Chemie-Nobelpreis 2020 geht an Entdeckerinnen der Gen-Schere CRISPR – Für die bedeutendste technologische Revolution des 21. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Bio-Engineering
Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit entstand vor weniger als zehn Jahren das mächtigste Werkzeug der heutigen Biotechnologie, eine Technik, die Gentechnologen den direkten Zugriff auf einzelne Gene und deren gezielte Manipulation erlaubt. Ihr Name ist schon bald so bekannt wie DNA oder AIDS: CRISPR. Das Akronym steht für „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“ und beschreibt zunächst nicht weiteres als Abschnitte sich wiederholender DNA- bzw. RNA-Stücke im Erbgut von Bakterien. Bei Infektion mit Phagen (Viren) ist es ihnen damit möglich, Teile der viralen Fremd-DNA in genau die CRISPR-Bereiche ihrer eigenen DNA zu integrieren (genauer zwischen die CRISPR-Regionen, wo sie „Spacer“-Sequenzen genannt werden). Der eingegliederte DNA-Teil funktioniert dann wie ein Fahndungsfoto. Sobald Viren mit dieser DNA das Bakterium angreifen, erkennt die Bakterienzelle die exogene DNA und kann sofort den gewünschten Schutz aufbauen. So wird die Bakterienzelle gegen die Viren immun. Gesellt sich zu CRISPR noch das Enzym Cas9 (eine sogenannte „Endonuklease“; Cas steht dabei für „CRISPR-associated“), so lassen sich mit dieser Kombination, wie die Bio-Wissenschaftlerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2012 erkannten. spezifische DNA-Ziele im Genom ansteuern und dann auch manipulieren. Der Komplex aus beiden funktioniert wie Legobaustein-Finder und Schere zugleich. Man bestückt den CRISPR/Cas9-Enzymkomplex mit einer Sequenz, die genau komplementär zu der gewünschten DNA-Zielsequenz ist. Der Komplex findet dann von selbst die gewünschte Zielsequenz in der DNA und schneidet diese genau dort auf. Daraufhin lässt sich eine beliebige neue Gensequenz einbauen oder eine alte ersatzlos entfernen. „Textverarbeitung im Erbgut“ wird diese Methode daher auch genannt. War die bisherige Geneditiertechnik eher wie eine Schrotflinte gewesen, mit der man einfach mal auf die DNA schiesst und hofft, das richtige Gen zu finden, so ist CRISPR/Cas9 ein Präzisionsgewehr, mit dem genetische Bausteine beliebig genau entfernt oder eingebaut werden können. Und trotz ihrer unvergleichlichen Potenz ist die CRISPR-Technik so einfach handzuhaben, dass sie jedem Genlabor, ja bald vielleicht gar gymnasialen Schulklassen zur Verfügung stehen könnte. Auf Internet-Plattformen wie „Indiegogo“ oder «Origene» werden bereits „do-it-yourself“ Gen-Editier-Kits verkauft, mit denen ab 25 US Dollar jeder zuhause Genom-Editierung an Bakterien oder Hefezellen durchführen kann. Für ca. 100 US Dollar gibt es einen CRISPR-Set samt Anweisungen.
Für die Entdeckung von CRISPR erhielten die beiden Entdeckerinnen nun den Chemie-Nobelpreis. Endlich müsste man anfügen. Worauf hat das Nobel-Komitee eigentlich gewartet? CRISPR ist der wichtigste bio-medizinische und gentechnologische Durchbruch dieses Jahrhunderts. Es könnte Szenarien wie die endgültige Heilung von Krebs sehr viel schneller Realität werden lassen als dies selbst die grössten Optimisten unter den Gentechnologen noch vor 10 Jahren für möglich gehalten haben.
Längst wird die Technologie in der Praxis angewendet, insbesondere bei der Veränderung des Erbgutes von Pflanzen. So konnten die Biologen schon 2015 mit Hilfe von CRISPR beispielsweise die Gene eines Zuchtchampignons derart verändern, dass Druckstellen nicht so schnell braun werden. Der haltbare Pilz war das erste CRISPR-Produkt, dessen Vermarktung die Zulassungsbehörden der USA im Frühjahr 2016 erlaubten. Mit CRISPR tritt aber auch die Gentechnologie an Tieren und Menschen in eine neue Phase ein. Eingriffe in das menschliche Genom werden in der nahen Zukunft technisch kein Problem mehr darstellen. Für manche medizinische Anwendung hat sich die Technik bereits bis in die Phase klinischer Studien entwickelt. Dies wird die Behandlung zahlreicher bisher als unheilbar geltenden Erbkrankheiten revolutionieren, die durch Gendefekte hervorgerufen werden, aber auch von Menschheitsplagen wie HIV, Malaria oder gar Diabetes, Krebs und anderen altersbedingten Krankheiten.
