Die Nähe von Einfachheit und Chaos – Zum Wesen linearer und nicht-linearer Dynamiken
Für Teichbesitzer ist es ein Albtraum: Das Wasser wird von einer Woche auf die andere trübe und undurchsichtig, an der Oberfläche bildet sich ein grüner Algenteppich, es stinkt furchtbar und die Fische schwimmen bauchaufwärts. Und dabei war doch vor kurzem noch alles okay mit dem Gewässer. Was ist passiert? Der Teich ist umgekippt. Unter ‚Umkippen‘ versteht man einen schlagartig auftretenden Sauerstoffmangel in einem Gewässer. Als Konsequenz stirbt alles vom Sauerstoff abhängige Leben darin. Dieser Sauerstoffmangel kann entstehen, wenn der Abbau abgestorbener Algen- und Wasserpflanzen mehr Sauerstoff verbraucht, als die lebenden produzieren können. Überspitzt gesagt: Eine letzte abgestorbene Alge lässt die Sauerstoffkonzentration unter einen kritischen Wert sinken (was auch durch äussere Einflüsse wie Wetterbedingungen – Stürme, starker Regen – ausgelöst werden kann), und Fische und weitere Lebewesen, die auf Sauerstoff angewiesen sind, sterben. Weil deren Körper nun auch unter Sauerstoffverbrauch zersetzt werden, sinkt der Sauerstoffgehalt nur noch weiter. Ein unumkehrbarer Sterbeprozess setzt ein.
Die Plötzlichkeit dieses Prozess verwirrt viele Menschen. Denn sie denken bei ökologischen Systemen zunächst an die gleichen stetig und berechenbar ablaufenden Prozesse, die sie aus ihrem Alltag gewohnt sind. Input (geringe Änderung der Menge abgestorbener Pflanzen) und Output (Gesamtzustand des Teichs) stehen hier im gleichen Verhältnis zueinander. Die Fachsprache nennt diese Art von Prozessen ‚linear‘. Tatsächlich suggerieren die verhältnismässig einfachen (und linearen) Grundgleichungen der Physik (Newtons Grundgleichung der Mechanik, die Maxwell-Gleichungen in der Elektrodynamik, Schrödingers und Diracs Gleichungen in der Quantenmechanik bzw. Quantenfeldtheorie), dass sich die Vorgänge der Natur im Allgemeinen gut berechnen und vorhersagen lassen. So glaubten die Physiker auch lange, dass Unkompliziertheit die Regel sei und die Natur im Grunde recht einfach zu beschreiben und vorherzusagen sei. Vielleicht nicht zuletzt darauf basierte das in den Naturwissenschaften lange Zeit vorherrschende reduktionistische, zuweilen gar mechanistische Denken.
Dabei erkannten bereits die Mathematiker des 18. Jahrhunderts, dass wenn man das Zweikörperproblem der Gravitation (Sonne und ein einzelner Planet, wie dies Keplers Gesetze beschreiben) auf lediglich drei Körper erweitert, die resultierenden mathematischen Gleichungen sehr schwierig werden (und Keplers Gesetze nicht mehr exakt zutreffen). Und bereits das den Menschen des 17. Jahrhunderts seit vielen Jahrhunderten bekannte Würfelspiel zeigt, dass einfache mechanische Prozesse nicht vorhersagbar sein, da die Anfangsbedingungen der Würfel und ihr Aufprall auf Boden und Wand nicht ausreichend genau bekannt sind – und sein können. Unterdessen lässt sich diese Erkenntnisse verallgemeinern: Viele Phänomene in der Natur entsprechen nicht den einfachen Paradefällen der theoretischen Physik. Mit ihren vielen Freiheitsgraden (unabhängigen und daher ‚frei wählbaren‘ Bewegungsmöglichkeiten eines Systems) sind sie derartig komplex, dass sie alles andere als leicht lösbar und vorhersagbar sind. Entgegen dem Glauben aus dem 18. Jahrhundert lässt sich die Natur – und erst recht der Mensch – kaum mittels des Paradigmas einer überschaubaren und beschreibbaren oder gar einfach kontrollierbaren ‚Maschine‘ heraus beschreiben.
So kann das oben erwähnte System von drei Massen (‚Dreikörperproblem‘) bereits ein sehr merkwürdiges Verhalten aufweisen, bei welchem schon minimal kleine Änderungen seiner Anfangsbedingungen zu grossen Unterschieden in seinen Bewegungsabläufen führen. In den 1970er- und 1980er-Jahren entdeckten die Physiker und ihre Mathematiker-Kollegen zahlreiche physikalische Systeme und Modelle, die solche kuriosen Signaturen aufwiesen und sich dabei durch sehr irregulären Bewegungen auszeichneten. Unterstützt durch anschauliche computergenerierte Darstellungen fanden diese Strukturen vor 30 Jahren sogar grosse Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit. Das ‚Apfelmännchen‘, welches diese Form der Dynamik repräsentierte, brachte es dabei zu einiger Berühmtheit.
Wir bezeichnen die Eigenschaft solcher Systeme heute als ‚chaotisch‘. Eine ihrer wichtigen Eigenschaften ist, dass sie ‚nichtlinear‘ sind (technisch bedeutet dies, dass die Variablen der Bewegung in den zugrundeliegenden (Differential-)Gleichungen in höheren Potenzen als eins, der lineare Fall, vorkommen). Anders als in der Umgangssprache charakterisiert der Begriff ‚Chaos‘ in der Physik nicht einen gegenwärtig unordentlichen Zustand eines Systems, sondern eine Eigenschaft der Dynamik seines zeitlichen Verhaltens: Obwohl die zugrunde liegenden Gesetze das Verhalten eines chaotischen Systems im Grunde eindeutig festlegen, ist es dennoch irregulär und unvorhersehbar. Die Physiker sprechen deshalb auch von ‚deterministischem Chaos‘.
