Der Schlüssel aus der Corona-Krise – Der Impfstoff im Schnellverfahren
Investmentbanker und Venture-Capital Investoren sind es gewohnt, 80 bis 100 Stunden in der Woche zu arbeiten, um ihre Finanzdeals und hochprofitablen Firmenakquisitionen zu tätigen. Nicht umsonst werden sie „Kurtisanen des Kapitalismus“ genannt. Doch weggesperrt ins Home-Office, isoliert von ihren Peers, verbannt von den Flugplätzen, Luxushotels und Golfplätzen, an denen sie zu normalen Zeiten zu sehen sind, und im Vergleich zu Supermarktkassiererinnen und Müllmännern als komplett systemirrelevant eingestuft, fristen sie zurzeit ein eher tristes Dasein. Die Aufmerksamkeit der Welt richtet sich auf eine andere Gruppe, von der man sich erhofft, dass sie sie retten kann: die Wissenschaftler. Diese sind es – neben den Krankenpflegern und Ärzten- nun die 80- bis 100- Stundenwochen schieben, um in Rekordzeit einen Impfstoff zu entwickeln, der uns von dem Albtraum des Covid-19 zu befreien vermag. So ist die meistgestellte Frage dieser Tage auch die, wann ein Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung steht.
Normalerweise dauert es fünf bis 10 Jahre, bis ein solcher Impfstoff entwickelt wird. Doch dieses Mal soll es in zwölf Monaten geschehen. Zuvor eher wenig grosszügig mit finanziellen Mitteln ausgestattet, soll es den Forschern an Geld nun nicht mangeln. Bei all dem Druck werden zuweilen sogar elementare wissenschaftliche Grundregeln ausser Kraft gesetzt: das Abwägen zahlreicher verschiedener Möglichkeiten, das lange Ringen mit Problemen, das theorielastige Differenzieren, der Blick auf das Ganze, das Vermeiden von Abkürzungen und signifikanten Risiken. Die Wissenschaftler müssen sich auf einmal die Mentalität von Investmentbankern zulegen: schnelles und effizientes Arbeiten unter hohem Zeitdruck, geringer Achtsamkeit auf Kosten und Genauigkeit, Risiken als Teil des Spiels erachten, rücksichtslos in Konkurrenzdenken verfallen und dabei einen Hang zur intellektuellen Selbstaufgabe an den Tag legen: Hauptsache der Impfstoff kommt so schnell wie möglich.
Zurzeit forschen ca. 100 Gruppen an Universitäten und Biotech-Unternehmen an einem Impfstoff gegen Covid-19. Dem ersten in diesem Rennen winken viel Ruhm und noch mehr Geld. Dabei verfolgen die Forscher teils sehr verschiedene Ansätze, denen allesamt jedoch ein und dasselbe Grundprinzip unterliegt: Der Körper soll zu einer Abwehrreaktion gegen das Virus gebracht werden und dabei die notwendigen Antikörper (in der Fachsprache „Immunoglobuline“, das sind Proteine aus der Klasse der Globuline, kugelförmiger Eiweisse) entwickeln, allerdings ohne dabei selbst zu erkranken. Taucht dann das Virus im Körper auf, so greifen diese Antikörper den Eindringling sofort an und die Krankheit kann sich erst gar nicht ausbreiten.
Um zu ihrem Ziel eines Impfstoffes zu kommen, müssen die Forscher nomalerweise sechs Etappen durchlaufen:
- Den Virus im Detail analysieren und herausfinden, was an ihm genau die menschliche Immunreaktion hervorruft.
- Die für die Immunreaktion relevanten Teile des Virus isolieren und mit einer geeigneten Matrix (oft andere, harmlose Viren) in einem Impfstoff zusammenbringen. Alternativ die entsprechende mRNA oder DNA des Virus direkt verwenden.
- Den Impfstoff bei Tieren auf Verträglichkeit und Wirksamkeit testen.
- Den Impfstoff bei menschlichen Versuchspersonen auf Verträglichkeit und Wirksamkeit testen.
- Das Zulassungsverfahren bei den Gesundheitsbehörden durchlaufen.
- Die Massenproduktion ankurbeln.
