Auf dem Weg zu neuen grundlegenden Theorien in der Physik, oder wieder mal nur das Resultat von Messungenauigkeiten?
Die letzte grosse Theorie in der Teilchenphysik, die die Physik in ihren Grundlagen fundamental weiterbrachte, war die in den späten 1960er-Jahren durch Steven Weinberg, Sheldon Glashow und Abdus Salam gelungene Integration der Quantenfeldtheorie der schwachen Kernkraft und die Quantenelektrodynamik als zwei verschiedene Seiten einer einzigen Theorie, die die Physiker heute „Theorie der elektroschwachen Kraft“ nennen. Sie ist charakterisiert durch die Eichinvarianz der SU(2) x U(1)-Gruppe – ein Ausdruck, den jeder Teilchenphysiker, einige andere Physiker und Mathematiker und sonst niemand anders kennt (und der auch hier nicht ganz so leicht in Texten wie diesem Blogs erklärt werden kann). Die gesamte Teilchenphysik ist heute durch diese Theorie zusammen mit der Theorie der ziemlich zeitgleich entwickelten starken Kernkraft (die durch die Eichinvarianz der achtdimensionalen SU(3)-Gruppe gegeben ist) charakterisiert. Entsprechend ist die Teilchentheorie durch die Invarianz-Gruppe SU(3) x SU(2) x U(1) charakterisiert. Hinzu kommt die in der generellen Physik – z.B. in unserem Leben – als vierte Kraft wirkende Gravitationskraft. Diese ist für die Elementarteilchen im Vergleich zur starken und schwachen Kernkraft sowie die Elektrodynamik allerdings so schwach, dass sie in der Teilchenphysik keine Rolle spielt – erst bei grossen Körpern wie Planenten und Sonnen kommt sie stark ins Spiel.
Dies ist in möglichst kurzer Form das Wesen der heutigen Physik: Vier Kräfte, die auf Körper, von Sonnen bis zu Elementarteilchen wirken. Ihre Theorien sind alle mehr als 50 Jahre alt (die Allgemeine Relativitätstheorie sogar über 100 Jahre) und bis heute durch nichts verändert worden. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass sie kaum weiter von einer erwünschten eleganten Gesamttheorie der Physik entfernt sein könnten: Einerseits mit der uneleganten Symmetriestruktur im Standardmodell für den Mikrokosmos (eben die SU(3) x SU(2) x U(1) – Gruppe), andererseits die davon komplett unabhängige und prinzipiell nicht mit denen im Mikrokosmos vereinbarende Symmetriegruppe der Gravitationstheorie. Letztere ist die Symmetrie, die die Gravitation beschreibende Allgemeine Relativitätstheorie umfasst, die allgemeine Lorenzgruppe (die wie SU(3) und SU(2) eine lokale Symmetriegruppe darstellt), die alle Translationen in Raum und Zeit umfasst, d.h. lokale Verschiebungen, Drehungen und Geschwindigkeitstransformationen. All diese Symmetriestrukturen in der heutigen Physik stellen im Ganzen eine recht abstruse und alles andere als elegante, einheitliche Struktur dar. Die widerspricht den Vorstellungen der Physiker, dass die Physik zuletzt elegant und einheitlich zu erfassen sein muss.
Für die drei Kräfte in der Elementarteilchentheorie existieren bereits seit vielen Jahren eine ganze Anzahl von überzeugenden Theorien, die die Symmetrien allesamt in eine Gesamt-Symmetriegruppe zusammenfassen. Die Physiker sprechen in diesem Zusammenhang von der „grossen vereinheitlichten Theorie“ (Grand Unification Theory, GUT). Unter ihnen ist am populärsten wohl die 24-dimensionale SU(5)-Gruppe. Diese und alle anderen haben jedoch ein fundamentales Problem: Die Energieskalen, auf denen sich eine solche Einheit im Experiment offenbaren soll, liegen viele Grössenordnungen höher, als was die Physiker in experimentellen Teilchenbeschleunigern heute zu erreichen vermögen, so dass GUT-Theorien wie die SU(5)-Gruppe unüberprüfbar bleiben. Aber könnten sich manche Eigenschaften dieser Theorien nicht vielleicht auch auf niedrigeren Energien zeigen? Die 24-dimensionalen Invarianztransformations-Matrix der SU(5)-Gruppe sagt bei bestimmten Energien verschiedene neue Teilchen voraus, die eventuell auch schon auf niederen Energien auffindbar sein könnten, jedoch bisher unentdeckt geblieben sind.
Wie dann zuletzt noch die Gravitationskraft integriert werden soll, ist noch völlig unbekannt. Doch auch hier gibt es bereits Theorien, die aber noch einige weiteren Grössenordnungen an Energie von uns entfernt sind, so dass wir diese erst Recht nicht validieren – oder falsifizieren – können. Zudem verlangt die ultimative Theorie eine Vereinheitlichung der Quantentheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie (eine „Theory of Everything“ (TOE)), die in vielen Ansätzen bis heute grundlegend unvereinbar sind.
