Georges Lemaître und der Urknall – Als ein Priester Einsteins Weltbild korrigierte
Die Aufregung war gross, als im Februar dieses Jahres die Forscher der internationalen LIGO-Virgo-Kollaboration bekannt gaben, dass sie erstmals Gravitationswellen direkt gemessen haben. Nun ist ihnen dies kürzlich bereits zum zweiten Mal gelungen. Und wieder werden Loblieder auf Albert Einstein gesungen, der in seinem grössten Genie-Streich, der allgemeinen Relativitätstheorie, formulierte, dass die Wirkung der Gravitation nicht durch eine räumlich wirkende und zeitlich unabhängige Kraft gegeben ist, sondern durch eine Beeinflussung der Raum-Zeit-Struktur selbst, was auch wellenartige Verwerfungen der Raum-Zeit zulässt, eben jene Gravitationswellen.
Nach der Fertigstellung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie im November 1915 ahnte Einstein bereits, dass diese nicht nur eine neue Gravitationstheorie darstellt, sondern darüber hinaus Einsichten über unser Universum als Ganzes ermöglicht. Liesse sich aus einer angenommenen kosmischen Materieverteilung nicht vielleicht die Raum-Zeit-Struktur im gesamten Universum berechnen? Und würde sich daraus nicht vielleicht die Möglichkeit eines ersten gesamtkosmologischen Modells mitsamt dessen Dynamik (d.h. seiner zeitlichen Entwicklung), inklusive seiner Entstehung, eröffnen? Nahezu unmittelbar nach Veröffentlichung seiner Theorie nahm sich Einstein dieser Frage an. Aus theoretischen Gründen suchte er dabei speziell nach Lösungen für ein endliches Universum. Doch zu seinem Verdruss musste er erkennen, dass sich aus den entsprechenden Gleichungen keine Lösung für ein solches Universum ergab, welche zugleich eine zweite Bedingung erfüllte, die für Einstein ebenso zentral war: Das Universum sollte statisch sein, d.h. als Ganzes keiner zeitlichen Entwicklung oder Dynamik ausgesetzt sein. Er fand nur Lösungen seiner Gleichungen, die kontrahierende oder expandierende Universen beschrieben (was im Wesentlichen daran liegt, dass die Gravitationskräfte nur anziehend und niemals – wie elektrische Kräfte – abstossend wirken). Ein Gesamtkosmos, der sich wie ein Ballon aufbläst oder in sich zusammenschrumpft, entsprach jedoch ganz und gar nicht seinen Vorstellungen. Die Unlösbarkeit seiner Gleichungen für ein endliches und statisches Universum war für ihn ein derart essentielles Problem, dass er sich in seiner Verzweiflung gezwungen sah, etwas zu tun, was ihm zutiefst widerstrebte: Er fügte seinen Gleichungen ad-hoc einen zusätzlichen Term hinzu, der schliesslich eine Lösung erlaubte, die ein endliches und statisches Universums beschreibt (dieser Term entsprach einer der gravitativen Anziehung entgegengesetzten, abstossenden Kraft).
Aber auch andere hatten unterdessen begonnen, sich auf der Basis der Gleichungen Einsteins mit dem Universum als Ganzem zu beschäftigen. So stiess bereits 1917 der holländische Mathematiker Willem de Sitter auf eine seltsame Lösung, in der das Weltall sich ausdehnt (welche allerdings einem Universum ohne Materie entsprach), und im Jahr 1922 berechnet der russische Physiker Alexander Friedmann aus den Einstein‘schen Gleichungen Lösungen für ein (massereiches) Universum, welches nicht durch Einsteins Bedingung beschränkt war, statisch sein zu müssen. Ein statisches „Kugel“-Universum, so erkannte Friedmann, ist extrem unwahrscheinlich, da ein solches sehr instabil bzgl. seiner Rand- und Anfangsbedingungen sein musste. Kleinste Abweichungen von der idealen Materieverteilung lassen das Universum wieder (je nach Vorzeichen der Störung) kollabieren oder expandieren. Friedmanns Universum sollte sich dagegen tatsächlich periodisch ausdehnen und zusammenziehen. Einstein bekämpfte die Friedmannsche Berechnung heftig, unterstellte ihm gar Rechenfehler, musste zuletzt aber zugeben, dass die Rechnung korrekt war (leider verstarb Friedmann kurz darauf, so dass sie ihren Disput nicht fortsetzen konnten).
