Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Solidarität in der Corona-Krise – Von der Struktur bestmöglicher politischer Entscheidungsfindung in der offenen Gesellschaft

Lange haben es die Menschen in der Welt im Corona-Lockdown ausgehalten, sind den sich bzgl. Härte und Striktheit immer wieder verändernden Anweisungen ihrer Regierungen einigermassen gehorsam gefolgt, haben sich schweigend dem von der Regierung proklamierten „Gebot der Vernunft“ gefügt. Doch nun erleben wir zunehmende Proteste und Demonstrationen, explizit vorgetragene Verletzungen der gesetzlichen Gebote und seit neustem auch scharfe Äusserungen gegen die von den Regierungen verlangten Einschränkungen unseres öffentlichen Verhalten von Seiten der Intellektuellen. So schreibt der Bonner Philosoph Markus Gabriel am 20. März in der Neuen Zürcher Zeitung sich auf die Gedanken Sir Karl Poppers zur offenen Gesellschaft beziehend, dass in Demokratien der Staat zu schwach ist, um der Komplexität dieser globalen Pandemie gerecht zu werden. Der Staat ist überfordert, wenn er dieser Komplexität durch von oben oktroyierte Massnahmen gerecht werden zu können. Vielmehr müsse ihr durch eine vielschichtige und von der Freiheit der einzelnen Bürger getriebenen und lokal organisierte Kooperation begegnet werden. Insbesondere geht es darum, die unvorhergesehenen und oft prinzipiell unvorhersagbaren Folgen zentralstaatlicher Entscheidungen zu erkennen. Dazu müsse, so Gabriel, den verschiedensten, komplex ineinandergreifenden Kräften der bürgerlichen Gesellschaft die Macht zurückgegeben werden soll, die dann dieser Krise aus eigener Kraft und Entscheidungsfähigkeit gerecht zu werden versprechen.

Anders als die „Verschwörungstheorie“ brüllenden Dumpfbacken der Querdenker muss man diese Gedanken sehr ernst nehmen, denn sie sprechen tatsächliche Schwächen unserer liberalen und offenen Gesellschaft in Anbetracht dieser Krise an. Doch liegt der Konflikt noch tiefer: Die Corona-Pandemie reflektiert im Grunde nichts anderes als einen langen Konflikt der Moderne, nämlich den Kampf zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität. Die Notwendigkeit des Schutzes unserer vom COVID-19-Virus besonders bedrohten Mitbürger steht ausser Frage, aber wie stark darf ein jeder einzelner Bürger von den Massnahmen für diesen Schutz betroffen sein? Hier spiegelt sich nichts anderes als die in einer offenen Gesellschaft zentrale Frage wider: Die unterprivilegierten Menschen in unserer Gesellschaft, die Armen, Kranken und Bedürftigen, brauchen unseren gesamtgesellschaftlichen Schutz, doch wie stark darf dieser Schutz die individuelle Freiheit eines jeden Bürger beeinträchtigen?

Der bedeutendste Ideengeber der liberalen und offenen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der totalitäre Faschismus und ideologisch bornierte Sowjetkommunismus die offenen Gesellschaften in Europa existentiell bedrohten, war Karl Popper. Dieser formulierte den für eine offene Gesellschaft bis heute zentralen Gedanken, dass eine jede politische Entscheidung in der potentiellen Falschheit der ihr zugrunde liegenden Annahmen, der Möglichkeit unbeabsichtigter und aufgrund der Komplexität unserer modernen Gesellschaft notwendigerweise unabsehbarer Konsequenzen und zuletzt der möglichen Fatalität der Negativität ihrer Auswirkungen korrigierbar sein muss, spätestens durch die Abwahl der verantwortlichen politischen Entscheidungsträger. Ideologische Theorien und totalitäre Dogmen scheitern notwendigerweise an der Komplexität der sozialen Wirklichkeit unserer Gesellschaften, so Poppers zentrales Argument. Dies gibt Markus Gabriel korrekt wieder und beschreibt daraus folgend die Unmöglichkeit von erfolgreichen zentralen Verschwörungen, wie solche von den politischen Dumpfbacken und bornierten Schreihälsen immer wieder proklamiert werden.

