Austritt aus der Komfortzone absoluter Gewissheiten – Von der Quantenphysik zum politischen Populismus unserer Tage
Man mag sich zuweilen wundern, ob Donald Trump nicht ein makroskopisches Quantensystem darstellt. Sein intellektueller, emotionaler und allgemein geistiger Zustand ist objektiv nicht bestimmbar. Er lebt sozusagen in einer Superposition aus Dialogbereitschaft und sturer Wutpolitik, sozialen Versprechungen und knallhartem Reichen-Klientelen-Lobbyismus, Charmebemühungen und Rotzbengel-Auftritten. Erst die konkrete Interaktion mit einem Gegenüber, sei es politischer Gegner, Partner oder die Presse, bringt einen bestimmten Zustand in seinem Verhalten hervor, und dies auf a priori nicht determinierte Weise. Vorher ist sein Zustand vergleichbar mit dem eines Elektrons vor der Messung: nicht nur unbekannt, sondern objektiv unbestimmt. Ihm kommt keinerlei eigene substantielle Realität zu. Mag diese Parallele zwischen Quantenphysik und dem heutigen Rechtpopulismus amerikanischer Prägung auch ein wenig zu sehr dem Wunsch nach satirischer Erfassung des Unfassbaren entspringen, so lassen sich auf einer tieferen Ebene durchaus Verbindungen beider herstellen, wie im Folgenden dargelegt werden soll.
Wir können unsere Epoche, die nicht ganz zufällig vor 100 Jahren mit dem Ende des 1. Weltkrieges ihren Anfang nahm, durch zahlreiche Prädikate beschreiben. Am stärksten geprägt wurde sie in materieller und lebensalltäglicher Hinsicht eindeutig vom technologischen Fortschritt. In geistiger, intellektueller und emotionaler Hinsicht kommt ihr allerdings eine noch eindeutigere Charakterisierung zu: der Verlust der Komfortzone absoluter Gewissheiten, seien diese von religiöser, philosophischer, psychologischer oder wissenschaftlicher Natur.
Bzgl. ersterer hatte dieser Prozess bereits 150 Jahre zuvor begonnen, in einer geistigen Epoche, die wir nicht ohne Grund die „Aufklärung“ nennen. Antriebfeder dieses epochemachenden Umbruchs war die wissenschaftliche Revolution des frühen 17. Jahrhunderts – nicht zuletzt wurde das Physikgenie Isaak Newton bereits früh als erster Held dieser Epoche gefeiert. Von nun an sollten die Phänomene und Entwicklungen in der Natur, und sogar der Mensch selbst, keiner übernatürlichen Erklärungen mehr bedürfen. Gott verlor seine Stellung als letzte und absolute Instanz der Wahrheit. Doch auch die historischen Anfänge der neuen Autorität im Tempel des Wissens, der Naturwissenschaften, liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern und spätestens mit Platon und Aristoteles waren die Grundlagen einer Metaphysik entstanden, die nach den letzten hinter den Phänomenen der Natur verborgenen absoluten Gründen und Zusammenhängen sucht. Die Naturwissenschaftler des 17. und 18. Jahrhunderts übernahmen diese bedenkenlos. Für dieses Letzte, Unbedingte, von nichts anderem mehr Abhängende haben die Philosophen einen eigenen Begriff entwickelt: „Substanz“ (griech. οὐσία, lat. substantia). Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – welche, wie die beiden Philosophen, Mathematiker und Naturforscher erkannten, ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur jenseits des sinnlich Erfahrbaren im Transzendenten finden kann. In diesem philosophischen Denkrahmen galt fortwährend der immer gleiche absolute Massstab, nach dem sich die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge immer auf die Einheitlichkeit eines all-begründenden Prinzips reduzieren lassen soll.
Erst mit der Entstehung der modernen Physik im 20. Jahrhundert beschleunigte sich ein Prozess, im Verlaufe dessen die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung mit Bayesianisch geprägtem Methodenrahmen zurückgedrängt wurde. In der Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie Quantenphysik und Relativitätstheorie betrieben, lässt sich ohne weiteres eine der grössten philosophischen Einsichten des letzten Jahrhunderts erkennen. Tatsächlich erkennen wir heute, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums von einer universellen Substanz bzw. einem absolut Wahren und den damit verbundenen radikalen Wechsel ihres Erklärungsanspruches gewonnen hat. Bekannte Beispiele sind die Ersetzung von Newtons Vorstellung eines absoluten Raums bzw. einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit in der Relativitätstheorie und die zentrale Bedeutung von Konzepten wie Information und Selbstorganisation in Evolutionstheorie und Genetik, den beiden Pfeilern der modernen Biologie.
Aber nichts hat uns mehr dazu gezwungen, den philosophischen Anspruch nach letzten und begründenden Subtanzen im Raum der Objekte aufzugeben und mit der Ambivalenz komplementärerer Wahrheiten zu leben, als der neue Objektbegriff in der Quantenphysik. Gemäss ihr gibt es keinen ausgezeichneten Standpunkt mehr, kein real und unabhängig existierendes Objekt ans sich, an dem man sich festhalten kann, und damit auch keine absolute Wahrheit. Objekte und das gesamte Sein im Mikrokosmos besitzen keine eigene Realität. Und kann ein Teilchen zugleich eine Welle sein und hängt das Ergebnis einer physikalischen Messung vom „Standpunkt“ des Beobachters ab, so können auch zwei gegensätzliche Weltanschauungen gut nebeneinander koexistieren.