Ab 1925 begann sich auch ein junger belgischer Priester für die Einstein’schen Gleichungen zu interessieren. Georges Lemaître war ein promovierter Mathematiker und Absolvent des Priesterseminars (der jedoch nie ein Amt als Geistlicher innehielt und grossen Wert darauf legte, Forschung und Glaubensfragen streng voneinander zu trennen). Lemaître sollte die Arbeiten Friedmanns wieder aufnehmen (ohne sie jedoch zu kennen) und damit ebenso die Auseinandersetzung mit Albert Einstein suchen. Wie Friedmann stiess Lemaître auf Lösungen der Einstein-Gleichungen, in denen sich das Universum ausdehnt (dabei stiess er auch auf einen Fehler de Sitters). Desweiteren leitete Lemaître in seiner Arbeit direkt aus der allgemeinen Relativitätstheorie ab, dass die Expansion des Universums durch ein einfaches Gesetz dargestellt werden kann, das einer empirischen Überprüfung unterzogen werden kann: v = H⋅d. Die Geschwindigkeit v, mit der sich zwei Galaxien durch die Expansion des Raumes voneinander entfernen, ist umso grösser , je grösser der Abstand d zwischen ihnen ist (H ist eine Proportionalitätskonstante, die später „Hubble-Konstante“ genannt wurde, s.u.). Jedoch nahm zunächst niemand seine Veröffentlichung aus dem Jahr 1927 in dem zweitrangigen französisch-sprachigen Journal Annales de la Société scientifique de Bruxelles zur Kenntnis. Im gleichen Jahr wandte sich Lemaître direkt an den berühmten Physiker. Wie schon bei Friedmann konnte Einstein der mathematischen Berechnung Lemaître nichts entgegenhalten. Doch für seine Weltanschauung war sie völlig inakzeptabel. „Ihre Berechnungen sind richtig, aber Ihre Physik ist scheusslich!“, so beendete Einstein das Gespräch.
Doch Lemaître war beharrlich, nicht zuletzt weil er den Eindruck hatte, dass Einsteins Wissen über die neuesten Ergebnisse in der Astronomie eher beschränkt waren. Denn die Astronomen hatten bereits tatsächlich erste Anzeichen dafür gefunden, dass sich einige Galaxien von unserer Milchstrasse weg entfernen. So hatte schon 1915 Vesto Slipher festgestellt, dass bei 11 der von ihm untersuchten 15 Galaxien sogenannte „spektrale Rotverschiebungen“ (ein Anzeichen für eine Fluchtbewegung) zu beobachten waren. Doch war die Datenlage noch nicht ausreichend, um daraus eindeutige Schlüsse zu ziehen. Erst 1929 kam dann der Durchbruch: Der amerikanische Astronom Edwin Hubble fand nun eindeutige Hinweise dafür, dass sich die Galaxien voneinander wegbewegen: Grundlage dafür waren Entfernungsmessungen an pulsierenden Sternen (so genannten „Cepheiden“) in Galaxien ausserhalb der Milchstrasse. Darin konnte Hubble feststellen, dass die Rotverschiebung dieser Sterne proportional zu ihrer Entfernung zunimmt. Dies ist genau die Beziehung, die Lemaître zuvor hergeleitete hatte! Sie wird heute als „Hubble’sches Gesetz“ bezeichnet (es gilt allerdings nur bis zu einer bestimmten Rotverschiebung oder äquivalent einer bestimmten Distanz). Hubble war kein Theoretiker und äusserte sich zunächst nicht zur Bedeutung der von ihm gefundenen Beziehung. Ironischerweise glaubte er lange nicht an ein expandierendes Universum, sondern suchte die Begründung für sein Gesetz woanders.
Als er von Hubbles Ergebnissen hörte, nannte Einstein die Einführung des zusätzlichen Terms in seine Gleichungen und das Festhalten an ein statisches Universum „die grösste Eselei meines Lebens“. Im Jahr 1931 verabschiedete er sich endgültig davon und kehrte zu den Feldgleichungen in ihrer ursprünglichen Form zurück. Aus der Rückrechnung der beobachteten Expansion des Universums lässt sich nun aber schliessen, dass das Universum zu einem früheren Zeitpunkt einen viel kleineren Raum eingenommen haben muss, vergleichbar einem Luftballon vor dem Aufblasen. Lag da nicht die Schlussfolgerung auf der Hand, dass das Universum an seinem Anfang in einem einzelnen Punkt konzentriert gewesen war, um daraufhin in einer gewaltigen Explosion ‚geboren‘ zu werden? Genau darauf hatten Lemaître in seiner Arbeit von 1927 als erster hingewiesen: auf einen kosmischen Ursprungsmoment, in dem die Raum-Zeit selbst entstand. Der Priester wurde damit zum ersten Verfechter einer physikalischen Theorie des kosmischen Anfangs. Einstein selbst nannte sie 1933 „die schönste und befriedigendste Erklärung der Schöpfung, die ich je gehört habe“, womit er seine Kritik an Friedmann und Lemaître zurücknahm und selber ein glühender ein Verfechter der Theorie Lemaître wurde.
Doch war dessen Theorie zunächst immer noch umstritten (zuletzt wohl auch, weil Lemaître Priester war). Einer ihrer exzentrischsten Kritiker, der englische Physiker Fred Hoyle, nannte sie in einer Sendung der britischen BBC einmal ironisch den „big bang“ (englisch für „grosser Knall“). Zu Hoyles Verdruss setzte sich dieser Begriff sowohl im populären wie auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch fest. Die „Urknall-Theorie“ ist heute die wissenschaftlich breit anerkannte Theorie der Entstehung unseres Universums. Noch an sein Krankenbett, kurz vor seinem Tod, brachte ein Freund Lemaître die Ausgabe des Fachmagazins Astrophysical Journal, in dem die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung bekannt gegeben wurde, des letzten empirischen Puzzlestücks zur Anerkennung der Lemaître‘schen Theorie. Georges Lemaître, der Priester, der Einsteins Kosmologie widerlegte und als erster die Urknalltheorie vorschlug, ist vor 50 Jahren, am 20 Juni 1966, gestorben. Ihm gebührt weit mehr Ruhm und Anerkennung, als ihm bis heute zuteilwird.