Hatten nur die wenigsten Naturforscher und Philosophen der Antike dem Gehirn eine bedeutende Funktion zugeschrieben (für Aristoteles war es nicht mehr als ein Kühlaggregat für das vom Kreislauf erhitzte Blut), so dreht sich heute in der wissenschaftlichen Erfassung des menschlichen Wesens das meiste um unser Denkorgan. Noch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hatte die Hirnforschung im Hintergrund wissenschaftlichen Interesses gestanden (wer kennt heute noch den Spanier Ramón y Cajal, der nahezu zeitgleich zu Einsteins grössten Werken die heute anerkannten Neuronen-Doktrin formulierte?). Erst in den 1990er-Jahren, die von den beteiligten Wissenschaftlern alsbald zur „Dekade des Gehirns“ ausgerufen wurden, brachten rasante Fortschritte im Verständnis des Aufbaus und der Struktur der neuronalen Architektur des Gehirns die Neuroforschung in das Zentrum der öffentlichen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Auf einmal fanden sich alte philosophische Fragen wie das Leib-Seele-Problem, die Frage nach der Natur unseres Bewusstseins – spezifisch das Ich-Problem – oder die Natur spiritueller Erfahrungen auf der Agenda naturwissenschaftlicher Diskussionen. Denn von nun an liessen sich viele der zugrunde liegenden physikalischen Prozesse, die sich in uns subjektiv als Erinnerung, Emotionen, Bewusstsein und Identität des Ichs manifestieren, systematisch empirisch erforschen. So können Mediziner unterdessen diejenigen Regionen im Gehirn lokalisieren, die bei Patienten mit Störungen des Ich-Bewusstseins beschädigt sind. Und die modernen bildgebenden Verfahren ermöglichen es, dem Gehirn direkt bei seiner Arbeit zuzuschauen. Mit den sich aus den neuen technologischen Möglichkeiten der letzten 20 Jahre ergebenden Erkenntnissen wähnen sich die Hirnforscher auf dem Weg zu nichts Geringerem als einer Erklärung des Bewusstseins auf rein physikalischer Basis oder zur Heilung von leidvollen psychischen Krankheiten und versprechen so, zu einem tieferen Verständnis des menschlichen Wesens zu gelangen.
Dass sie dabei unterdessen bedeutende Fortschritte gemacht haben, können selbst deklarierte Neuroskeptiker kaum leugnen. So ist mit der Hinwendung der Hirnforscher zu unserem Bewusstsein zuletzt auch Bewegung in die Philosophie geraten. Es entstand eine neue Philosophie des Geistes, die erste mit einem empirischen Fundament. Für die Neurobiologen und Philosophen, die mit ihnen zusammenarbeiten, besteht bewusstes Erleben in einer ‚Repräsentation‘ innerhalb unseres Gehirn, welche für uns ein Modell der Wirklichkeit erzeugt. Es ist eine Art ‚biologisches Datenformat‘, eine bestimmte Weise, Informationen über die Welt darzustellen, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, eine innere Repräsentation der Welt herzustellen und damit zuletzt verschiedene zeitliche Szenarien zu simulieren. Diese gesamthafte innere Repräsentation resultiert aus dem Zusammenfügen vieler einzelner Informationen, die von den Sinnesorganen ins Gehirn gelangen. Die sich ergebende Einheit in unserer Wahrnehmung, also die Tatsache, dass wir bei all den vielen Sinneseindrücken unser Erleben als eine Einheit erkennen (die Neuroforscher sprechen von der ‚Kohärenz’ des Bewusstseins), ist neben der ‚zeitlichen Einheit des Ichs‘ eine der erstaunlichsten Leistungen unseres Gehirns. Wie diese Kohärenz genau geschieht, ist weitestgehend noch offen (die Neuroforscher sprechen in diesem Zusammenhang auch vom „Bindungsproblem“). Besonders populär unter ihnen ist die Hypothese, dass diese Kohärenz der Erlebnisse mit synchronisierten Aktionen von Neuronen oder Neuronen-Verbänden einhergeht, die sich aus rhythmischen, oszillatorischen Entladungen neuronaler elektrischer Potentiale ergeben. Unser ‚Ich‘ wäre demnach in letzter Hinsicht ein komplexes physikalisches Ereignis, ein Aktivierungsmuster in unserem Gehirn. Dass wir nicht merken, dass das Ego eine bestimmte Art der Repräsentation – manche würde sagen eine Illusion – darstellt, ist Teil des Schemas. Der Neurophilosoph Thomas Metzinger spricht in diesem Zusammenhang von einer „transparenten Repräsentation“.