Interessamt wird es aber erst, wenn man die über 75 Jahre alten und heute in universitären Anfängerseminaren der Fächer Philosophie und Politologie behandelten Gedanken Poppers konkret auf die gegenwärtige Corona-Krise überträgt. Hier lautet das Plädoyer vieler rechtsbürgerlicher politischer Denker, dass der Staat, und hier insbesondere die Regierung, der mit dieser Krise verbundenen Komplexität nicht mehr gerecht werden kann mit ihren zentralistischen Anordnungen von Lockdowns und massiven Einschränkungen unserer aller Bewegungs- und Handlungsfreiheit. Man solle daher auf solche verzichten und den Bürger doch wieder ihre Freiheiten zurückgeben. Diese Forderung wird nicht selten dadurch ergänzt, die Bürger seien in ihrer Vernunftbegabung weitaus besser in der Lage, die Krise „von unten“ zu meistern, anstatt dass ihnen entsprechende Maßnahme „von oben“ aufoktroyiert werden. Gabriel geht sogar so weit zu sagen, dass „der Staat allein in einer liberalen Demokratie keine komplexen Probleme löst“. Er sei „selbst nur ein Teil der Gesellschaft, deren Komplexität nicht auf eine monarchistische oder oligarchische Spitze reduziert werden kann“. Die Korrektheit dieser Aussage steht ausser Frage, allerdings kommt sie mit einer Suggestion oder gar Implikation, die weit entfernt von der Realität steht, nämlich, dass in unseren westlichen Demokratien in Zeiten der Corona-Krise die Regierungen in vollständiger Isolation und ohne jede Rückkopplung mit allen anderen Teilen der Gesellschaft agieren. Tatsächlich haben die Regierungen ihre Entscheidungen immer wieder mit sehr vielen verschiedenen Gruppierungen (Wissenschaftler, Wirtschaftsfunktionären, Unternehmensvertretern, Entscheidungsträger auf tieferen politischen Ebenen, Juristen, etc.) abgesprochen und abgestimmt. Zudem haben sie immer wieder neu auf sich einstellende Entwicklungen reagiert und damit eben gerade anders agiert als oligarchische oder monarchistische Regierungsvertreter, die ihre Entscheidungen selbst in Anbetracht sich ändernder Umstände nicht immer wieder im öffentlichen Raum reflektiert sehen müssen.

So hat zum Beispiel die Schweizerische Regierung bis in den November des letzten Jahres, als die Corona-Zahlen in ihrem Land bereits über jede Rekordmarke und internationale Vergleichsmassstäbe hinausschossen waren, immer noch öffentlich die Selbstverantwortung ihrer Bürger herbeibeschworen und sich auf diese stützen wollen – bis es halt nicht mehr ging, wofür sie sich dann aufgrund ihrer zu späten Reaktion hin zu härteren Corona-Massnahmen starker Kritik im In- und Ausland ausgesetzt sah. So ganz zu klappen schien es mit dem alleinigen Bezug auf die Freiheit der Bürger halt nicht. Eine Indikation dafür hatte es im Übrigen bereits in den Wochen und Monaten davor gegeben, als sich trotz der akuten Corona-Gefahr viele Bürger nicht davon abhalten liessen, das Party-Leben in Diskotheken und Strandclubs uneingeschränkt zu geniessen. Derartige Unverantwortlichkeiten bestehen bis heute fort: Man fliegt nach Mallorca, oder falls betuchter nach Dubai oder Madagaskar.

Im Spannungsfeld zwischen Freiheit des Einzelnen mitsamt ihrer oder seiner Selbstverantwortung und der Solidarität mitsamt staatlicher Definition dieser scheint es eben auch nicht ganz unproblematisch zu sein, alle Karten auf erstere zu setzen. Tatsächlich ist, wie Gabriel es behauptet, der Staat bzw. die Regierung in der offenen Gesellschaft allein zu schwach, um die Lösung von oben herab zu definieren und vorzugeben. Aber auch von unten herauf ergibt sich eine solche eben nicht ganz von allein. Besonders gut erkennt man dies in Brasilien, wo die Regierung sich bis heute weigert, in die Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen („um die Freiheit des Volkes zu verteidigen“, denn „wertvoller als das Leben sei die Freiheit, so Brasiliens Präsident Bolsonaro) und stattdessen, dieser Einstellung folgend, für das Prinzip „Geschäft vor Gesundheit“ plädiert. Die Ergebnisse sollten auch den grössten Freiheitsapologeten zu denken geben: Das ganze Land ist zum COVID-19-Katastrophengebiet und nach Einschätzung von Gesundheitsexperten zu einem „Freiluftlabor für das Coronavirus“ und damit einem Risiko für die Weltgemeinschaft geworden.

