Diskussion unter Ökonomen – Von der permanenten Unterschätzung des technologisch-wissenschaftlichen Fortschritts

Beobachtern der Diskussion unter Ökonomen in den letzten Jahren muss auffallen, dass sich in der für Naturwissenschaftlern zuweilen gewöhnungsbedürftigen Vielfalt der Meinungen (teils gar zu fundamentalen Fragen ihrer Disziplin) eine nicht unbedeutende Verschiebung stattgefunden hat. So mehren sich Stimmen, die ein zentrales Dogma der Wirtschaftswissenschaften in Frage stellen: die Auffassung, dass die Wirtschaft (zumindest auf lange Sicht) exponentiell wächst. Der wohl bedeutendste argumentative Pfeiler dieses grundlegenden ökonomischen Postulats war bisher immer das Wachstum der Produktivität gewesen, welches seinerseits auf den anhaltenden technologischen Fortschritts zurückzuführen ist. Und spätestens hier sollten auch diejenigen hellhörig werden, die bis heute diesen Fortschritt an vorderster Front vorantreiben: die Naturwissenschaftler.

Nun lassen sich bei genauerer Betrachtung der ökonomischen Zunft in Fragen zur Natur des Wachstuns regelmässige Meinungsumschwünge unter ihren Protagonisten feststellen, welche in auffälliger zeitlicher Korrelationen zum Zyklus von Wirtschafts- und Finanzkrisen stehen. Der wohl promineste Vertreter des momentanen Zweifels am langfristigen exponentiellen Wachstum der wirtschaftlichen Produktivität ist der amerikanische Ökonom Robert J. Gordon, der gerade mit einem voluminösen Beststeller („The Rise and Fall of American Growth“) die These an die Öffentlichkeit getragen hat, dass in der Zukunft das ökonomische Wachstum weitaus geringer sein wird als das in den letzten 80 bis 100 Jahren der Fall war. Und auch der ehemalige US Finanzminister, Chefökonom der Weltbank und Präsident der Harvard Universität Lawrence Summers reiht sich unterdessen in die Apologeten einer „säkularen Stagnation“ ein. Nun vermögen wir die Argumentation von 762 Seiten kaum auf einer einzigen zusammenzufassen, aber im Wesentlichen beruft sich Gordon auf die folgende These: Das Wirtschafts- und Produktivitätswachstum der letzten 100 Jahre ist zum wesentlichen Teil auf die immense technologische Innovationen dessen, was er die „erste“ und „zweite industrielle Revolution“ nennt, zurückzuführen. Insbesondere die zweite industrielle Revolution des späten 19. Jahrhunderts, charakterisiert durch elektrische Anwendungen, Verbrennungsmotor, fotografische Bildaufnahmen, Radiotechnologie und die Entwicklung einer breiten Wasserversorgung, trieb die wirtschaftliche Produktivität in den folgenden 50 Jahren auf Höchststände. Doch haben wir diese Höchststände bereits hinter uns gelassen, so Gordon, was der Ökonom mit umfangreichen statistischem Material zu belegen weiss. Die „dritte industrielle Revolution“, nun charakterisiert durch Computer und Internet, die um das Jahr 1960 begann und gemäss Gordon in der „dot.com-Ära” der späten 1990er ihre Höhepunkt fand, steht ihrer Vorläuferin bzgl. Produktivitätswachstum um einiges nach (was die Ökonomen selber nicht ausreichend zu erklären wissen und von ihnen deshalb auch als „Produktivitätsparadoxon“ bezeichnet wird). Zudem verringern sich ihre Auswirkungen bereits, so Gordon, so dass, wie er folgert, für die nächsten 50 Jahren aufgrund einer fehlenden vergleichbaren Innovationsdynamik in den Industrieländern kein annähernd so grosses Produktivitätswachstum zu erwarten sei (Gordon bezieht sich in seiner Analyse im Wesentlichen auf die USA, lässt allerdings Analogieschlüsse auf andere Regionen zu).

Nun sollte man bei Prognosen bekanntlich vorsichtig sein, insbesondere bei denen, die die Zukunft betreffen, wie es heisst … sowie denjenigen, die von Ökonomen gemacht werden, sollte man vielleicht hinzufügen (an dieser Stelle ist erwähnenswert, dass Herr Gordon noch im Jahr 2003 – wohl im Antlitz des einsetzenden Internet-Booms damals – für die folgenden 20 Jahre, also bis 2023, mit Prognosen von sehr viel höherem Produktivitätswachstum aufwartete. Womit er falsch lag, denn tatsächlich entwickelte sich dieses wesentlich geringer als von ihm vorhergesagt, wie er uns nun, 13 Jahre später, selber vorrechnet und zugleich als Argumentationsmaterial für seine unterdessen gegenteilige Prognose für die nächsten 50 Jahre verwendet). Doch was uns wahrlich eklatant erschrecken sollte, ist, wie wenig unter den Meinungsführern des ökonomischen Denkens das Bewusstsein für den Entwicklungsstand der Naturwissenschaften und den mit ihr möglich werdenden Technologien entwickelt ist. Das Ergebnis dieses Defizits ist eine derart mangelhafte Analyse und phantasielose Zukunftsvorstellung von Seiten derjenigen, deren Aufgabe es doch gerade ist, uns die ökonomischen Wirkungsmechanismen unserer modernen Lebensbedingungen zu erklären. Auch wenn in den Tageszeitungen nicht viel zu wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen zu finden ist (d.h. auch die Journalisten in dieser Hinsicht ihrer Aufgabe kaum gerecht werden), so sollte man von den hohen Herren der Wirtschaftswissenschaften – Damen finden wir nur wenige darunter – doch erwarten, dass sie sich auch jenseits von Tagesereignissen, Monatsstatistiken und Jahreszyklen mit den für ihre Disziplin wichtigen Einflussfaktoren beschäftigen – auch wenn (oder gerade weil) der in ihren herkömmlichen Wachstumsmodellen so zentrale technologische Fortschritt doch eher sehr abstrakte Formen annimmt.