So liess sich in den letzten fünf Jahrzehnten diesem uneleganten Teilchenmodell nichts hinzufügen. Auch folgen die Werte zahlreicher wichtiger Parameter (insgesamt 17) nicht aus dem Modell, sondern müssen experimentell bestimmt werden, was im Detail die Arbeit von zwei ganze Generationen von Teilchenphysikern war. Dabei wissen die Physiker heute, dass ihre Teilchentheorie und/oder die Allgemeine Relativitätstheorie aktualisiert werden müssen, können sie beide heute bereits zu 99% sichergestellte Phänomene nicht erklären. Konkret handelt es sich um das Vorhandensein von unsichtbarer Materie im Weltraum, der so genannten Dunklen Materie, sowie die anhaltende Beschleunigung der Expansion des Universums durch eine Kraft namens Dunkle Energie.
Doch nun wächst die Aufregung der heutigen Teilchenphysiker auf einmal. Seit kurzem spekulieren sie darüber, ob sie in einigen noch nicht ganz klar deutbaren Experimenten vielleicht eine fünfte fundamentale Kraft erkannt haben. Diese Art von Vermutung ist nicht neu, bereits Einstein und seine Zeitgenossen spekulierten darüber, ob es eine solche gibt (wenn auch eine ganz andere als die, über die heute spekuliert wird). Die Teilchenphysiker sind so aufgeregt wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Schon sehr bald wird im CERN bei Genf ein Beschleuniger, der gerade renoviert und gesäubert wurde, wieder aufgemacht. Dieser besitzt noch nicht einmal die höchste Energie für die Teilchenkollision, die heute im CERN erreicht werden kann. Doch bzgl. der Messgenauigkeit für die hier entscheidenden Bestimmung ist sie besonders gut. So hören wir bereits seit ca. einem Jahr von Messwerten bestimmter Teilchen, die vom Standardmodell abweichen, wenn auch nur in sehr geringem Ausmass, so dass die Abweichung schwer zu erkennen ist. Mit einer nicht unbedeutenden Wahrscheinlichkeit könnte es sich immer noch um einfache Messfehler handeln und daher den Traum der Physiker platzen lassen, über das heutige Teilchenmodell endlich hinauszugehen. Unterdessen wurden die Messungen jedoch in einigen verschiedenen Experimenten gemacht, so neben dem CERN auch im Fermilab in Chicago. Diese erscheinen recht konsistent in ihren Resultaten. Doch nach wie vor liegt die Ungenauigkeit der Messung im möglichen Bereich von nicht zu überkommenden statistischen Fluktuation der Messwerte. Nur noch genauere Messungen werden uns zeigen, ob es sich um eine normale statistische Fluktuation handelt oder wirklich den so ersehnten neuen Typ einer physikalischen Kraft im Mikrokosmos.
Die Kommunikation der Physiker vom amerikanischen Fermilab in Illinois (vielleicht ein wenig typisch für Amerikaner im Allgemeinen) zeigt eine grosse Aufregung. Auch das Team dort hat herausgefunden, dass die als W-Bosonen bezeichnete Teilchen (verantwortlich für die schwache Kernkraft) etwas massereicher zu sein scheinen als in den Theorien vorhergesagt. Die beteiligten Physiker wie z.B. Prof. David Toback, ein Co-Sprecher des Projekts, bezeichnet die Messung gar als «schockierend»: «Die Entdeckung könnte zur Entwicklung einer neuen, umfassenderen Theorie über die Funktionsweise des Universums führen. Wenn die Ergebnisse durch andere Experimente bestätigt werden, wird die Welt anders aussehen»“, gibt er gegenüber der Presse von sich. «Es muss einen Paradigmenwechsel geben. Die Hoffnung ist, dass dieses Ergebnis vielleicht den Damm brechen wird.»
Die Wissenschaftler haben allerdings nur einen winzigen Unterschied in der Masse der W-Bosonen gefunden im Vergleich zu dem, was die Standardtheorie der Teilchenphysik besagt – noch nicht einmal 0,1 %. So muss es erst durch weitere Experimente bestätigt werden, wie z.B. eben demnächst am noch genaueren CERN. Auch hier ist die Aufregung gross: «Es könnte das erste von vielen neuen Ergebnissen sein, die den größten Wandel in unserem Verständnis des Universums seit Einsteins Relativitätstheorien vor mehr als hundert Jahren einläuten könnten.»
