Die grosse Ernüchterung – Beim LHC bisher nichts ausser dem Standardmodel
Die Freude unter Wissenschaftlern war gewaltig, als das Kernforschungszentrum CERN am 4. Juli 2012 bekanntgab, dass seine Physiker die Signatur eines neuen Teilchen entdeckt hatten: das lang ersehnte Higgs-Boson. Für einmal waren die internationalen Zeitungen voll von Berichten über die Grundlagenforschung in der Elementarteilchenphysik. Endlich hatte ihr so genanntes „Standardmodell“ ein solides Fundament bekommen und war damit komplett. Zugleich bedeutete diese Entdeckung eine Sternstunde der theoretischen Physik. Denn mehr als 50 Jahre zuvor war die Existenz dieses Teilchens als Konsequenz eines abstrakten theoretischen Rahmens vorhergesagt worden, den Physiker „spontane Symmetriebrechung“ nennen. Erst dieser Prozess sollte den Elementarteilchen in einer zunächst massefreien Theorie ihre Masse geben. „Ohne Higgs-Boson keine Masse im Universum“ so lässt sich die theoretische Erkenntnisse des Namensgebers des Teilchens, Peter Higgs, und zweier Kollegen aus den frühen 60er Jahre zusammenfassen.
Nun haben die Physiker auf ihrer Suche nach den fundamentalen Strukturen mit den Jahren eine neue Masseinheit kennengelernt. Es handelt sich dabei um die wohl einzige Einheit, die sie mit Wall-Street-Investmentbankern teilen: der US-Dollar. Sie gibt ein direktes Mass für die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Experiment überhaupt durchgeführt werden kann. Der endgültige Nachweis, dass es im Universum Masse gibt, schien den Physikern mehr als sechs Milliarden US-Dollar wert gewesen zu sein (man merkt, dass es sich bei ihnen um Menschen handelt, die es genau wissen wollen: die alltägliche Erfahrung der Schwere reicht ihnen nicht aus). So viel kostete der für die Entdeckung des Higgs-Teilchens notwendige Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadrom Collider). Eine Menge Geld für ein einziges Teilchen, sollte man meinen, zumal von dessen Existenz ja eigentlich schon a priori auszugehen war (seine Entdeckung war dann auch die wohl am wenigsten überraschende wissenschaftliche Sensation der letzten Jahrzehnte).
Tatsächlich waren die Erwartungen der Physiker an den LHC ein ganzes Stück höher als (nur) das Standardmodell zu bestätigen. Man könnte gar sagen, dass die Entdeckung des Higgs-Teilchens nur eine erste Raststätte auf der Fahrt zu einer ganz neuen Grundtheorie der Physik sein sollte. Tatsächlich sind die Hoffnungen der Physiker an den LHC gewaltig: eine ganz neuen Symmetrie (deren Name uns viel über die Psychologie der Physiker sagt): die „Supersymmetrie“; die Erklärung der ominösen „dunklen Materie“ und der noch ominöseren „dunklen Energie“; die Aufklärung des Materie-Antimaterie Rätsels (warum gibt es im Universum augenscheinlich so viel von ersterem und so wenig von letzterem?); die Beschreibung solch komplexer Gebilde wie Quark-Gluonen-Plasmen, in denen für kurze Zeit Bedingungen wie beim Urknall herrschen sollen; oder gar der Nachweise solch exotischer Dinge wie mikroskopisch (eigentlich weit jenseits von „femto-skopisch“) aufgerollte zusätzliche Raumdimensionen. Die Liste der Versprechen war lang. Denn so einfach ist es wirklich nicht, Politiker dazu zu bringen, derartig viel Geld auszuspucken. Da muss schon so etwas Ähnliches herausspringen wie die Erklärung für den Ursprung des Universums.
Und genau hier liegt das momentane Problem der Teilchenphysiker: Bis auf das Higgs-Teilchen und damit die endgültige Bestätigung der Standardtheorie gab ihnen der LHC bisher… nichts, rein gar nichts. Nun ist die geradezu obsessive Sehnsucht der Teilchenphysiker nach Anzeichen eines Scheiterns ihrer besten Theorie für Nicht-Physiker nicht ganz so einfach zu verstehen. Sollten sich die Wissenschaftler nicht freuen, dass ihre mathematisch so hochgradig komplexen Modelle derartig genaue Abbildungen der Natur zu ergeben scheinen? Ihre Haltung ist ungefähr so, als ob Newton gehofft hätte, seine Theorie sei falsch. Um diese Einstellung genauer zu verstehen, muss man eine besondere Eigenschaft des Standardmodells kennen, die es von Newtons Theorie grundlegend unterscheidet. Denn neben ihrer eigenen Richtigkeit und enormen Vorhersagekraft für alle bisher durchgeführten Experimente sagt diese Theorie aus sich selbst heraus vorher, dass sie nur eine Approximation einer noch umfassendere Theorie sein muss. Mit anderen Worten, sie sagt uns, dass sie ab bestimmten Energiebereichen in sich zusammenfallen muss (wohingegen Newton glaubte, dass seine Theorie alle Strukturen im Universum ein und für alle Male erklären sollte). Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik enthält also intrinsisch die Begrenztheit seiner eignen Richtigkeit. (streng genommen beschreibt auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ihre eigenen Grenzen, indem sie die Möglichkeit Schwarzer Löcher zulässt). Ab einer gewissen Energie muss rein aus theorieimmanenten Gründen eine neue Physik ins Spiel kommen.