Bei vielen Erbkrankheiten kennen wir das verantwortliche einzelne Gen (bei vielen anderen Krankheiten sind mehrere Gene verantwortlch). Ein Beispiel ist die „Beta Thalassämie“, die Betroffene den roten Blutkörper Hämoglobin nur unzureichend bzw. fehlerhaft bilden lässt. Sind Vater und Mutter beide Träger des krankmachenden Gens, sind die Symptome schon bei den Babys auffällig: sie sind sehr blass und entwickeln sich nicht gut. Die Betroffenen berichten später von ständigen Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen und davon, dass sie schnell ausser Atem kommen und müde sind. Weil sich durch die Krankheit die Hohlräume in den Knochen vergrössern, kommen oft auch Deformationen des Skeletts hinzu. All diese Symptome könnten vermieden werden, wenn das Gen ersetzt wird, dessen Fehlfunktion zu dem schweren Mangel an roten Blutkörperchen führt. Wir sehen also: Gentechniken wie CRISPR bieten grossartige Aussichten, Menschen von viel Leid zu befreien.
Doch was passiert, wenn diese Technologie auf embryonale Zellen, Ei- oder Spermazellen angewendet wird? Dann ist nicht nur das Individuum manipuliert, sondern alle seine oder ihre Nachkommen sind es ebenfalls. Wissenschaftler fragen heute nicht mehr: An welchen Genen kann die neue Methode verwendet werden? Vielmehr fragen sie: An welchen Genen soll sie verwendet werden? Soll man mittels CRISPR nicht nur Erbkrankheiten behandeln, sondern vielleicht auch menschliche Eigenschaften wie Augenfarbe, Körpergrösse oder Intelligenz genetisch beeinflussen? CRISPR könnte dafür sorgen, dass Designer-Babys keine Utopie (oder Dystopie?) mehr bleiben. Mit ihrer Hilfe werden sich Eltern die Eigenschaften ihrer Kinder – Augenfarbe, Grösse, Intelligenz, Körperstärke und vieles mehr – ganz nach ihren Wünschen zusammenstellen können. Auch könnten gentechnisch optimierte Menschen schon bald „normalen Menschen“ kognitiv und körperlich deutlich überlegen sein. Wir wären bei der genetischen Menschenzucht.
Im Mai 2015 stellte das Wissenschafts-Fachmagazin Nature die Frage: „Wo in der Welt könnte das erste CRISPR-Baby geboren werden?“ Mit Blick auf die jeweilige Gesetzeslage lautete die Antwort: Japan, China, Indien oder Argentinien. Im November 2018 war der Wettlauf entschieden: Ein bis dahin unbekannter chinesischer Wissenschaftler gab bekannt, die ersten genetisch editierten Menschen erschaffen zu haben. Er hatte ihr Genom so verändert, dass sie lebenslang gegen HIV immun sind. Mehr als ein mittelmässig ausgestattetes Labor und gentechnologisches Grundwissen hatte er dafür nicht benötigt. Damit war klar: Wir sind endgültig im Zeitalter der Menschenversuche und Designer-Babys angekommen.
Wie so viele andere Technolgien offenbart also auch CRISPR den Fluch und den Segen des technischen Fortschrittes zugleich. Für den Einzelnen ist es ein grosser Segen, wenn sich mit CRISPR das Genom seiner „kaputten“ Zellen reparieren lässt. Doch was passiert, wenn diese Technologie für die Manipulation des gesunden menschlichen Genoms verwendet wird, schlimmstenfalls mit Auswirkungen auf alle zukünftigen Generationen? Ihre unvergleichbare Potenz lässt neben Bioingenieuren längst Philosophen, Theologen, Ethiker und nicht zuletzt auch Politiker über die Auswirkungen der CRISPR-Technologie in menschlichen Händen diskutieren. Das schliesst das Nobelkomitee in Stockholm sicher nicht aus.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Die effektivste Form der bisherigen Evolution und Struktur: Das Genom kann sich sozusagen direkt selbst verändern. Doch kann es damit auch Relativität seiner eigenen Struktur erkennen?
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