Dies hat natürlich Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Was sich mit Kopernikus und dem Verlust unserer Zentralstellung im Universum begann, mit Darwin – wir stehen auch nicht mehr im Zentrum der Schöpfung, sondern sind vielmehr Ergebnis eines Prozesses, den Tiere und Pflanzen gleichermassen durchliefen – seine Fortsetzung fand, betraf zuletzt auch den Raum unseres inneren Ichs, wie Freud nahezu zeitglich (in den ersten 25 Jahren des 20. Jahrhunderts) mit dem Verschwinden einer objektiven Realität in der Quantenphysik konstatierte. Nach letzterem sind wir noch nicht einmal mehr Herr im eigenen Haus unseres Geistes, dem Raum unserer subjektiven Empfindungen und Gedanken. So müssen wir zuletzt akzeptieren, was sowohl bzgl. für die äusseren Objekte als auch für unsere innere Subjektivität gilt: Realität, Substanz, unabhängige Existenz und zuletzt jegliche absolute Wahrheit sind äusserst zweifelhafte Konzepte.
Diese Entwicklungen in der modernen Physik, Biologie und Psychologie mit der Aufgabe eines universellen Substanzbegriffs und Wahrheitskriterium jeglichen Couleurs besitzen eine bedeutende Dimension auch im Politischen − worauf zum ersten Mal Karl Popper hinwies: In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen und von substantiellen Objekteigenschaften lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und der Legitimation politischer Autorität erkennen. Noch jedes Mal, wenn die Menschen glaubten, sie hätten die perfekte Gesellschaftsform, beziehungsweise das perfekte („wahre“) Modell für politische oder ökonomische Machtausübung gefunden, endeten sie in der Erstarrung eines despotischen Absoluten. Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren. Entsprechend befinden sich wie der Verlauf wissenschaftlicher Forschung auch politische Entscheidungsprozesse in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich ihre Protagonisten immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. Eine Regierungsform, in der Macht ihr Wirken ständig korrigieren und sich permanent demokratisch rechtfertigen muss oder andernfalls abgewählt zu werden droht, ermöglicht eine ganz andere gesellschaftliche (und technologische) Dynamik als autoritäre Regierungsformen. Daraus leitet sich eine pragmatische Gebrauchsanweisung für einen jeden Einzelnen im politischen Entscheidungsprozess ab: Machthabern, die mit höheren Wahrheitsansprüchen auftreten und den Diskurs und die (wissenschaftliche) Methodik des Hinterfragens ablehnen, ist mit grosser Vorsicht zu begegnen! Das gilt heute so wie in den 1930er Jahren
Die meisten Menschen überfordert eine solche Verzichtserklärung auf absolute und substantielle Rückzugsgebiete. Man stützt sich nun einmal gerne auf eindeutige Wahrheiten, klare spirituelle Grundlagen und unverrückbare Prinzipien. Was früher Gott war, ist heute der absolute Geist, eine substantielle Grundstruktur, unverrückbare Naturgesetze oder aber auch immer gültige ökonomische, gesellschaftliche oder historische Gesetzmässigkeiten, eine Nation mit bestimmten Geburtsrechten, eine Gesellschaft, in der „jeder seinen Platz hat“, einen festen Arbeitsplatz für das Leben und vieles andere. Wo solche Gewissheiten verloren gehen, entsteht Unsicherheit. Das war in den 1920er Jahren nicht anders als heute. Dann füllen politische, soziale, religiöse und philosophische Vereinfacher und Populisten das Vakuum, das der Verlust alter Gewissheiten hinterlässt, mit ihren eigenen Unwahrheiten und Lügen.
Was vor mehr als 200 Jahren als Schlachtruf gegen die damaligen Bewahrer alter (religiöser) Wahrheiten diente, das „Sapere Aude“, den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, besitzt auch in unserer Zeit Gültigkeit. Und dies mehr denn je, da wir auch heute wieder das Zusammenbrechen bestehender Gewissheiten, sei dies auf politischem, gesellschaftlichem, ökonomischen oder zuletzt wissenschaftlichen Gebiet, erleben, und die Versuchung gross ist, sich den augenscheinlichen Wahrheiten falscher Propheten hinzugeben. Denn letztere, seien dies die absurden Lügen Donald Trumps, das neofaschistische Gebrüll der europäischen Rechtspopulisten italienischer, ungarischer polnischer oder deutscher Prägung, die pseudoreligiösen Machtlegitimationen a la Erdogan, aber auch die New-Age Bewegung oder fast religiösen Bekenntnisse libertärer Prägung führen uns ausnahmelos immer in die Irre.
Der Weg echten gesellschaftlichen Fortschritts verläuft stets über die andauernde Korrektur falscher Entscheidungen, was in den offenen, anti-autokratischen und demokratischen Gesellschaften des 19., 20. und 21. Jahrhunderts letzthin eine unübertroffene gesellschaftliche Wachstums- und Wohlstandsentwicklung ausgelöst hat. Gerade indem die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigierbar und erweiterbar ansieht, definierte sie letzthin ihrerseits die historisch beispiellose moderne gesellschaftliche Fortschrittsdynamik. Die Parallelität beider Entwicklungen ist kaum zufällig. Das Entwicklungsmomentum an die intellektuellen Vereinfacher, politischen Populisten oder philosophischen Grossmuftis zu verlieren, wäre heute eine so grosse historische Schande wie es dies in den 1920er und 1930er Jahren war.