer Ausrichtung verleiht Entscheidungsträgern die Erlaubnis, überwältigende Beweise zurückzuweisen. Es ist Zeit für die Menschen, wissenschaftliche Forschung und evidenzbasierte Politik zu unterstützen, und dazu ein klares öffentliches Bekenntnis abzugeben.“
Nach den Frauen, den ethnischen Minoritäten und den Homosexuellen direkt nach der Amtseinführung Donald Trumps sind es nun also die Wissenschaftler, die gegen die Ungeheuerlichkeiten der neuen US-Administration protestieren. Warum gerade sie? In ihrer Mehrheit sind Wissenschaftler männlich, weisshäutig und heterosexuell, drohen also von Donald Trump und seinen Kohorten kaum persönlich belangt zu werden. Und doch hat es der neue US-Präsident geschafft, sie erst in Angst und Schrecken zu versetzen und dann, dass sie ihre Stimme im Protest laut und hörbar erheben. Denn er untergräbt, was der Wissenschaft am allerwichtigsten ist: das aufrichtige und uneingeschränkte Streben nach Wahrheit, das ehrliche Bekenntnis zu Fakten, eine Demut im Staunen angesichts des Erhabenen und zuweilen Unerklärlichen in der Welt, eine kompromisslos reflexive Einstellung in einem offenen und transparenten Diskurs und nicht zuletzt ein vorbehaltsloses intellektuelles Erkennen der zu erwartenden Folgen unseres Denkens und Handelns.
All dies steht in einem deutlichen Widerspruch zu den Worten (und zusehends auch Taten) eines US-Präsidenten Donald Trump: „Fake News“, „alternative Fakten“ und offensichtliche Lügen, das egomanische Beharren auf der eigenen, völlig verzerrten Sicht der Dinge, die Ablehnung (und Abkanzelung) skeptischer Fragen und kritischen Hinterfragen, das Verbot von Fachpublikationen für Wissenschaftler, die für staatliche Behörden arbeiten, und bei all dem ein völlig rücksichtslose Vorgehen, ohne den kleinsten Gedanken daran zu verschwenden, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Trump und sein Truppe agieren nicht nur intellektuell unaufrichtig, sie denken und handeln auch wider jeglichen besseren Wissens. Dabei definieren sie das Konzept von Wahrheit einfach neu. Wenn Regierungsoffizielle ohne Scham einen Begriff wie „alternative Fakten“ verwenden, dann haben wir ein echtes Problem. Es betrifft das Fundament von Wissenschaft, Demokratie und Humanismus, und nicht zuletzt unseres Wohlstands. Sie alle treffen sich hier, an diesem Punkt. Wie diejenigen, die bereits am 21. Januar protestierten, haben die Wissenschaftler also erkannt, was seit dem 9. November 2016 auf dem Spiel steht. Es droht ein katastrophaler Rückschritt für die Vision einer offenen und humanen Weltgesellschaft. Das letzte Mal, dass in der westlichen Welt die wissenschaftliche Methode selbst zum Politikum wurde, war in Deutschland der 1930er Jahren.
Es ist wieder Mode geworden, Kritik an der Wissenschaft mit unbegründeten Unterstellungen, Diffamierungen und Verleumdungen zu würzen, und dies umso mehr, je weniger haltbar die Kritik und je geringer es um die Kompetenz des Kritikers bestellt ist. Populisten und Gegner der wissenschaftlichen Methode wie Donald Trump denken, sie haben leichtes Spiel, unliebsame wissenschaftliche Einsichten zu leugnen und abzulehnen, Wissenschaftler zu diskreditieren und zu diffamieren und sich schliesslich ihrer zu entledigen (z.B. durch Kürzung ihrer Finanzierung), zum alleinigen Zweck, ihren eigenen Glauben zu predigen, ihr eigenes weltanschauliches Süppchen zu kochen oder einfach ihre eigenen Interessen zu verfolgen.
Die Wissenschaft selbst kann mit ihren Lügen und „alternativen Fakten“ gut umgehen, verfügt sie doch mit ihrer Methode des offenen und kritischen Diskurses über eine sehr mächtige Maschinerie, Unsinn auszusortieren. Das Problem verschärft sich erst, wenn die Wissenschaften auf politische, soziale und ökonomische Interessen treffen oder Ideologien begegnen, die sie dann auf der Basis ihrer eigenen Offenheit zu verunglimpfen suchen. Frei nach: „Schaut, die Wissenschaftler sind sich ja selbst nicht einig. Wie können wir ihnen dann vertrauen?“ Dass diese Uneinigkeit eine Stärke und keine Schwäche ist, bliebt dabei verborgen. Die Konsequenzen sind Zweifel an der Integrität des wissenschaftlichen Arbeitens und zuletzt eine Welt „faktenlosen Denkens und Handelns“. Ein Umfeld, in dem Wissenschaft nicht nur ignoriert, sondern gar offen diskreditiert wird, ist kaum geeignet, um die komplexe Probleme der heutigen Welt anzugehen.
Wir brauchen heute mehr anstatt weniger intellektuelle und ethische Redlichkeit, auch und insbesondere wenn es darum geht, mit den technologischen Entwicklungen aus der wissenschaftlichen Forschung umzugehen. Was für Wissenschaftler Normalität ist, nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis innerhalb der wissenschaftlichen Community selbst immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei vielen Normalbürger für Verunsicherung und führt nicht selten zu Resignation und einer geistigen Abkehr von der Wissenschaft. Dabei sind es gerade auch ihre Fehler, die die Wissenschaft stark machen. Denn nur im Bewusstsein, dass Fehler erlaubt sind, entsteht der intellektuelle Mut zu Neuem. Es ist dieser Mut, die Wissenschaft zur mächtigsten Methode macht, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und uns selbst (sowie zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen) verfügen. Doch für zu viele Menschen wirkt der dialektische und oft über Irrtümer stattfindende Prozess der Entstehung von wissenschaftlicher Erkenntnis wenig glaubwürdig.
Und hier sind die Wissenschaftler selbst gefragt. Sie dürfen nicht mehr nur unter sich, in ihrer eignen abgeschlossen Gemeinschaft bleiben, in ihren Gremien, Konferenzen und Symposien. Sie dürfen nicht mehr nur in den einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren, sondern sie müssen sich auf anderen Kanälen präsentieren und dabei erläutern, was in ihren jeweiligen Disziplinen gerade passiert, z.B. in populärwissenschaftliche Büchern, in Blogs, in sozialen Netzen, in Artikeln in der Tages- oder Wochenpresse, in öffentlichen Vorträgen oder auch in YouTube-Filmchen. Die Wissenschaftler sind in der Pflicht, ihre Ergebnisse offensiv zu verteidigen, und dabei Lügen und gezielte Fehlinformation zu bekämpfen. Wenn sie gerade bei einem so wichtigen Thema wie dem Klimawandel der Lobby aus Energie- und Automobilunternehmen nichts entgegenzusetzen wissen (und beispielsweise die Mehrheit der Texaner glaubt, Klimaforschung habe eine noch weniger reale Basis als etwa Astrologie), dann bedeutet dies nicht weniger als ein kommunikatives Versagen ihrerseits.
Und hier ist es notwendig, ein starkes politisches Zeichen zu setzen. Warum also nicht mit dem „March for Science“, der hoffentlich erste Grossdemonstration für die Integrität der Wissenschaft? Denn sie entspricht zugleich einem Eintreten für die Integrität unseres Denkens und Handelns selbst.