Traditionellerweise spritzt man den zu impfenden Personen den Erreger in abgetöteter oder auf andere Weise harmlos gemachte Form ein. Das bekannteste Beispiel ist die Masernimpfung. Diese Methode ist Medizinern bereits in der Antike bekannt. So wählten schon vor über zweitausend Jahren Ärzte Personen mit leichtem Krankheitsverlauf aus und entfernten bei diesen Krustenstücke der Pocken zur Gewinnung eines Impfstoffs gegen diese Krankheit. Diese zermahlten sie zu Pulver und führten sie in die Nase der zu impfenden Person ein. Im späten 18. Jahrhundert merkten Ärzte, dass Melkerinnen gegen Menschenpocken immun waren, nachdem sie die vergleichsweisen harmlosen Kuhpocken überstanden hatten. Aus der Körperflüssigkeit von mit Kuhpocken infizierter Personen entstand so ein effektiverer Impfstoff gegen die Menschenpocken. Der Ursprung dieser Methode lässt sich noch heute im englischen Wort für Impfung erkennen: «Vaccine» stammt vom lateinischen Wort für Kuh – vacca. Der Nachteil dieser Methode: Man muss das Impfvirus oder den entsprechenden Teil davon erst züchten, um ihn dann in grösseren Mengen herzustellen. All das braucht viel Zeit, in Anbetracht der Corona-Krise zu viel Zeit.
Die naheliegendste Alternative ist, dass die Forscher vorhandene, harmlose Viren mit gentechnischen Mitteln als Covid-19-Viren „verkleiden“, d.h. sie tauschen ein oder mehrere Oberflächenproteine in so genannten Vektorviren durch Covid-19-Proteine aus. Dem Immunsystem wird so eine Covid-19-Infektion vorgetäuscht, gegen das es dann seine Antikörper bildet. Dabei hilft den Forschern, dass die Gensequenz des Virus seit Anfang Januar 2020 bekannt ist. Um einen Impfplan gegen Viren zu entwickeln, reicht im Prinzip ihr Erbplan. Denn in ihm liegt der Plan für die Proteine, auf die der Körper mit seiner Immunantwort reagieren soll. Der konkrete Ansatz ist, dem Körper statt eines (harmloseren) gesamten Erregers nur den genetischen Bauplan für die (ungefährliche) Hülle des Covid-19-Virus einzugeben. Das sollte genügen, um das Immunsystem die geeigneten Antikörper bilden zu lassen und so den Virus zu bekämpfen.
Zum Glück müssen die Forscher dafür nicht bei Adam und Eva anfangen. Nach den Ausbrüchen von SARS im Jahr 2003 und SERS 2012, die beide auch auf Corona-Viren zurückgingen, hatten sie bereits begonnen, an einem Impfstoff mit Hilfe von Vektorviren zu forschen. Doch als die Krankheiten verschwanden, hat man diese Bemühungen eingestellt (den Forschern wurde einfach die Finanzierung entzogen) – ein fataler Fehler, wie sich nun herausstellt. Dennoch wissen die Forscher bereits einiges über Corona-Viren, insbesondere, dass die auffälligen Zacken am Virus (die wie eine Krone aussehen und ihm seinen Namen geben) so etwas wie der Dietrich des Virus sind, mit dem er in das Zellinnere eindringt. Konkret geschieht dies an den so genannten ACE2-Rezeptoren von menschlichen Zellen. Wie dieses Andocken der Spike-Proteine des Virus biochemisch genau vonstattengeht, wissen die Forscher noch nicht. Sie wissen nur, dass das ihnen bekannte Genom des Virus ist so etwas wie der Konstruktionsplan dafür ist, den sie nur noch besser verstehen müssen. Tatsächlich können Sie mit den Geninformationen das gesamte Virus nachbauen oder auch nur die Spike-Proteine. Damit lässt sich feststellen, welche Aminosäuren des Spike-Proteins mit welchen des ACE2-Rezeptors in Verbindung treten. Weiss man das, so kann man diese Sequenzen nachbauen und so dem Körper vorgaukeln, es handele sich um einen kompletten Virus-Angriff, wo es doch tatsächlich nur der kleine Teil des Virus ist, der mit dem menschlichen Rezeptor wechselwirkt. Verbindet man diesen Teil nun mit einem anderen geeigneten Virus, das für den Menschen harmlos ist (das Vektorvirus), so ist die der Impfstoff mehr oder weniger fertig.
