Die Neuentdeckung der Welt: Wie Genies die Wissenschaften aus ihren tiefsten Krisen in die Moderne führten

(Vorwort und Nachwort zu Lars Jaegers neuem Buch über die revolutionären Ereignisse in allen Wissenschaften in der Zeit von ca. 1880 bis ca. 1950; https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-65386-9)

Ende des 19. Jahrhunderts waren fast alle Wissenschaftler davon überzeugt, die Gesetze der Welt und damit ihr Wesen in ihrer gesamten Tiefe ein für alle Mal verstanden zu haben. So galten die Gesetze der Physik, also das Newtons und die neuen Erkenntnisse auf den Gebieten des Magnetismus und der Elektrodynamik, als ewig gültige Weltformel. Aus dieser Haltung heraus wurde dem jungen Max Planck, der in den 1870er-Jahren einen seiner Lehrer fragte, ob er Physik studieren solle, die Antwort gegeben, dass es auf diesem Gebiet nicht mehr viel zu entdecken gebe. Zum Glück hörte Planck nicht auf diesen Rat.

Das mühsam errungene und als sicher geglaubte Wissen erwies sich als recht volatil. Was frühere Forschergenerationen für absolut wahr hielten, ist es in den allermeisten Fällen für uns heute nicht mehr. Wissenschaftler haben diese Lektion gelernt, sie gehen heute explizit davon aus, dass Wissen stets nur temporär korrekt sein kann; das Gültige kann sich jederzeit als falsch erweisen.

Diese Abkehr von ewigen Wahrheitsansprüchen begann Ende des 19. Jahrhunderts und löste eine umfassende Krise in den Wissenschaften aus. In den achtzig Jahren von 1870 bis 1950, einem Zeitraum, der ein Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit ist und heute weniger als ein Menschenleben umfasst, fand die wohl grösste Denk-Revolution aller Zeiten statt. Sie war weit einschneidender als die Paradigmenwechsel von Renaissance und Aufklärung (auch wenn man in Geschichtsbüchern der Schule wenig davon von erfährt). Begleitet wurde diese Krise der Wissenschaften durch zwei Weltkriege, dem Untergang der tradierten Gesellschaftsordnungen sowie einer Neuordnung der Welt.

Wo die Not gross ist, ist die Rettung nicht fern. Ab Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten eine Reihe wissenschaftlicher Genies von atemberaubender Kreativität, die letztendlich die Wissenschaften aus ihren Krisen führten. Dieses Buch beschreibt ihr Wirken und begleitet die Wissenschaft auf ihrer so aufregenden wie bizarren Reise in die Moderne. Auf ihr begegnen wir unter anderem dem mathematischen und physikalischen Genie James Maxwells, den in schwere psychische Kämpfe verstrickten Geistesgrössen Georg Cantor und Ludwig Boltzmann, dem in Glaubens- wie Wissenschaftsfragen so bewegten Charles Darwin, dem Revolutionär wider Willen Max Planck, dem Schweizer Revolutionär Albert Einstein, zahlreichen genialen Knabenphysikern um Niels Bohr, die im Alter von nicht viel mehr als 20 Jahren die Welt der Physik endgültig umstürzten, und nicht zuletzt den mathematischen Genies John von Neumann, Kurt Gödel, Alan Turing und Emmy Noether, deren revolutionäre Gedanken auch vor den Grundzügen der Logik nicht haltmachten.

Dieses Buch ist in zwei Teile gegliedert. Die Kapitel eins bis fünf beschreiben die Phase, die ungefähr auf den Zeitraum zwischen 1870 und 1925 einzugrenzen ist und in der nahezu zeitgleich in Physik, Mathematik, Biologie bis hin zur Psychologie Entwicklungen stattfanden, die zu den tiefsten Krisen der jeweiligen Fachbereiche führten. Die Kapiteln sechs bis zwölf werfen ein Licht auf die genannten Wissenschaften in den anschliessenden Jahren bis 1950, die den Durchbruch in die Moderne brachten. In diese Zeit fällt auch die entscheidende Wende von einem an Theorie und Philosophie ausgerichteten Wissenschaften hin zur ihrer praktischen und anwendungsbezogenen Orientierung.

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Von dem Wendepunkt der Aufklärung und dem darauf folgenden Schwund ihrer Deutungshoheit hat sich die Kirche bis heute nicht erholt. Dass aber auch die moderne Wissenschaft durch eine tiefe Krise an den Rand des Abgrundes geführt wurde, diese aber innerhalb weniger Jahrzehnte meisterte, ist kaum bekannt. Nur mithilfe einer fünften Tugend gelang es ihnen, anders als der Kirche, absolutes Neuland zu betreten und so diese Krise zu überwinden: die intuitive Genialität.

Sie brachte die notwendige Kreativität ins Spiel, ohne die nüchterne Rationalität zu verraten. Die Wissenschaftsgeschichte der vergangenen 150 Jahre zeigt, dass am Beginn grosser Erkenntnissprünge fast immer intuitive, teils sogar irrationale Ideen einzelner Wissenschaftler standen. So lässt sie sich als ein dialektischer Prozess zwischen gelegentlichen Ausbrüchen von Genialität und stetem, nüchtern-rationalem Fleiss im Denken und Beobachten begreifen. So wurde die intuitive Genialität zu einem besonders starken Treiber für die entscheidenden Durchbrüche im 20. Jahrhundert.

Der Weg der Wissenschaften aus Dogmen und Aberglauben heraus zu rationalem Denken und empirischem Forschen war lang und mühsam. Umso wertvoller ist die Erkenntnis, dass die Suche nach Wissen nie endet. Dies war eine (neue) wissenschaftliche Charakteristik, die der Philosoph Karl Popper als erster erkannte: Popper führte in den 1920 Jahren aus, dass aus einer experimentellen Prüfung logischerweise keine wissenschaftliche Theorie ein für alle Mal bestätigen werden kann, während sie ein einziges experimentelles Gegenbeispiel logisch widerlegen kann. Poppers Darstellung der logischen Asymmetrie zwischen Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit ist das Herzstück seiner bis heute bekannten Wissenschaftstheorie. De facto kann sogar nach ihm eine Theorie nur dann als wissenschaftlich gelten, wenn sie (potentiell) falsifizierbar ist. Dies ist auch innerhalb der Wissenschaften selbst ein revolutionärer Zug, war doch bis ins späte 19. Jahrhundert die Meinung der Physiker gewesen, dass einmal bestätigte und konsistente Theorien für immer Gültigkeit besitzen.

Viele wissenschaftliche Laien wünschen sich dagegen unverrückbare Wahrheiten. In einer Zeit, in der Populisten diese Sehnsucht für ihre Zwecke missbrauchen, eine irrationale Kritik an den Wissenschaften auf dem Weg ist, gesellschaftsfähig zu werden, und Zweifel an ihr immer aggressiver vorgetragenen wird, müssen wir konsequent dafür sorgen, dass die Stimme der Rationalität klar und deutlich gehört wird.

 

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