Bei diesen theoretischen Gründen handelt sich im weiteren Sinne um das, was die theoretischen Physiker das „Hierarchieproblem“ nennen: Die Masse des Higgs-Teilchens – und damit die aller Teilchen – sollte durch notwendige (quantenfeldtheoretische) Wechselwirkungen mit anderen Teilchen eigentlich ins Unermessliche wachsen. Nur eine supergenaue Feinabstimmung aller zur Higgs-Masse beitragenden Terme kann das verhindern. Dies erscheint den theoretischen Physikern jedoch als unnatürlich und geradezu hässlich. Es verletzt ihr ästhetisches Grundbedürfnis. Zudem hat das Standardmodell noch weitere schwerwiegende Defizite. So kann sie uns nicht sagen, woraus dunkle Materie und dunkle Energie bestehen, deren Existenz aus kosmologischen Messungen hervorgeht, die diesen beiden unbekannten Entitäten bis zu 95 Prozent der Masse unseres Universums zuschreiben.
Nur leider wissen die Physiker nicht, bei welcher Energie genau das Standardmodell seine Gültigkeit verliert. Genau um dies herauszufinden wurde der LHC gebaut (und eben, nicht primär um das Higgs-Teilchen zu finden). Und nun könnte es so aussehen, als ob sich der Gültigkeitsbereich des Standardmodells sehr viel weiter erstreckt, als es sich die Physiker erhofft hatten.
An Spekulationen darüber, wie die neue Physik jenseits des Standardmodells aussehen könnte, mangelt es den Physikern nicht. Die wichtigste und mathematisch wohl „schönste“ und „eleganteste“ Variante schlägt vor, jedem bekannten Teilchen ein („supersymmetrisches“) Partnerteilchen zukommen zu lassen mit jeweils entgegengesetztem Spin. Sie sagt damit eine ganze Reihe von neuen, so genannten „SUSY-Teilchen“ voraus, deren Energieskalen bzw. Massen die Physiker noch nicht kennen. Diese Teilchen sorgen für eine elegante Lösung des Hierarchieproblems: Geht man davon aus, dass es zu jedem Teilchen des Standardmodells einen supersymmetrischen Partner gibt, so gleichen sich deren Beiträge zur Masse des Higgs-Teilchens gegenseitig genau aus, womit diese wird auf ganz natürliche Weise auf den gemessen Wert gebracht wird.
Daher war im letzten Jahr (Ende 2015) die Aufregung unter Teilchenphysikern erneut sehr gross, als sich in den LHC Daten Hinweise auf ein neues Teilchen mit einer Masse von 750 Gigaelektronenvolt (ungefähr dem Sechsfachen der Higgs-Teilchenmasse) verdichteten. Leider hat sich bis August 2016 herausgestellt, dass diese Signale statistische Fluktuationen darstellten. Nahezu zeitgleich (Mitte Juli 2016) gab eine andere Arbeitsgruppe bekannt, dass eine fast zweijährige Suche nach möglichen Bestandteilen der dunklen Materie nicht den erhofften Erfolg gebracht hatte. Ebenso ernüchternd waren die Meldungen vom Ice-Cube-Experiment am Südpol: Es scheint neben den drei bekannten Neutrino-Sorten doch keine vierte zu geben. 2016 ist bisher kein gutes Jahr für die Teilchenphysik (Stand September).
Die jüngsten Ergebnisse am CERN wecken Zweifel, ob die Supersymmetrie überhaupt noch den natürlichen Ausgleich der Massebeiträge zum Higgs-Teilchen leisten kann und damit das Hierarchieproblem zu lösen vermag. Denn die Massen der SUSY-Teilchen müssten unterdessen recht gross sein, dass sich ihre bisherige Nichtbeobachtung in Teilchenbeschleunigern erklären liesse. Doch mit einer zu grossen Masse können sich die Beiträge von normalen und supersymmetrischen Teilchen zur Higgs-Masse nicht mehr komplett egalisieren. Dazu kommt: Sollten die supersymmetrischen Teilchen deutlich schwerer sein als dass sie im LHC gemessen werden können, kommen sie auch als Kandidaten für die dunkle Materie nicht mehr infrage. Denn dafür würde die resultierende Dichte der dunklen Materie einfach zu gross. Falls sich also auch in den kommenden Jahren keine supersymmetrischen Teilchen am CERN messen lassen, haben die Teilchenphysiker ein echtes Problem. Und sie sollten wissen: Die Wahrscheinlichkeit für den Bau noch grösserer Teilchenbeschleuniger steht in umgekehrter Proportionalität zu einer neuen Masseinheit der Physik: dem US-Dollar.