Der libertäre Reflex – Der gefährliche Post-Corona-Cocktail von der anderen Sorte
«Der Bundesrat hat von Anfang an strategielos agiert. Es ist höchste Zeit, dass die Bürger und Unternehmer das Heft wieder in die Hand nehmen.» So beginnt ein Aufruf des emeritierten Wirtschaftsprofessors Martin Janssen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. Mai 2020 (https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-eine-liberale-besinnung-tut-dringend-not-ld.1556237). Wer sich hier gleich an das Gegröle der Wutbürger und Verschwörungstheoretiker erinnert fühlt, dem sei dies nachgesehen. Denn tatsächlich scheint der Autor in die gleiche Kerbe zu schlagen. Doch beim Weiterlesen wird klar: Nein, dieser Schlag in die Kerbe des Populismus kommt von einer anderen Seite, von einem selbsterklärten Liberalen. Und mit dem Aufsatz ist auch kein irrationaler Angriff gegen die Wissenschaften verbunden, vielmehr versteht er sich als ein expliziter Beitrag von seiten der hehren Tradition der Wirtschaftswissenschaften. Doch auch hier lohnt der genauere Blick: So wird denn auch schnell klar, dass erneut die Corona-Krise herbeigezogen wird, um die Fahne zu heben für eine längst in Trümmern liegende Ideologie, in diesem Fall die alte, spätestens bereits 2008 gescheiterte Weltanschauung des Neoliberalismus.
Es erscheint daher, als müsse man der vielbeschriebenen Liste aus Rechtextremisten, anti-kapitalistische Linken, Verschwörungstheoretikern, Esoterikern, Impfskeptikern, Antisemiten, C-Promis, reaktionären Kirchenvertreter und allgemeinen Wissenschaftsskeptikern, die sich im Protest gegen die Corona-Politik vereinen, eine weitere Gruppe hinzufügen: die ultraliberalen Staatsverächter, die Bund und Kantone (in Deutschland: Bundesländer) gestutzt sehen wollen. Die Unternehmer werden es von hier aus wieder richten, liebe Politiker. Gebt Ihnen nur mehr Macht, oder noch besser: Besetzt doch gleich die ganze Regierung mit ihnen. Dann wird all das Übel des Sozialstaates, «eine aus dem Ruder gelaufene Altersvorsorge», «eine fehlgeleitete Gesundheitspolitik» wieder ausgemerzt. In Anbetracht des Schadens, den diese Ideologie in den letzten Jahren angerichtet hat, wie in der Corona-Krise zuletzt gerade besonders gut sichtbar in den USA und England, muss man leider konstatieren, dass auch dieser intellektuelle Bruder des Wutbürger-Ausbruchs höchst gefährlich ist und es daher ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit ist, dagegen das Wort zu erheben.
Vorab: Es ist genau dieser Sozialstaat mit breiter Gesundheitsversorgung in der Schweiz und Deutschland, der dafür gesorgt hat, dass es dieser Tage keine Massenarbeitslosigkeit und kein Massensterben gibt wie in den USA oder England. Und wer nur 12 Jahre zurückgeht, erkennt, dass es schon 2008/2009 der Sozialstaat war, der uns hat eine Krise hat meistern lassen, die uns die «Unternehmer» in den Banken eingebrockt hatten. Welch ein Ärgernis für die Apologeten des ungehinderten freien Marktes, dass die Rettung desselbigen durch den Staat nun schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit vonnöten ist. Und was es bedeutet, eine «fehlgeleitete Gesundheitspolitik» auf den rechten Kurs, nämlich den Sparkurs zu bringen, sieht man in bester Illustration in Italien und erneut in den USA und England. Zusammen mit dem Vorwurf an die Regierungen, keine Antwort auf die Frage zu haben, «wie viele soziale und wirtschaftliche Schäden man in Kauf nehmen will, um Leben zu retten», offenbart sich in dem Artikel ein kaum fassbarer Zynismus, der nicht nur der intellektuellen sondern auch der ethischen Redlichkeit entbehrt.
Der Artikel kommt zunächst ganz harmlos daher. Die artikulierte Kritik an den Massnahmen der Schweizerischen Regierung besitzen ja teils durchaus ihre Berechtigung – von der heutigen Perspektive aus betrachtet! Da die Wissenschaftler noch bei weitem nicht alles über das Covid-19 Virus wissen, basiert jede politische Entscheidung auf einer Risikoabwägung. Dass sich dabei im Nachhinein (mit besserem Wissen) zeigt, dass sich die eine oder andere Entscheidung als nicht ganz optimal erweist, liegt in der Natur von solchen Abwägungen. Im Nachhinein weiss man eben vieles besser. Und vieles besser weiss dann auch Herr Janssen, wenn er zwei Monate später (!) meint, dass man doch bitte die Flugverbindungen nach China hätte einstellen oder die Grenzen nach Italien ein paar Tage früher schliessen sollen. Geschenkt, Herr Janssen, oder wie wir in der Schweiz sagen: «Da kommen Sie nun daher wie die alte Fasnacht.»
