Ein scheinbar kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für die künstliche Intelligenz – Der Computer schlägt den Go-Weltmeister
Auch wenn in den Zeitungen des 13. März nur am Rande davon Notiz genommen wurde und die Sonntagsjournalisten lieber die wirtschaftlichen Probleme von Schweizerischen Wasserkraftbetreibern, die krude Idee des Christoph Blochers, Atomkraftwerke zu subventionieren oder die Doping-Beichte eines russischen Tennis-Glamourgirls in den Vordergrund zu stellen entschieden, so dürfte das, was tags zuvor geschehen ist, wahrhaftig Geschichte schreiben. Es handelt sich um ein aussergewöhnliches Ereignis, welches es vielleicht nicht oder nur zuhinterst in die Zeitungen des nächsten Tages schaffte, dafür aber 25 Jahre später sicher Eingang in die Geschichtsbücher finden wird (so bleibt uns mal wieder einer der entscheidendsten Wirkungsmechanismen unserer modernen Lebensbedingungen gerade von Seiten derjenigen vorenthalten, die sich das tägliche Frage-und-Antwort-Spiel der Weltdeutung zur Profession gemacht haben: die Fortschritte in den Naturwissenschaften).
Es war am Schluss nur ein Sieg in einem Spiel, aber an Symbolkraft und Aussergewöhnlichkeit besitzt dieser Sieg eine zukunftweisende Bedeutung für eine technologische Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren mit höchster Dramatik in unserer Lebenswelt entfalten könnte: Der Computer „AlphaGo“ besiegte im traditionellen chinesischen Brettspiel „Go“ klar und deutlich den menschlichen Weltmeister. Waren die Go-Profis vor dem Spiel noch überwiegend zuversichtlich gewesen, dass der 33- jährige Wunderspieler Lee Sedol die Maschine schlagen würde, so schien der beste menschliche Spieler zur Überraschung der meisten Kommentatoren keine Chance gegen die künstliche Intelligenz zu haben. Nun mag man sich fragen, was Besonderes daran ist, dass ein Computer den weltbesten menschlichen Spieler eines Brettspiels besiegt, ist dies doch im Schach bereits vor nahezu 20 Jahren geschehen, als der Computer „Deep Blue“ den Weltmeister Gari Kasparow gewann. Und können Computer nicht schon seit den Anfängen des Taschenrechners schneller rechnen als die Menschen? Doch tatsächlich bedeutet dieser Sieg der Maschine sehr viel mehr als ein für Menschen unbesiegbarer Schachcomputer. Denn bis zuletzt galt Go als zu komplex für jede künstliche Intelligenz, da es im Vergleich zum Schachspiel noch einmal um viele Grössenordnungen mehr mögliche Stellungen und somit potenzielle Entwicklungen des Spielverlaufs besitzt, als dass es eine sinnvolle Strategie darstellt, jeden Zug einfach durchzurechnen, wie dies Schachcomputer zumeist programmiert sind zu tun (die Informatiker sprechen in diesem Zusammenhang auch von der „der Brute-Force“ Methode). Viele Top-Go-Spieler entscheiden eher intuitiv, was ihre Züge für einen Computer sehr schwer berechenbar macht. Mit anderen Worten, während Schachcomputer einfach immense Rechenleistungen an den Tag legen und den Verlauf eines Spiels so weit vorausberechnen können, dass sie dem Menschen einfach überlegen sein müssen, ahmt die neue Go-Software den Menschen und seine Kreativität explizit nach. Mit noch einmal anderen Worten, sie spielt wie die besten menschlichen Spieler nach Eingebung und Intuition.
Aus diesem Grund ist Computerschach heutzutage kein grosser Forschungsgegenstand mehr, da sich die Wissenschaftler von ihnen keine weiteren bedeutenden Einsichten in das menschliche Denken und seine Kreativität versprechen. Anders beim Go: Hier sprechen die Go-Experten seit dem 12. März 2016 von „genialen Zügen“ seitens der künstlichen Intelligenz, die kein Mensch je erwartet, geschweige denn getan hätte. Es handelt sich um Züge, die erst 50 Züge später ihre mächtige Wirkung zeigen, und somit unmöglich das Resultat reiner Rechenkraft darstellen können. Was sich bereits an der Struktur der Software festmachen lässt: Anders als Schachcomputer basiert AlphaGo auf lernenden – man ist versucht zu sagen: lebendigen – neuronalen Netzen, welche der Architektur des menschlichen Gehirnes nachempfunden sind. Diese werden dann trainiert, indem die Lern- und Denkprozesse ihrer menschlichen Vorbilder nachgeahmt werden, womit sie über die Zeit immer besser werden (bezugnehmend auf die vielschichtigen Strukturen von neutonalen Netzen sprechen die Wissenschaftler auch von „Deep Learning“). Was die Go-Profis dann auch schockierte ist, wie sehr sich AlphaGo im Vergleich zum Oktober letzten Jahres, als die Software bereits den europäischen Go-Champion schlug, noch verbessert hat. Indem sie zunächst anhand zahlreicher menschlicher Partien trainiert worden war und danach immer wieder gegen sich selbst spielte, konnte sie ihre Spielstärke binnen nur fünf Monaten noch einmal dramatisch verbessern.
