Der Kapitalismus im Angesicht der Klimapolitik – Der Zerfall des alten Dogmas, dass der freie Markt alles optimal zu gestalten vermag
Der technologische Fortschritt prägt unser Leben, weit mehr als dies vielen bewusst ist. Abhängig ist diese Prägung wesentlich von den mit ihm verbundenen Profitmöglichkeiten, und diese wiederum von den marktwirtschaftlichen Strukturen und der Wettbewerbsdynamik in unserer Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass der Einfluss der Wissenschaften für das menschliche Alltagsleben genau dann einsetze, als im frühen 19. Jahrhundert ein neues Wirtschaftssystem die Vermählung von wissenschaftlicher und technologischer Dynamik mit innovativem Unternehmertum und professionellem Produktionsmanagement ermöglichte. Von England ausgehend entwickelte sich dieses System zu seinem ersten Höhepunkt und ließ dabei eine bisher ungeahnte ökonomische Produktivität und wirtschaftliche Schaffenskraft zur Entfaltung kommen. Die Rede ist vom Kapitalismus. Erst mit ihm erhielt der technologische Fortschritt seine bis heute anhaltende unvergleichlich starke gesellschaftliche Dynamik.
Wir müssen uns in der Diskussion um politische und gesellschaftliche (und nicht zuletzt auch ethische) Fragen des technischen Fortschrittes also auch unausweichlich mit unserem Wirtschaftssystem beschäftigen. Die heftige Diskussion um den Nutzen und Schaden des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist heute von derselben Widersprüchlichkeit geprägt wie die Ambivalenz des technischen Fortschrittes selbst: Auf der einen Seite ein massiver Produktivitätsgewinn aufgrund der Schaffung immer neuerer technologischer Ressourcen und darauf aufbauend ein unvergleichbares Wachstum des – durchschnittlichen – gesellschaftlichem Wohlstandes (vor allem in Industrieländern), auf der anderen Seite wieder stark wachsende gesellschaftliche Ungleichheit, menschliche – und ökologische – Ausbeutung, ethische Indifferenz («Profit vor Moral»), und ganz allgemein Maßlosigkeit in der Gier nach Wachstum. Gerade in den letzten Jahren zeigen die negativen Seiten des Kapitalismus wieder verstärkt ihr hässliches Gesicht, gerade und insbesondere im Angesicht der ökologischen Indifferenz so vieler mächtiger Wirtschaftsführer. So ist es kein Wunder, dass es auch jenseits alter linker revolutionärer Romantiken wieder eine stärkere Skepsis gegenüber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem gibt und – damit oft einhergehend – auch gegenüber neuen Technologien. Tatsächlich gibt es einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen der polit-ökonomischen Ablehnung unseres westlichen Wirtschaftsmodells und einer ausgeprägten Wissenschafts- und Technologie-Skepsis. Sogar im Kernland des Kapitalismus, in den USA, erkennt man diese Skepsis in der neuen Biden-Regierung, die gerade die Planung einer gewaltigen öffentlichen Geldausgabe für eine aktive Klimapolitik vorantreibt.
Auf der anderen Seite, auf Seiten der politische Rechten, erkennt man dagegen oft einen unfassbar naiven Glauben, dass uns allein die Kombination wissenschaftlicher und ökonomischer Rationalität, d.h. die Kombination aus wissenschaftlich-technologischer Innovationskraft und monetärem Kapitalismus, wie von alleine in neue Paradiese führen wird. Doch bei aller Stärke wettbewerblicher Kreativität und der damit verbundenen Vielfalt neuer Ideen in einer freien Marktwirtschaft, die wir in den letzte 150 Jahren so eindrucksvoll erlebt haben, gibt es in der realen Welt nun einmal keine „unsichtbare Hand“, die schon alles gut werden lässt und uns zu optimalen Lösungen führt, die aus dem Blickwinkel der gesamten Menschheit wünschenswert sind. Eher sind die damit erlangten Lösungen zumeist nur optimal für eine gewisse (oft lokale) Gruppe von Menschen und lässt dabei bedeutende höhere Werte und wichtige gesellschaftliche Gegebenheiten komplett ausser Acht.
Die wichtigste davon ist die Frage nach der ökologischen Balance. Und hier hat der Kapitalismus leider das Klima viel zu lange nahezu komplett ausser Acht gelassen. Tatsächlich sind in unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem fast 150 Jahre lang jegliche Umweltfragen weitestgehend aussen vor gelassen worden. So waren gerade die Firmen, die für die grössten Umweltbelastungen verantwortlich gewesen sind, oft die wertvollsten der Welt. Ökologisch gewissenhaftere Unternehmen hatten dagegen Schwierigkeiten. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass der Zeithorizont des Kapitalismus – basierend auf dem von Kapitalanlegern – maximal drei bis fünf Jahre beträgt (die Höchstwerte gelten heute meist für Private Equity Investoren), während der notwendige Zeithorizont für die Definition geeigneter Massnahmen gegen Klimaveränderungen 30-50 Jahre umfasst, also die zehnfache Zeit.