Dabei wird immer klarer: Während in den so schön ultraliberalen USA und dem Geburtsland des Liberalismus, England, die neuen Fall- und Todeszahlen seit mehr als sechs Wochen auf erschreckend hohem Niveau stagnieren, scheint das sozialstaatlich geprägte Europa, und hier insbesondere die Schweiz und Deutschland, vergleichsweise glimpflich über den Berg gekommen zu sein. Wer hier den politischen Entscheidungsträgern starke Vorwürfe macht, übersieht, dass es gerade die von der vielgescholtenen schweizerischen und deutschen Regierung erhobenen Massnahmen waren, die sich im internationalen Vergleich als besonders erfolgreich erwiesen.
Aber Herr Janssen belässt es nicht bei dieser billigen Kritik an der Schweizerischen Regierung, sondern kommt nun zu seinem eigentlichen Anliegen, wofür er erst recht die ideologische Keule auspackt: Nicht «Marx und Lenin, deren Staatsverständnis auf Raub, Unterdrückung und Mord basiert» sollen uns den «langen Weges zurück in eine marktwirtschaftliche, freiheitliche Zukunft» weisen, sondern «Hayek, Mises, Popper, Rand und Röpke». Abgesehen, dass das Marxsche Staatsverständnis sicher nicht auf Raub und Mord ausgerichtet war – Herr Janssen, eine solche plumpe Polemik ist Ihrer nicht würdig, sollten man die «Philosophen und Ökonomen, welche die erfolgreiche Organisation einer Gesellschaft vorgezeichnet haben», wie es in dem Text heisst, einmal etwas genauer betrachten. Auch hier erweisen sich die gemachten Aussagen als unpräzise, inkonsistent, und teils als schlicht falsch.
Karl Popper war zwar Anti-Marxist (wie auch Anti-Platonist und Anti-Konventionalist), aber eben auch mehr Philosoph als Ökonom (obwohl Freund und ein paar Jahre auch Kollege Friedrich Hayes an der London School of Economics). Ihn als Advokaten des Ideals von «Menschen, die sich auf möglichst freien Märkten bewegen», zu bezeichnen, ist anmassend, um es gelinde zu sagen. In seinem polit-philosophischen Hauptwerk «Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde» nennt Popper den freien Markt explizit ein «Paradoxon» und mahnt in einer offenen Gesellschaft geeignete soziale Strukturen an (so dass sich heute viele Sozialdemokraten gerne auf ihn berufen). Ludwig von Mises wiederum wollte wirtschaftliche Gesetze a priori durch rein deduktive Schlüsse und ohne empirische Beobachtung finden, worin er der philosophischen Tradition Immanuel Kants folgte. Sich auf diese Methode berufend hielt er den Kapitalismus für einen Garanten menschlicher Freiheit und das einzig funktionsfähige Wirtschaftssystem überhaupt. Nun war Kant Philosoph und kein Ökonom. Und was in der Philosophie klappt, funktioniert nicht automatisch auch in der Ökonomie. Fast alle zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaftler, inklusive Mises Schüler Friedrich Hayek, lehnten daher die Orthodoxie eines solchen Apriorismus ab (welche übrigens auch im Gegensatz zum Verständnis Karl Poppers kritischem Rationalismus steht). Und es kommt noch schlimmer, denn über den Faschismus schrieb von Mises: „Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.» Aus welcher Mottenkiste Herr Janssen Ludwig von Mises hervorgeholt hat, bleibt sein Geheimnis.
Desweiteren schwer zu tadeln ist der Versuch, die Schauspielerin, Autorin und selbsternannte Philosophin Ayn Rand als Referenz in den Zeugenstand der Ökonomie herbeizurufen. Ihre Philosophie des «Objektivismus» – verpackt weitestgehnd in Form eines Romans – wurde im akademischen Mainstream weitestgehend ignoriert und dort, wo sie wahrgenommen wurde, generell abgelehnt: Zu naiv, ideologisch unreflektiert und ein Rückschritt in die vor-Kantische Philosophie war sowohl ihre epistomologisch-ontologische Auffassung einer von der Wahrnehmung komplett unabhängigen Realität als auch ihre Ethik, nach der das eigentliche moralische Ziel des Lebens das Streben nach dem eigenen Glück ist. Entsprechend wenig Widerhall fanden ihre Thesen in der akademischen Ökonomie. Dennoch wurde sie mit ihrer Auffassung, dass das einzige Gesellschaftssystem, das mit der Moral vereinbar ist, der Laissez-faire-Kapitalismus ist, eine Heldin der amerikanischen neokonservativen Rechten. So ist sie heute mehr als ideologische Vorreiterin des Libertarismus als ernstzunehmende Ökonomin bekannt. Es ist mehr bezeichnend als ein Ausdruck argumentativer Stärke, dass Janssen sie hier derart prominent auszeichnet.
