Die Frau, die die Kernspaltung erklärte – Zu Lise Meitners 50. Todestag
Mit Donna Strickland wurde 2018 erst zum dritten Mal eine Frau mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet, nach Marie Curie 1903 und Maria Goeppert-Mayer 1963 (nur die Ökonomen haben mit einer einzigen noch weniger weibliche Nobelpreisträgerinnen, allerdings wird der Wirtschaftsnobelpreis erst seit 1969 vergeben). Die wohl bekannteste Physikerin, die ohne Nobelpreis blieb, und neben Marie Curie wohl die bekannteste Physikerin aller Zeiten, ist Lise Meitner, deren Todestag sich in diesen Tagen zum 50. und deren bedeutendste Entdeckung sich demnächst zum 80. Mal jährt.
Im Jahr 1938 führte Lise Meitner zusammen mit ihrem Forscherkollegen Otto Hahn und dessen Assistenten Fritz Straßmann Experimente mit Urankernen durch. Inmitten dieser Experimente musste die ursprünglich österreichische Staatsbürgerin (daher vor Verfolgung geschützt) als Jüdin Hals über Kopf aus Berlin fliehen, da sie mit der Annektierung Österreichs nun deutsch geworden durch die nationalsozialistischen Judenverfolgung mit einem Mal in Lebensgefahr geraten war. Mit Otto Hahns Hilfe floh sie über Holland und Dänemark nach Stockholm, um am dortigen Nobel-Institut weiterzuarbeiten. Die Kommunikation mit ihrem Forschungskollegen erhielt sich über Briefe aufrecht. Im Dezember 1938 erreichte sie ein Brief Hahns, in dem dieser ihr berichtete, dass beim Beschießen des Uranatoms (92 Protonen) mit verlangsamten Neutronen Bariumatome entstanden waren. Bariumatome besitzen eine Kernladungszahl von 56! Hahn bat Meitner, über dieses Ergebnis nachzudenken. Die Physiker in seinem Institut hatte Hahn nicht informiert; Lise Meitner war als einzige über alle Experimente und Ergebnisse aus Berlin unterrichtet (hier zeigte Otto Hahn einen erstaunlichen Mut: Menschen waren in Deutschland des Jahres 1938 für weit geringer Vergehen ins KZ gekommen als dass ein deutscher Institutsdirektor seine emigrierte jüdisch stämmige Kollegin zuerst über eine Jahrhundert-Entdeckung informiert).
Zusammen mit ihrem Neffen, dem Physiker Otto Frisch, brütete Lise Meitner während eines Spaziergangs im winterlichen Schnee in Kungälv in Schweden (wo beide die Weihnachtsferien verbrachten) über diesem Ergebnis. Konnte es wirklich sein, dass der Urankern gespalten worden war? Zurück im Haus (oder, wie es teils anekdotisch heisst, auf einem Baumstamm auf ihrem Weg) führte sie auf der Basis des „Wassertropfenmodells“ von Bethe und Weizsäcker eine Berechnung durch. Sie kam zu dem Ergebnis, dass der Urankern aufgrund der hohen Zahl sich abstoßender Protonen recht instabil sein muss, wie ein großer Wassertropfen, dessen Oberflächenspannung kaum mehr in der Lage ist, ihn zusammenzuhalten. Ihn mit einem Neutron zu bombardieren, könnte ihn zum Platzen bringen. Allerdings ergab sich ein Problem: Nach Aufspaltung des Atomkerns werden die Bruchstücke der Spaltung aufgrund der elektrischen Abstoßungskräfte stark beschleunigt. Dabei nehmen sie sehr viel Energie auf. Mit errechneten 200 Millionen Elektronenvolt ist diese wesentlich größer als jede Energie, die in bis dahin bekannten (chemischen) Atomprozessen entsteht. Woher stammte diese enorme Energiemenge? An dieser Stelle kam Einsteins berühmte Formel ins Spiel: Meitner berechnete, dass die beiden Kerne plus frei gewordene Neutronen, die aus der Spaltung hervorgehen, in ihrer Summe geringfügig leichter sind als der ursprüngliche Atomkern des Urans. Die Differenz der Masse entsprach mit der Formel E=mc2 genau der Energie von 200 Millionen Elektronenvolt! Die Energie der Kernbruchstücke musste direkt aus der Masse des Uranatomkerns entstammen. Zum ersten Mal war ein Prozess bekannt geworden, im welchem sich die von Einstein formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbarte. Damit war auch klar: Der Atomkern des Urans lässt sich spalten. Kurz darauf wurde etwas Weiteres klar (angeregt durch eine Diskussion zwischen Frisch und dem dänischen Physiker Christian Møller): Die frei gewordenen Neutronen können weitere Kerne spalten, was eine Kettenreaktion von Kernspaltungen auslösen kann.