Eine andere Methode, die aber ebenfalls auf der Immunreaktion des menschlichen Körpers beruht, ist, direkt genbasierte Impfstoffe zu entwickeln. Anstatt kompletter Viren enthalten diese nur ausgewählte Gene des Virus in Form seiner mRNA («messenger»-RNA: eine RNA-Version des Gens, das den Zellkern verlässt und ins Zytoplasma wandert, um dort Proteine herstellen zu lassen) oder DNA. Nach der Injektion in den Körper sollen diese die Bildung von ungefährlichen Virusproteinen hervorrufen, die dann wiederum wie bei einem konventionellen Impfstoff den Aufbau des Immunschutzes bewirken sollen. Unser Körper stellt also nach der Impfung selbst die Oberflächenproteine des Virus her, die sein Immunsystem dann erkennt und bekämpft. Der Vorteil dieser Methode: mRNA-basierten Impfstoffe sollten sich schnell und massenweise herstellen lassen. Anders als bei den anderen Methoden, bei denen man erst das Virus vermehren muss, um es in abgeschwächter Form oder als Vektor zu injizieren (was Monate dauern kann), muss man hier nur die entsprechende RNA oder DNA verabreichen. Der Nachteil dieser Methode: Sie ist ein sehr neues Verfahren. Bisher gibt es noch keinen einzigen Impfstoff dieser Art gegen irgendeine Krankheit. Die Forscher betreten hier also anders als bei Totviren oder Vektorviren Neuland. Doch für die Zukunft besitzt diese Methode ein immenses Potential, denn sie lässt sich schnell und einfach auf neuartige Erreger anpassen, ähnlich wie jedes Jahr eine neue Grippe-Impfung verfügbar ist. Mit dem (wahrscheinlichen) Auftauchen neuer Coronavirus-Typen könnte in den kommenden Jahren umso schneller ein Impfstoff zur Verfügung stehen und eine erneute weltweite Ausbreitung von Corona-Viren eingedämmt werden.
Ist der potenzielle Impfstoff einmal erforscht, so muss der er nur noch in seiner Ungefährlichkeit und Wirksamkeit getestet werden. Normalerweise dauert das eine geraume Zeit. Denn der Gesetzgeber schreibt umfangreiche Testreihen vor, bevor Impfstoffe zugelassen werden. Doch in der Corona- Zeit ist Zeit nun einmal genau das, was wir nicht haben, so dass kürzere Testreihen erlaubt sind, teils sogar ganze Phasen, wie z.B. die Tierversuche, ausgelassen werden dürfen. Doch auch unter Wissenschaftlern sind Tests an Menschen ohne vorhergehende Tierversuche umstritten. Die Risiken seien unkalkulierbaren, sagen sie. Doch noch nie war Zeit so viel Geld wie heute. So hört man auch alle paar Tage von Forschern, die behaupten, dass sie schon in einigen Monaten einen Impfstoff haben werden. Der Schweizer Immunologe Martin Bachmann, ein weltweit anerkannter Experte in der Immunforschung für Corona-Viren, behauptete in einer aufsehenerregenden und stark selbstvermarktenden Presseerklärung vor einigen Tagen, dass er bereits im Oktober einen Impfstoff zu Verfügung stellen könnte. Er habe schon erfolgreiche Tests an Tieren abgeschlossen. Der Milliardär Dietmar Hopp, Miteigentümer des Tübinger Pharmaunternehmens CureVac, spricht davon, dass seine Forscher «möglicherweise bereits im Herbst einen Impfstoff liefern könnten». Doch wir sollten gewarnt sein: Immer wieder sind Impfstoffe, die «kurz vor dem Durchbruch» standen, sang- und klanglos in der Schublade verschwunden. Die Entwicklung von Impfungen ist sehr komplex und anfällig für Rückschläge. Und man muss wissen: Bisher ist noch kein einziger Impfstoff gegen irgendein Coronavirus gefunden worden. Niemand weiss, wann die Investmentbanker wieder auf ihre 100 Stundenwoche kommen werden. Die Börse tut auf jeden Fall schon so, als ob wir längst einen Impfstoff gefunden haben. Ob die Investoren da nicht vielleicht ein wenig zu optimistisch sind? Es ist nun einmal die Zeit der grossen Versprechungen. So ruhen die Hoffnungen unter anderem auf einer weniger als 10 Jahre alte Pharmafirma, Moderna Therapeutics, die bisher noch keinen einzigen Impfstoff für irgendeine Krankheit auf dem Markt gebracht hat, die es allerdings versteht, besonders viel zu versprechen und nicht zuletzt deshalb kürzlich fast eine halbe Milliarde Dollar an öffentlichen Geldern eingefahren hat.