Wir stossen immer wieder auf das zentrale Problem: Wie lässt sich der Komplexität der sozialen Wirklichkeit in unseren heutigen offenen Gesellschaften gerecht werden, insbesondere im Angesicht der COVID-Krise? Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf die Philosophie Karl Poppers. Seine Philosophie der offenen Gesellschaft besitzt nämlich ein Fundament, das uns Markus Gabriel vorenthält. „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von 1945 ist keineswegs das „Opus magnum“ Poppers, wie Gabriel behauptet. Vielmehr beruhen Poppers Gedanken darin auf seiner wissenschaftlicher Erkenntnistheorie, die er bereits 1934 in seinem Werk „Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft“ formuliert hat. Die Notwendigkeit, politische Entscheidungen korrigieren und Regierungen gewaltfrei abzuwählen zu können, findet ihre Entsprechung in der Möglichkeit wissenschaftliche Aussagen falsifizieren und immer wieder korrigieren zu können. Dies ist nach Popper der Vorzug des wissenschaftlichen Denkens: Nicht auf einer letzten Wahrheit zu beharren, sondern die Dynamik eines ständigen Befragens des Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität und die nicht endende kritische Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Wissens und Meinens stehen im Zentrum der wissenschaftlichen Methode. Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz. Dies ist für Nicht-Wissenschaftler nicht immer leicht zu verstehen. Was in der Wissenschaft Normalität ist, nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis innerhalb der wissenschaftlichen Community immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei Laien für Verunsicherung – und erlaubt es leider auch Politikern, die Hände in den Schoss zu legen, wenn es um wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse wie beispielweise die Eigenschaften des Corona-Virus oder auch den Klimawandel geht, ganz frei nach dem Motto: „Schaut, die Wissenschaftler sind sich ja selbst nicht einig! Woher sollen wir dann wissen, was zu tun ist?“

Doch erst diese methodische Grundlage des Zweifels und des ständigen Hinterfragens und somit das vorsichtige Vorantasten in der Vieldimensionalität der Wahrheit wird der Komplexität der Strukturen unserer Welt und der menschlichen Erkenntnis dieser gerecht. Diesen so klaren wie brillanten Gedanken übertrug Popper nun auf die Gesellschaft und ihre eigene Komplexität. Wir kommen nicht mit einem Schlag zur optimalen Herrschaft- und Entscheidungsstruktur, sondern tasten uns auch hier immer wieder über die Korrektur falscher Entscheidungen vorwärts. Darauf bezieht sich korrekterweise auch Gabriel. Allerdings findet sich keine Kongruenz mit seiner Beschreibung, wie die westlichen Regierungen vorangegangen sind, um der immensen Komplexität der Aufgabe einer optimalen Pandemiebegegnung gerecht zu werden. Haben die Regierungen selbst ihre einmal getroffenen Entscheidungen nicht immer wieder angepasst, sich mit Taskforces getroffen, die verschiedensten Ebenen der Entscheidungsträger angefragt und einbezogen und die Temporalität ihrer Entscheidungen betont, jederzeit bereit Anpassungen an ihnen vorzunehmen? Erscheint hier nicht die von Gabriel und vielen rechtbürgerlichen politischen Advokaten geforderte Alternative, allein auf die Freiheit der Bürger und ihre Selbstverantwortung zu setzen selbst als eine dogmatische Vereinfachung, die der Komplexität der Situation niemals gerecht werden kann? Ein Blick auf die in Brasilien beobachtbaren Auswirkungen scheint eine klare Antwort auf die letzte Frage zu geben.

Tatsächlich erscheint der zuweilen etwas kontrovers und uneinig und nicht zuletzt erratisch erscheinende Vorgang der politischen Entscheidungsfindung in der offenen Gesellschaft mit ihren vielschichtigen Inputs und zuweilen gar als Schwäche ausgelegten Korrekturen während der Corona-Krise (zuweilen sogar mit öffentlichen Entschuldigungen, wie kürzlich die von Angela Merkel) als die wohl beste Entsprechung des Popper’schen Ideals der offenen Gesellschaft und ihrer strukturellen Stärke im Angesicht der Komplexität heutiger sozialer Strukturen. Die Forderung, dies alles in die Hände selbstverantwortlicher, freier Bürger zu legen, erscheint dagegen eher als das Ergebnis einer dogmatischen Illusion. Nachdem sich Gabriel also korrekter- und wunderbarerweise auf den anti-dogmatische Charakter der Popper’schen Lehre bezieht, verfällt er selbst dem dogmatischen Glauben, dass die Freiheit des Einzelnen und seine Selbstverantwortung die optimale Lösung auf die hyperkomplexen Probleme um die COVID-Krise anbieten. Es ist zu erwarten, dass uns der Staat und die Regierung so schnell wie möglich wieder in die Freiheit der so sehnlichst herbeigesehnten Selbstgestaltung unseres Lebens zurückkehren lassen wird.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Dr. Norbert Göke
    April 10, 2021 8:51 am

    Die föderale Struktur der Bundesrepublik kommt an ihre Grenzen. Es ist nämlich keine Krise sondern ein Krieg gegen das Virus auf der ganzen Welt.
    Und in einem Krieg müssen häufig schnell Entscheidungen gefällt werden. Unser Infektionsschutzgesetz hat für diese Situation gewaltige Schwächen.

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