Im Februar 1939 publizierte Lise Meitner ihr Ergebnis zusammen mit ihrem Neffen in dem Aufsatz Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction (Zerfall des Urans durch Neutronenbeschuss: eine neue Form der Kernreaktion). In diesem Artikel ist zum ersten Mal von „Kernspaltung“ die Rede. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht in der wissenschaftlichen Welt. Bereits bei ihrem Spaziergang im Schnee hatten Meitner und Frisch erkannt, dass die Entdeckung der Kernspaltung bedeutende soziale und militärische Konsequenzen haben könnte. Kurz darauf verfasste Otto Frisch zusammen mit seinem britischen Kollegen Rudolf Peierls ein Memorandum, das die technische Konstruktion einer auf Kernspaltung beruhenden Bombe beschrieb.
Dies ließ nun auch Nicht-Physiker aufhorchen. Denn Adolf Hitler hatte unterdessen Polen überfallen und den Zweiten Weltkrieg begonnen. Als führende Nation in Forschung und Technik war das nationalsozialistische Deutschland dazu prädestiniert, als Erster die Kernenergie militärisch zu nutzen und Atombomben herzustellen. Eine Bombe mit solch gewaltiger Sprengkraft in den Händen Hitlers hätte für die Welt katastrophale Auswirkungen, so dachten nicht nur die beiden Juden Meitner und Frisch. Dennoch weigerte sich die überzeugte Pazifistin (anders als ihr Neffe), Forschungsaufträge für den Bau einer alliierten Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA innerhalb ihres „Manhattan Projekts“ wiederholt dazu aufgefordert wurde. Dies konnte nicht verhindern, dass sie in der amerikanischen Presse ein Jahr nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zu ihrem eigenen Missfallen als „jüdische Mutter der Atombombe“ und „Frau des Jahres“ bezeichnet wurde.
Otto Hahn, nicht aber Lise Meitner, erhielt für die Entdeckung der Kernspaltung den Chemie-Nobelpreis 1944. Sie wurde während ihres Lebens insgesamt 48-mal für den Preis vorgeschlagen, 29-mal für Physik und 19-mal für Chemie. Lise Meitner selber konnte die fehlende Auszeichnung ohne weiteres verkraften, was man, wie Ernst Peter Fischer es einmal sagte, eine „Dummheit der Schwedischen Akademie“ nennen kann. Auch als ihre Antrittsvorlesung im Jahr 1922 mit dem Titel Die Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse von einem Journalisten mit „kosmetische Prozesse“ umbenannt wurde (was anderes könnte man von einer Frau erwarten, so wohl die Annahme), nahm sie es mit Humor. Sie kannte Schlimmeres, hatte sie doch als promovierte Frau im damaligen Preußen die Universität immer durch den Hintereingang betreten müssen, da Frauen vor 1909 noch nicht an Vorlesungen teilnehmen durften (sie war 1926 die erste Frau in Deutschland, die eine Professur für Physik erhielt).
„Bis heute ist sie ein leuchtendes Vorbild“, sagt Dieter Meschede, Präsident der DPG anlässlich ihres 50. Todestages. „Sie war eine der bedeutendsten Physikerinnen ihrer Zeit und ist durch ihr herausragendes wissenschaftliches und soziales Engagement im besten Sinne ein Vorbild.“ Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968 mit 89 Jahren, wenige Monate nach ihrem ihr in lebenslanger Freundschaft verbundenen Forschungspartner Otto Hahn.
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