Ein Schmelzen, das die Klimakatastrophe dramatisch beschleunigen könnte – In der Antarktis schwindet der Thwaites-Gletscher
Immer wieder gibt es Klimaeffekt-Überraschungen, die auch erfahrene Klimaforscher schockieren. Dies sind oft neue Erkenntnisse, die die Dramatik der Klimaentwicklungen noch einmal erhöht. So liess sich jüngst (seit 2014 erforscht; zuerst publiziert 2019, und nun als grössere Veröffentlichung im September 2022) in der Erforschung der Antarktis ein ganz neues Risiko konkret erfassen: Der so genannte Thwaites-Gletscher, ein Eisschild, d.h. auf dem Festland der Antarktis liegend, könnte sich in naher Zukunft rasch zurückziehen, wobei sein Eis ins Meer fliesst. Dass er heute auch „Weltuntergangsgletscher“ oder „schwacher Unterbauch der Antarktis» genannt wird, liegt daran, dass er extrem anfällig für einen solchen erheblichen Rückzug ist und damit, aufgrund seiner unglaublichen Eismassen, wiederum weltweit eine markante Erhöhung des globalen Meeresspiegels herbeiführen könnte, mehr als einen halben Meter. Dies wiederum würde bedeuten, dass sich zahlreiche Meeresstädte wie Los Angeles, New York, London, Venedig, Lissabon oder Tokio, sowie ganze Länder wie Bangladesch unterhalb der Meeresoberfläche wiederfinden.
Der Thwaites-Gletscher befindet sich noch ein keinem der Klimamodelle, die ja gerade mal wieder diskutiert werden, und zwar auf der COP27-Konferenz (vom 6.-18.November 2022). Hier trifft sich die internationale politische Gemeinschaft, um zum 27. Mal über die Klimakrise zu beraten; dieses Mal in Kairo. Und wieder werden die immer gleichen Aussagen gemacht: „Schäden durch höhere Temperaturen, Dürren, Fluten, Erdrutsche und vieles mehr wachsen rasant heran“, „Wir müssen was tun“, „Betroffenen Entwicklungsländern muss geholfen werden“, usw., nur um nach dem Ende der Konferenz wieder in Vergessenheit zu geraten bis zur nächsten, der COP28-Konferenz 2023 in Dubai. Hören wir in Kairo über derart dramatische Klimafolgen wie der Abfall der Eismasse des Thwaites am Südpol? Wohl kaum (es lässt sich kein Beitrag der COP27-Konferenz zum Thwaites- Gletscher finden).
Schon in den späten 1960er Jahren gab John Mercer, ein Geograf aus England, die Warnung, im Westen des Südpol könnten schon sehr bald grosse Teile des Eises schmelzen und einen Anstieg des weltweiten Meeresspiegels von bis zu sechs Metern verursachen. 10 Jahre später, im Jahr 1978, wies Mercer in der Wissenschaftszeitschrift Nature darauf hin, dass ein solch massiver Effekt durch die Verbrennung fossiler Stoffe und der damit verursachten globalen Erwärmung hervorgerufen wird. Wieder sah er sich mit seiner Aussage einem starken Widerstand ausgesetzt. Heute wissen wir, dass er recht hatte. Es könnte sogar sein, dass dieser einzige (sehr grosse) Gletscher in der Antarktis den Anstieg des Meeresspiegels in den nächsten Jahrzehnten bestimmen – und dramatisieren – wird.
Betrachten wir die Westantarktis einmal etwas genauer (die Details wurden erst 2022 im Detail publiziert). Alpengletscher schmelzen, wie wir direkt beobachten können, von der Oberfläche ausgehend. Die Gletscher in der Westantarktis dagegen schmelzen nicht von oben, denn dort herrschen eisige Minustemperaturen, sondern von unten. Sie werden von „warmem“ Wasser (knapp über dem Gefrierpunkt) unterspült. Damit schmilzt das Eis von unten und gleitet dann ins Meer. Jahrtausendelang entsprach der so stattfindende Eisverlust in der Antarktis der durch Schneefall hinzugewonnenen Eis-Menge, sodass sich die Grösse des Eisschilds seit der letzten Eiszeit kaum verändert hat. Dies ist aufgrund der Klimaveränderungen heute nicht mehr so. Nun gibt es in der Westantarktis einige besondere Strukturen, die dies noch verschlimmern: Die wichtigste ist, dass das Festland „retrograd“ geneigt ist, d.h. der Untergrund, auf dem der Gletscher liegt, fällt zum Landesinnern hin ab, mit ca. 1500 Metern unter dem Meeresspiegel am tiefsten Punkt. So wird die Eisschicht im Landesinneren immer dicker. Das Eis oberhalb des absinkenden Festlandes lasst sich nun von (durch den Klimawandel verursachtem) wärmerem Wasser immer leichter untergraben – es sickert einfach hinein in die tiefer gelegenen Festlandstrukturen, womit das Eis seine Haftung am Boden verliert, instabil wird und zuletzt ins Meer bricht.