Doch bei all dem bleibt zuletzt dennoch die wichtigste Frage weiter offen: Wie ist in einem objektiven, subjekt-unabhängigen, physikalischen Universum die Entstehung von Bewusstsein und subjektivem Erleben möglich? Wie kann man erklären, dass so etwas wie subjektives, bewusstes Erleben auf der Basis objektiver physikalischer Vorgänge entstehen konnte? Sind subjektives Empfinden und das Entstehen einer Innenperspektive in einer objektiven ‚natürlichen Ordnung der Dinge‘ überhaupt denkbar – oder werden wir an dieser Stelle mit einem endgültigen Mysterium konfrontiert, mit einem weißen Fleck auf der Landkarte des wissenschaftlichen Weltbilds, der vielleicht aus prinzipiellen Gründen immer weiss bleiben wird? Diese Fragen werden zurzeit inner- und ausserhalb der Neuroforschung aufs heftigste diskutiert. Dabei hat sich zunächst im Schatten der wissenschaftlichen Erfolge der Neuroforschung in den letzten Jahren eine nun aber wachsende Zahl selbsterklärter „Neuroskeptiker“ formiert. Es handelt sich hier (zumeist) um Laien (aber auch um den ein oder anderen Forscher), die dem von ihnen als allumfassend wahrgenommenen Erklärungsanspruch der Neuroforschung skeptisch gegenüber stehen. Das subjektive Empfinden eines Schmerzes, Liebe, oder auch Gefühle wie Scham, Zorn oder Neid – alles nur Erregungssalven in der neuronalen Architektur unseres Gehirns? Hier bringen die Skeptiker ihre Zweifel an, welche sich allerdings nur allzu oft mit Furcht oder Argwohn vor einer möglichen Manipulierbarkeit des Menschen durch Neurotechnologien verbinden. Doch wenn der Reduktionismus, hier in Form der Deutung unseres Geistes als Produkt des neuronalen Informationsaustausch unangebracht ist, woher dann die Angst vor der Neurotechnologie?
Doch auch in der Neuroforschung selbst setzt sich heute die Einsicht durch, dass das menschliche Fühlen, Denken, und Handeln in grössere Zusammenhänge, in soziale Gefüge und gesellschaftliche sowie kulturelle Bedingungen, eingebunden ist. Zudem ist ein Gehirn selbst immer auch ein Teil eines gesamten Körpers: So entscheidet, handelt und fühlt nie ein einzelnes Gehirn, sondern immer die gesamte Person mitsamt ihrem Körper. Auch sind die angekündigten Fortschrittsversprechen der Neuroforscher, welche noch vor 10 Jahren für den Zeitraum einer Dekade breitbrüstig angekündigt wurden, weitestgehend unerfüllt geblieben, etwa beim Verständnis und bei der Behandlung psychischer und neuro- degenerativer Erkrankungen. In der Behandlung schizophrener oder schwer depressiver Patienten hat es in den letzten Jahren so gut wie keinen medizinischen Fortschritt gegeben. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat sich im November des letzten Jahres eine Gruppe von Psychiatern, Psychologen und Philosophen zusammengeschlossen und ein „Memorandum reflexive Neurowissenschaften“ verfasst. Dabei nehmen die Autoren auf die obigen Kritikpunkte an den Neurowissenschaften Bezug. Neben ungerechtfertigten Erklärungsansprüchen und einer Reduktion des Menschen auf seine Biologie bemängeln sie die Qualität der Neuroforschung, das „Überverkaufen“ von experimentellen Daten und die „reduktionistische Banalisierung komplexer Phänomene“. Und sie finden innerhalb der wissenschaftlichen Community durchaus Gehör. Diese diskutiert zahlreiche der aufgeführten Probleme und die gemachten Vorschläge zu ihrer Lösung, was als Bestandteil eines gesunden Forschungsbetriebes anzusehen ist.
Nun mag man anführen, dass der gewählte Name dieser Gruppierung das darstellt, was die Germanisten eine „Pleonasmus“ nennen. Wir kennen das aus unserer Schulzeit, als wir mir runden Kreisen, alten Greisen oder Pulsschlägen konfrontiert wurden (heute würde so mancher gerne „gierige Banker“ oder „selbstbezogene Politiker“ in diese Liste aufnehmen“). Alles, was den Begriff „Wissenschaft“ in sich trägt, ist in ihrem Wesen nach immer kritisch und reflexiv. Genau das macht Wissenschaft aus und unterscheidet sie vom esoterischen Glaubenslehren und quacksalberischen Pseudowissenschaften. Man sollte diese Kritik eher mit dem Adverb „gesellschafts-“ versehen, um damit auszudrücken, dass die Neurowissenschaft im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses angekommen ist. Hier durchläuft sie im Übrigen eine Entwicklung, die bisher sämtliche wissenschaftliche Disziplinen auf ihrem Weg der Reifung durchlaufen haben. So findet die Kritik an dem – mit einem vergleichbar überzogen Erklärungsanspruch dahergekommenen – mechanistischen Weltbild der Physik des 17. bis 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck in der anti-rationalistischen Bewegung der Romantik. Die gesellschaftliche Reaktion auf das mit Darwin einsetzende Erwachsenwerden der Biologie ist bis heute nicht vollständig abgeschlossen (in ihr lassen sich einige Parallelen zur Diskussion um die Neuroforschung finden). Und auch die Medizin benötigte Jahrzehnte, um sich vom Traum des in der Gesellschaft tief verankerten, phantastischen Allheildenkens göttlicher (und Galen’scher) Prägung zu lösen und findet bis heute ihre Gegenpole in „nicht-schulmedizinischen“ Heilmethoden.
Schon immer stehen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen in enger Beziehung zur Gesellschaft, in der sie stattfinden, beeinflussen diese und werden umgekehrt von ihr beeinflusst. Der gesellschaftliche Diskurs über ihre Qualitäten, Konsequenzen und ethischen Dimensionen ist nichts anderes als ein Reifeprozess, aus dem die Naturwissenschaften immer wieder gestärkt für weitere Herausforderungen hervorgehen. So befindet sich nun auch die Neurowissenschaften auf einem verheissungsvollen Weg in ihr Erwachsendasein. Die Debatte um ihre Erkenntnisse und die Einflüsse, welche diese wiederum auf unser Menschen- und Gesellschaftsbild haben, stellt heute eine der interessantesten und kontroversesten Diskussionen zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft, in der sie stattfindet, dar.