Doch genau diese Kurzfristigkeit im Denken und Handeln ändert sich gerade – und dies, ohne dass dies bisher eine allzu grosse öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Der Grund dafür liegt nicht in irgendeinem neuen Marktverhalten, sondern in einer neuen politischen Rahmengestaltung der Märkte. So lohnen sich unterdessen tatsächlich auch Investitionen in alternative Energien: Eine im Juni 2020 veröffentlichte Studie des Imperial College London und der Internationalen Energieagentur analysierte Börsendaten der letzten fünf und zehn Jahre in Deutschland, Frankreich, England und in den USA. Das Ergebnis: Die Renditen der Investitionen in erneuerbare Energien waren in den letzten fünf Jahren beträchtlich. In Deutschland und Frankreich ließ diese Geldanlage mit 178,2 Prozent Rendite die Investitionen in fossile Brennstoffe weit hinter sich. Letztere haben mit -20,7 Prozent sogar Geld verloren. Im Vereinigten Königreich lag das Verhältnis bei 75,4 Prozent zu 8,8 Prozent, in den USA bei 200,3 Prozent zu 97,2 Prozent.
Diese Dynamik bildet sich auch im Börsenwert der Energieunternehmen selbst ab. Der von NextEra Energy, dem größten US-Unternehmen für erneuerbare Energien (Wind und Solar), überholte letztes Jahr den des Ölriesen Exxon und wurde zum wertvollsten Energie-Unternehmen an der US-Börse. Noch 2013 war Exxon das wertvollste börsennotierte Unternehmen weltweit gewesen, doch in weniger als sieben Jahren hatte die Firma etwa zwei Drittel ihres Marktwertes verloren (währenddessen NextEra um fast 300% zugelegt hat). Noch dramatischer ist die Situation für die Kohleindustrie. Die sich im Dow Jones U.S. Coal Index widerspiegelnde Marktkapitalisierung von Kohlefirmen in den Vereinigten Staaten ist in 10 Jahren von einem Höchststand von 500 im Jahr 2011 um mehr als 99% (!) eingebrochen, auf weniger als 5 im Jahr 2020. Zu diesem Zeitpunkt (September 2020) wurde der Index still und leise vom Datenanbieter S&P Global eingestampft.
Eine weitere Entwicklung in die gleiche Richtung – und dies kaum mehr beachtet – ist die Preisentwicklung der Erlaubnisse für Unternehmen in Europa, CO2 in die Atmosphäre abzugeben. Nachdem die entsprechenden Zertifikate jahrelang geradezu umsonst verschenkt worden waren, begann man 2013 dafür reelle Preise zu verlangen. Es dauerte aber fünf Jahre, bis die überschüssigen, zuvor umsonst vergebenen Zertifikate von den Unternehmen abgeschöpft waren und ihre Preise wie gewünscht anstiegen. Von 2018 bis 2020 verfünffachte sich dann aber der an der Börse in Leipzig gehandelte Preis für das Recht, eine Tonne CO2 in die Atmosphäre zu emittieren. 2019 und 2020 pendelte er zwischen 25 und 30 Euro, um dann Ende 2020 auf über 32 Euro, im Februar 2021 auf fast 40 Euro und im Mai 2021 auf fast 50 Euro zu steigen.
Man sieht also: Kapitalismus und energetische Nachhaltigkeit lassen sich durchaus miteinander verbinden. Nur braucht es dafür eben eine funktionierende politische Rahmengestaltung. Dies widerspricht der von so manchem Kapitalismus-gläubigen Ökonomen lange gehegten Vermutung, dass es eine generische Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Nachhaltigkeit geben könnte. Analog zur (längst widerlegten) Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstum und dem Verschwinden von Einkommensungleichheiten, der sogenannten «Kuzner-Kurve», würden demnach nach Überschreiten einer maximalen Klimabelastung umso weniger klimaschädliche Stoffe in die Atmosphäre geblasen werden, je weiter das Wirtschaftswachstum fortschreitet. Und tatsächlich hat das ökonomische Wachstum einiger Industrienationen begonnen, sich vom Wachstum in der Freisetzung klimaschädlicher Gase abzukoppeln. In Deutschland, Frankreich, England und den meisten anderen europäischen Industrieländern sinkt der Ausstoß von Treibhausgasen sogar, obwohl die Wirtschaft weiter wächst. Auch in den USA ist das so, wenn auch in geringerem Ausmass. Aber mehr als ein sehr schwaches Plateau haben wir global noch nicht geschafft. Und hier wird in Anbetracht der sich bereits abzeichnenden ökologischen Schäden die Zeit dann doch etwas knapp.
Die Erfahrung zeigt, dass es für all dies viel politische Gestaltung von aussen braucht, und genau das hat nun eingesetzt. Im Dezember 2019 beschloss die Europäischen Kommission den «European Green Deal»: Bis 2050 sollen die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null reduziert sein. Damit wäre Europa der erste klimaneutrale Kontinent. Bis 2030 wiederum sollen die CO2-Emissionen im Vergleich zum Basisjahr 1990 um 55 Prozent sinken. Nur wenige Monate nach der ersten Bekanntgabe der Ziele der EU-Kommission folgte China und gab seine eigenen Ziele bekannt. Und der im Januar 2021 ins Amt gekommen US-Präsident Joe Biden will sein Land nun ebenfalls schnell auf diesen Kurs bringen. Aus der europäischen Initiative ist also unlängst eine globale Dynamik geworden. Und das ist nun wirklich sehr ermutigend. Mit Kapitalismus hat dies aber nicht viel zu tun. Es ist eher umgekehrt: Der Kapitalismus wird politisch gesteuert, damit sich die Gesellschaft in die gewünschte Richtung bewegt, in diesem Fall hin zu einer klimafreundlicheren Wirtschaft. Und gerade dann lässt sich umgekehrt auch von der immer noch sehr umfassenden und nicht selten vielversprechenden Dynamik des Kapitalismus stark profitieren.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Lieber Lars, danke für deinen interessanten und klugen Blogbeitrag
Danke, lieber Urban