Ein solcher Zusammenhang zwischen ‚Determinismus‘ und ‚Chaos‘ mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Umgangssprachlich wird der Begriff ‚deterministisch‘ zumeist als ‚kausal bestimmt‘ verstanden. Unterscheidet man jedoch zwei verschiedene Arten kausaler Determination, so lässt sich dieser Widerspruch auflösen: Kausale Verknüpfungen können linear oder nicht-linear sein. Lineare Verknüpfungen bedeuten nicht nur ‚gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen‘, sondern zudem ‚ähnliche Ursachen, ähnliche Wirkungen‘, was das System über längere Zeiten hinweg gut vorhersagbar macht. Im Fall nicht-linearer Verknüpfungen gilt dies nicht mehr: Hier haben ähnliche, sehr ähnliche, ja sogar fast ununterscheidbare Ursachen sehr verschiedene Wirkungen. Es gilt zwar immer noch ‚exakt gleiche Ursachen, exakt gleiche Wirkungen‘, aber nicht mehr ‚ähnliche Ursachen, ähnliche Wirkungen‘. Bereits kleine Abweichungen von der Exaktheit können große Unterscheide im zeitlichen Ablauf des Systems hervorrufen. Da Anfangsbedingungen in der Realität niemals ganz exakt festgelegt oder festgestellt werden können, ist die Entwicklung eines solchen Systems nicht mehr bestimmbar.
In (deterministisch) chaotischen Prozessen kann es an bestimmten kritischen Schwellenwerten, sogenannten ‚Kipp-Punkten‘, vorkommen, dass sich das gesamte System bei einer nur minimalen Änderung bestimmter seiner Variablen dramatisch ändert (‚kippt‘), während es sich jenseits dieser Kipp-Punkte völlig ‚normal‘ verhält. Das ist, was in einem Teich passieren kann: Er kippt in einen vollständig anderen (in diesem Fall toten) Zustand. Die philosophische Grundannahme von Leibniz – und mit ihm im Grunde eines sehr großen Teils der gesamten abendländischen Naturphilosophie seit Aristoteles, dass „die Natur keine Sprünge macht“ („natura non facit saltus“ [1]), ist somit falsch. So besitzt beispielsweise unser globales Klima zahlreiche dieser Kipp-Punkte, von denen wir heute wissen.
Diese Einsicht birgt politische Sprengkraft: Denn viele Menschen, unter ihnen auch leider auch zahlreiche Politiker, erkennen nicht, dass sich die Eigenschaften des Klimas auf unserem Planeten mit seinen zahlreichen nicht-linearen Rückkopplungen völlig anders darstellen als die gewohnten linearen Trends, nach denen sich politische und gesellschaftliche Entwicklungen in ihren Augen doch normalerweise richten sollten. So beschreiben Sozialwissenschaftler (insbesondere in den Finanzwissenschaften) mit dem Begriff „schwarzer Schwan“ – ursprünglich eine Metapher der Philosophen John Stuart Mill und Karl Popper [2] – seit einigen Jahren mögliche, jedoch sehr unwahrscheinliche, dramatische und oft verheerende Ereignisse. Während die Physiker (und noch vor ihnen die Biologen) die Charakteristiken der komplexen und unvorhersehbaren Dynamik nicht-linearer Systeme erkannt haben, bedienen sich ihre Kollegen von den Sozialwissenschaften (und unter ihnen insbesondere die Wirtschaftswissenschaftler) nur allzu oft immer noch bis zur Nachlässigkeit vereinfachter Modelle, anstatt den komplexeren Ursprüngen beispielsweise von „schwarzen Schwänen“ nachzugehen. Aufsichtsgremien schenken nach wie vor den Beteuerungen und lumpigen mathematischen Modellen der Finanzindustrie oder den wiederkehrenden Sicherheits-Beschwörungen der Atomlobby Glauben. Dabei verdeutlichen Ereignissen wie 2008 auf den Kapitalmärkten und im März 2011 an der japanischen Küste von Fukushima, und in viel grösserem Massstab die Entwicklung des globalen Klimas unter dem Treibhauseffekt: Wir tanzen auf einem Vulkan. Entsprechend müssen klare Informationen und verantwortliches Handeln eingefordert werden. Im Gegensatz zu gutem politischem Willen fehlt es an mathematischen Modellen und wissenschaftlichen Einsichten dazu nicht. Nichtlineare Prozesse haben in den Naturwissenschaften längst die ihnen gebührliche Aufmerksamkeit gefunden.
[1] Diese Grundannahme, die auch bereits beim Vorsokratiker Heraklit auftritt („Panta Rhei“ – „Alles fließt“), stammt in dieser Form vom Naturforscher Carl von Linné und begründet den biologischen und geologischen Gradualismus. Allerdings gab es um das Thema der Kontinuität des Naturgeschehens in der Geistesgeschichte immer wieder heftige Diskussionen. [2] Die zuletzt allerdings auf den Satiriker Juvenal zurückgeht, der eine treue Ehefrau „rara avis in terris, nigroque simillima cygno“ nennt („ein seltener Vogel in allen Ländern, am ähnlichsten einem schwarzen Schwan“).