Damit ist das die Westantarktis prägende Eisschild, der Thwaites-Gletscher, eine markante Schwachstelle der Antarktis, die schon bald ins Meer zu fliessen droht. Und sie ist riesig, fast so gross wie Grossbritannien, und mehrere Kilometer dick. Sie wird nur durch einen Eiskorken in Form eines einzelnen (sehr grossen) Gletschers, des Thwaites-Schelfeises, fest- und damit davon abgehalten, ins Meer zu fliessen. Mit anderen Worten, das vor der Festlands-Küste der Antarktis schwimmende Eisschelf wirkt wie ein Bremsklotz, der verhindert, dass das nachdrängende Festlandeis in seiner gewaltigen Menge ins Meer fliest. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass erstens das Schelfeis seinen Halt an einer unterseeischen Untiefe, die als singulärer Haltpunkt (pinning point) fungiert, verliert, und zweitens, dass sich der Scherrand, der das östliche Thwaites-Schelfeis von der Zunge des Thwaites-Gletschers trennt, ausgedehnt hat, wodurch die Verbindung des Schelfeises mit dem Pinning-Punkt weiter geschwächt wird. Satellitendaten, Bodenradar- und nicht zuletzt GPS-Messungen der Überschneidung der Risse mit verborgenen basalen Spaltenzonen deuten darauf hin, dass der Zusammenbruch des Schelfeises innerhalb von nur 5-10 Jahren(!) eingeleitet werden könnte. Während der riesige Gletscher selbst nach dem Verlust des Schelfeises noch einige Jahrhunderte bis zum kompletten Kollaps brauchen könnte, würden sich sein stetiger Abfluss und damit sein Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels nichtsdestotrotz erheblich beschleunigen.
Noch einmal in Kürze, was konkret passiert: Durch Klimaeffekte erzeugtes „wärmeres“ Wasser dringt zum westantarktischen Festland vor und unterspült das Eisschild. Das von unten schmelzende Eis verliert die Haftung am Boden und gleitet ins Meer. Das wärmere Wasser kann sich aufgrund der retrograden Neigung immer tiefer unter den Gletscher fressen und somit das Eis vom Landesinneren von unten her füssig werden lassen, so dass der Gletscher immer instabiler auf dem Eis steht und weiter abgleitet. Die vordere Gletscherwand kollabiert schliesslich, und immer mehr Eis stürzt ins Meer. Die sich abzeichnende Kollabierung des Gletschers über dem Festland erkennt man bereits in einer Folge von Radaraufnahmen, die aufzeigen, dass sich in jüngster Zeit massive Risse im zentralen Teil des Schelfeises gebildet haben, die sich mit Raten von bis zu 2 km pro Jahr ausbreiten.
Bisher stieg der Meeresspiegel wegen der Schmelze des grönländischen Eises und der Gebirgsgletscher, sowie weil sich das Wasser im Meer ausdehnt, wenn es sich erwärmt. In Zukunft wird die Antarktis der grösste Treiber dafür sein. Neunzig Prozent des weltweiten Eisvolumens befindet sich hier. Bei kompletter Auflösung des antarktischen Eises wird der Meeresanstieg um das 300fache höher liegen als durch die 19 cm im 20. Jahrhundert. Das Meer wird also um unvorstellbare 60 Meter steigen! Mit dem Schmelzen des Thwaites-Gletschers wird es wohl beginnen. Dies alleine wird das Meer um 0,6 Meter ansteigen lassen und unser Leben auf diesem Planeten bereits massiv prägen.