Nur Blindheit bzgl. der Entwicklungen der heutigen Wissenschaft kann einen Ökonomen wie Gordon zu der Schlussfolgerung kommen lassen, dass die heutige technologische Innovationsdynamik derjenigen vor 100 oder 150 Jahren signifikant nachsteht. Betrachtet man etwas genauer, was in den Forschungs- und Technologietransfer-Zentren der Welt zur Zeit vorgeht, so liesse sich zum gegenteiligen Schluss kommen: Die Nanophysik nähert sich dem Traum Richard Feynmans an, die Strukturen der Mikrowelt bis auf Grössenordnungen einzelner Atome zu manipulieren. Neue Quantentechnologien versprechen, die seltsamen Eigenschaften der Quantenwelt für noch viel erstaunlichere Anwendungen in unserer Makrowelt nutzbar zu machen – was unter anderem eine ganz neue Art von Computer ermöglich könnte, der noch einmal unvorstellbar schneller rechnen könnte als selbst die grössten heutigen „Supercomputer“. In der Neuroforschung werden wir Zeuge der ersten Schritte, unser Denkorgan direkt mit Computern zu verbinden, und die Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz feiert grosse Durchbrüche auf ihrem Weg, die menschliche Intelligenz nachzubilden. Fortschritte in Medizin und Biologie versprechen uns, schon bald nahezu jede heute bekannte Krankheit heilen zu können. Und unser Verständnis der Mechanismus der genetischen Vererbung ist unterdessen so gut, dass wir schon bald in unsere eigene Evolution (und in noch beschleunigter Form in die anderer Arten) eingreifen könnten. Die neue Disziplin der „synthetischen Biologie“ schafft Lebensformen, die es auf unserem Planeten noch nie gab. Die Liste möglicher und sich bereits am Horizont der wissenschaftlichen Forschung abzeichnender „Schlüsseltechnologien“ der Zukunft ist länger, faszinierender und oft auch beängstigender als je zuvor. Und all diese Entwicklungen gehen weit über das hinaus, was heute bereits als „Industrielle Revolution 4.0” bezeichnet wird und sich auf die gegenwärtige Computerisierung und Automatisierung der Warenproduktion bezieht. Wir stehen am Anfang einer neuen industriellen Revolution, die sich nicht nur durch eine, zwei oder drei neue Schlüsseltechnologien auszeichnet, sondern gleich durch ein halbes bis ganzes Dutzend ihrer. Im Jahr 2100, so behauptet der Physiker Michio Kaku, werden wir Objekte nur mit der Kraft unserer Gedanken bewegen und manipulieren. Mittels Bio- und Neurotechnologie werden wir unsere Körper perfektioniert haben, die Fähigkeiten unseres Geistes potenziert und unsere Lebensspanne bedeutend verlängert haben – letzteres vielleicht sogar auf unbegrenzte Dauer. Mit Hilfe neuer Nanotechnologien werden wir Gegenstände ineinander umwandeln oder sie wie aus dem Nichts entstehen lassen können. Quantencomputer werden Komplexitäten beherrschen, die uns heute aufgrund ihrer Unvorhersagbarkeit und Unkontrollierbarkeit noch ehrfürchtig erschaudern lassen. Die wissenschaftlichen Grundlagen all dieser neuen „Wunder“-Technologien werden bereits heute in den Forschungslaboren weltweit entwickelt.

Betrachten wir diese dramatischen Entwicklungen, so ist zu erwarten, dass sich in den der nächsten Jahren und Jahrzehnten unsere Lebensweise, unsere Wirkung auf die uns umgebende Natur, ja sogar unser Menschenbild noch einmal weitaus dramatischer verändern werden als dies seit Beginn der wissenschaftlichen Revolution vor 400 Jahren und den ihr folgenden industriellen Revolutionen bereits geschehen ist. Die Anfänge eines historischen Umbruchs, im Verlaufe dessen wir nicht nur neue mächtige und atemberaubende Technologien erleben werden, sondern auch den Menschen selbst, seine Biologie, seine Identität und sein Bewusstsein grundlegend verändern könnten, geben sich schon heute erkennen. In Anbetracht dieses Szenarios wird es vermutlich bereits in nicht allzu ferner Zukunft einen Moment geben, in dem sich die Spielregeln des menschlichen Lebens und Zusammenlebens fundamental verändern könnten. Dass in Anbetracht dieser Entwicklungen einige Ökonomen zukünftig einen zurückgehenden technologischen Fortschritt annehmen können, offenbart, wie weit sie von der „realen Welt“ entfernt sind. Dass ihre Zunft aber auch anders kann, zeigen die Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, die in ihrem Buch „Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird“ teils sehr ähnliche Entwicklungen aufzeichnen wie die oben dargestellten. Wenn die Modelle der Ökonomen nicht in der Lage sind, diese sich anbahnenden Veränderungen zu erfassen, so sollte es ihren Erschaffer (und uns Laien) leichter fallen, die Zukunft ihrer eigenen Modelle zu prognostizieren als diejenige der Welt, in der wir leben werden.

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