Dieser Erfolg der Maschine rückt eine Forschungsentwicklung ins Rampenlicht, die in neue technologische Sphären aufzusteigen verspricht: die künstliche Intelligenz („KI“). Zum Hintergrund: Informationsforscher unterscheiden zwei Arten von KI und versehen diese mit den Attributen „stark“ und „schwach“. Die „starke KI“ ist eine Form der Intelligenz, die wie der Mensch kreativ nachdenken und Probleme lösen kann. Bei der „schwachen KI“ geht es hingegen zunächst darum, mit Mitteln der Mathematik und Informatik konkrete Probleme zu lösen, wie beispielsweise das Erkennen von Mustern, das Verarbeiten von Sprache, Schachspielen (durch reines Rechnen), das Suchen von Webseiten im Internet, das Automatisieren einfacher Handgriffe oder wie seit einigen Jahren das Suchen bestimmter Informationen aus grossen ungeordneten Datensets. Während die starke KI trotz jahrelanger Forschung bis heute kaum grundlegend weitergekommen ist, sind bei der schwachen KI bedeutende Fortschritte erzielt worden. Bahnt sich mit den neuen Architekturen von vielschichtigen neuronalen Netzen und den in den letzten Jahren immer weiter verbesserten „Deep Learning“ Algorithmen nun vielleicht endlich eine neue technologische Entwicklung bei der starken KI an? Die Go-Experten sind auf jeden Fall sehr beeindruckt von der unerwarteten Kreativität und „Genialität“ der neuen Software.
Hier liegt das Potential einer atemberaubenden technologischen Entwicklung. So appellierten die führenden KI-Forscher bereits im Letzen Jahr (link) mit einem „Wir sind nun soweit“-Aufruf eindringlich an die Öffentlichkeit, sich mit ihren neusten Forschungsergebnissen zu beschäftigen. Maschinelles Lernen habe in den vergangenen beiden Jahrzehnten dramatische Fortschritte gemacht, weshalb die künstliche Intelligenz eine jener Technologien ist, die unsere zukünftige Lebenswelt einschneidend verändern werden. Hinterlassen wir alle nicht bereits überall Datenspuren und werden konstant dazu angehalten, immer mehr Daten preiszugeben? Vermögen nicht unterdessen Sensoren nahezu jede unserer Lebensäußerungen und -aspekte in Echtzeit zu messen? Mit Hilfe von AI-Algorithmen können diese Daten für die Erschaffer und Besitzer dieser Algorithmen (wie Google und Facebook) sichtbar gemacht werden, was diesen eine ungeahnte Macht verschafft. Sie könnten die Menschen dereinst in ihren Verhaltensweisen und Meinungen erfassen oder gar steuern, bis dahin, dass sie früher oder später gar größere politische und soziale Vorgänge erkennen, bevor diese selbst stattfinden. Und zuletzt werden die zukünftigen militärischen Infrastrukturen und Waffensysteme stark auf AI basiert sein. So hat beispielsweise die amerikanische Behörde NSA in Pakistan bereits Dutzende von Millionen Menschen danach gescort, wie wahrscheinlich es ist, dass sie einen Terroranschlag planen (auf Basis dieser Daten wurden 2‘500 bis 4‘000 Menschen getötet, u.a. wohl auch Osama bin Laden).
Dramatische Veränderungen unserer Lebensbedingungen vollziehen sich zugleich durch Fortschritte in zahlreichen anderen Technologien, wie der Autor dieser Zeile kaum müde wird zu betonen. Dass uns dies mit etwas derart Unterhaltsamen wie einem Brettspiel illustriert wird, ist erfreulich, wenn es uns denn hilft, sich der Dramatik der dahinterliegenden Entwicklungen bewusst zu werden. Denn auf jeden Fall sind zwischen unserer zukünftigen Lebenspraxis und dem naturwissenschaftlich-technologischem Fortschritt, der sich heute von unseren Augen abspielt, aufregende sowie zugleich unheimliche Verbindungen zu erkennen.