Dabei sollte Aufregung in der Physikgemeinde durch Vorsicht gedämpft werden. Obwohl das Fermilab-Ergebnis die bisher genaueste Messung der Masse der W-Bosonen darstellt, steht es im Widerspruch zu zwei der nächstgenaueren Messungen aus zwei verschiedenen Experimenten dort, die mit dem Standardmodell übereinstimmten. So richten sich nun alle Augen auf den Teilchenbeschleuniger bei Genf, den Large Hadron Collider (LHC), der nach einer dreijährigen Aufrüstung seine Experimente schon sehr bald wieder aufnehmen soll. Auch hier erhofft man sich Ergebnisse, die den Grundstein für eine neue, umfassendere Theorie der Physik legen werden.
Dabei sind die meisten Teilchenphysiker jedoch noch ein wenig vorsichtig, waren sie doch schon einige Male an Punkten wie diesem, nur um enttäuscht zu werden, da das Standardmodell zuletzt doch alles erklären konnte. Aber insgeheim hoffen wir alle, also auch Nicht-Teilchenphysiker oder gar Nicht-Physiker, dass es wirklich so weit ist, dass dieses furchtbar unelegante Standardteilchenmodell überschritten werden kann und wir nun endlich neue Physik erklären können, was uns vielleicht sogar auf eine umfassend erweiterte Theorie bringt. Doch ob dafür weniger als 0.1% Veränderungen in den Messwerten der Teilchenphysik ausreichen, muss zunächst offenbleiben. Doch erinnern wir uns: Die erste Vorhersage der Einstein’schen Allgemeinen Relativitätstheorie war auch nicht besonders gross: Unter dem Einfluss der Sonne verändert sich der Winkel der an der Sonne vorbeigehenden Strahlen anderer Sterne um acht Bogensekunden, also in etwa ein Fünfhundertstel eines einzigen Grades (genauer 1/450). Dies hat Einstein von heute auf morgen die Krone der Physik gebracht.
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Ich bin zwar ein großer Anhänger der modernen naturwissenschaftlichen Methode zur Erklärung von Phänomenen in unserer Welt. Aber solange die Physik die Realität der Materie als Grundlage unserer Welt und damit auch, darauf aufbauend, die Realität unseres menschlichen Seins nicht eindeutig bewiesen hat, halte ich die Erkenntnis von Kant für wahr, der das eigentliche Problem in einem einzigen Satz ausdrückte: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“ (Kant, KVR, B332-333).
In gewisser Weise hat Kant die Probleme der Quantenphysik schon vorausgesehen, wenn er sagte:
„Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. Jene transzendentalen Fragen aber, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem dem doch niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung, als der unseres inneren Sinnes, zu beobachten. Denn in demselben liegt das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit. Ihre Beziehung auf ein Objekt, und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei, liegt ohne Zweifel zu tief verborgen, als daß wir, die wir sogar uns selbst nur durch inneren Sinn, mithin als Erscheinung, kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes, als immer wiederum Erscheinungen, aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten.“ (Kant 1787, B 334)
Demnach sind restlos alle Dinge in der von uns erkannten Welt nicht real vorhanden, also unabhängig von unserem Bewusstsein, sondern existieren nur „erscheinungshaft“ in diesem Bewusstsein und seinem Objektbezug. Ein eventuell dahinter stehendes Absolutes und darin eben Reales können »wir« in den Strukturen der Welt, in denen wir ausschließlich existieren, nicht erkennen, ja uns nicht einmal vorstellen – und wir können damit auch nicht erkennen, dass wir und die Welt nur erscheinungshaft existieren. In den Strukturen der Welt sind wir und die Welt absolut und real vorhanden, dass wir nur erscheinungshaft existieren sollen, ist für uns paradox.
Sollte die Physik die Materie als real beweisen können (als „Vorstellungen der Physiker, dass die Physik zuletzt elegant und einheitlich zu erfassen sein muss“) und damit letztlich auch die gesamte darauf aufgebaute Welt einschließlich unseres eigenen Seins umfassend erklären können, so wäre Kant darin natürlich widerlegt.
Andererseits ist das, was die Quantenphysik betreibt, gemäß Kant ab einem bestimmten Punkt sinnlos, da es nach dem folgenden Zitat „nicht gut fort wollte“. Es müsste dann zu einer erneuten Kopernikanischen Wende kommen, und zwar ganz nach dem Worten Kants:
„Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen“ (Kant KRV, BXVI-BXVII).
Zu berücksichtigen wäre hierbei, dass neben der Quantenphysik praktisch noch ein weiteres »Experiment« läuft, ein Sein dieser Welt als real zu erweisen, nämlich indem wir die angenommene Realität unseres Seins in dem begrenzten Lebensraum der Erde mit Hilfe der modernen Technik zu vervollkommnen suchen. Wenn das Sein in der Welt letztlich nicht real ist, muss das genau wie in der Quantenphysik scheitern – was darin dann als empirischer Beweis angesehen werden könnte.