Wilhelm Röpke wiederum war ein intellektueller Vater der sozialen Marktwirtschaft, der es als Aufgabe des Staates ansah, «jenseits des Marktes“ Schwache zu schützen, Interessen auszugleichen, Spielregeln zu setzen und ökonomische und politische Macht zu begrenzen. Für ihn gab es einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, eine Wirtschaftsordnung, die Röpke auch als „ökonomischen Humanismus“ ansah. Dies steht in einem starken Gegensatz zum neodarwinistischen Denken einer Ayn Rand, womit es Janssen in seiner Aufzählung derart an Konsistenz vermissen lässt, dass man vermuten muss, dass es ihm hier mehr um «name dropping» als um argumentative Schlagkraft geht.
Doch betrachten wir einmal den Stand der Wirtschaftswissenschaften, dessen Vertreter Herr Janssen nun einmal ist. Dass das neoliberale Idealbild kaum den realen marktwirtschaftlichen Bedingungen entspricht, ist hier unterdessen längst bekannt. Fünf Kräfte verhindern im Wesentlichen, dass das von libertären Ökonomen propagierte „marktwirtschaftliche Gleichgewicht“ ein gesellschaftlich akzeptabler Zustand ist.
- Externalisierte Kosten: Die wirtschaftlichen Aktivitäten einer Person oder einer Personengruppe kann sich auf andere (unter Umständen sogar auf alle anderen) Menschen auswirken, ohne dass die handelnde Person die vollen Kosten dafür trägt. Umwelt zu verpesten kostet auch heute noch wenig bis nichts. Der klimaschädliche Ausstoss von CO2 ist nach wie vor nicht mit grösseren Kosten für die Produzenten verbunden; auch das Sicherheitsrisiko von Kernkraft oder Erdgas-Fracking trägt weitestgehend die Allgemeinheit. Ein weiteres Bespiel sind die Aktivitäten der Banken vor 2008, die massive Risiken eingingen (und lange auch entsprechende Erträge erzielten), doch die die Risiken schliesslich sozialisieren liessen.
- Rent Seeking: Oft gelingt es mächtigen Gruppierungen, politische und ökonomische Regeln allein zu ihrem eignen Vorteil zu gestalten, ohne dass der gesamte gesellschaftliche Wohlstand vermehrt wird. Ein Beispiel sind Unternehmen, die sich Subventionen, Zuschüsse oder Zollschutz verschaffen, was in vielen Ländern auch mit politischer Korruption verbunden ist. Lobbying ist aber auch in Berlin, Brüssel oder Washington ein eigener Wirtschaftszweig, der Zehntausende beschäftigt.
- Ungleiche Allokation von Produktionsgütern: Produktionsgüter können in den Händen Weniger angehäuft werden – diese Einsicht ist ein Kernelement der Marxistischen Wirtschaftstheorie. Die Folge sind extreme Einkommens- und Vermögensunterschiede innerhalb einer Gesellschaft, sowie zuletzt auch weniger ökonomischer Wettbewerb.
- Informationsasymmetrien: Bereits 1970 hat der spätere Nobelpreisträger (2001) Georg Akerlof in seinem Aufsatz „The Market for Lemons“ („Der Markt für Zitronen“) gezeigt, dass freie Märkte nicht optimal funktionieren können, wenn Käufer und Verkäufer nicht den gleichen Zugang zu Informationen haben. In vielen Märkten unseres alltäglichen Lebens besteht aber eine Informationsasymmetrie.
- Kognitive Verzerrungen: Die klassische ökonomische Theorie geht davon aus, dass wir wissen, was gut für uns ist und immer entsprechend rational handeln. Doch die Verhaltensökonomie hat aufgezeigt, dass wir weit unüberlegter und weniger rational handeln, als es die Verfechter des freien Marktes annehmen. Wir lassen uns oft von kurzfristigen Trieben leiten, anstatt von langfristigen, wohlüberlegten Erwägungen. Apple verdient Milliarden, indem es alle sechs Monate ein neues iPhone herausbringt und davon profitiert, dass wir uns gerne von den neusten Technologie-Gadgets verführen lassen und dabei ihren Nutzen im Vergleich zum Preis stark überschätzen.
Mit diesen fünf Wirkungskräften verhält sich der freie Markt alles andere als optimal und gesamthaft wohlfahrtsoptimierend. Es wird Zeit, dass wir diese neoklassische Orthodoxie endlich mal einmotten. Die Corona-Krise gibt uns dazu eine weitere Gelegenheit. Und wenn wir schon einen Ökonomen herbeiziehen wollen, dessen Lehren in diesen Wochen eine besondere Bedeutung zukommt, so wäre dies sicher John Maynard Keynes.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Danke – die Klarheit sei wiederhergestellt. NZZ wohin? LG Räto