Auf dem Weg zu künstlich hergestelltem Leben – Von Designer-Bakterien zum Designer-Menschen?
Die Genschere CRISPR ist unterdessen in aller Munde. So hat die Nachricht Ende November 2018, als der chinesische Forscher He Jiankui erklärte, zwei Embryonen gentechnisch verändert zu haben, um sie vor HIV zu schützen und dann in die Gebärmutter einer Frau eingepflanzt zu haben, die daraufhin genveränderte Zwillinge („CRISPR-Babys“) zur Welt gebracht hat, die Welt weit über die Forschergemeinde hinaus schockierte. Es handelte sich um den ersten gentechnologischen Eingriff in die menschliche Keimbahn. Doch längst hat sich daneben ein neues furcht. wie ehrfurchteinflössendes biologisches Feld etabliert: die Herstellung künstlichen Lebens. Oder konkret: die Synthese künstlicher Gensequenzen zwecks Erforschung biologischer Phänomene oder zur Herstellung neuer Biomoleküle. Wie CRISPR hat auch dieses Feld ein riesengrosses Potenzial, sowohl verbleibende Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln und damit ganz neue technologische Horizonte zu eröffnen, als auch eine Vielzahl von störenden Fragen aufzuwerfen – wissenschaftliche und technologische sowie philosophische und ethische.
Als der umstrittene Gentechnik-Pionier Craig Venter vor neun Jahren bekanntgab, erstmals einen kompletten Organismus ausschließlich mit künstlichem Erbgut erschaffen zu haben, war die Medienresonanz noch recht überschaubar. Konkret war es Venters Team im Mai 2010 gelungen, ein künstliches Genom komplett im Labor zu bauen und in eine zuvor von seiner natürlichen DNA befreite Zelle des Bakteriums Mycoplasma capricolum zu implantieren. Es war ein Meilenstein in der modernen Gentechnik, der sogleich mit dem großen Menschheitstraum der Erschaffung künstlichen Lebens in Verbindung gebracht wurde. „Life from scratch“ („Leben vom Reißbrett“) heisst seitdem das Ziel der Genforscher. Nicht viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzielten knapp vier Jahre später US-amerikanische Forscher um den Biologen Jef Boeke, nachdem sie ein komplettes Chromosom der Hefe mit einigen künstlichen Modifikationen im Reagenzglas nachgebaut hatten. Bei der Hefe handelt es sich um einen sogenannten Eukaryoten, also ein Lebewesen mit Zellkern (Bakterien haben noch keinen eigenen Zellkern, man nennt sie daher “Prokaryoten“). Deren Erbgut ist weitaus komplexer und vor allem deutlich umfangreicher als das der Bakterien und Viren in den Studien Venters. Unterdessen hat Boekes Team bereits sechs Chromosomen künstlich hergestellt und steht wohl kurz davor, den gesamten Satz von 16 Chromosomen der Hefe nachzubauen.
Die hinter den Arbeiten Venters und Boekes steckende Methode der Erzeugung neuen, künstlichen Lebens ist im Prinzip sehr einfach: Aus einer Datenbank von vielen Millionen Genen simulieren die Geningenieure mit dem Computer die Eigenschaften einer sehr grossen Zahl möglicher, in der Natur noch nicht realisierter Genkombinationen. Daraus werden Genomsätze mit bestimmten erwünschten Eigenschaften identifiziert, anschließend chemisch synthetisiert und maschinell hergestellt, bevor sie zuletzt in den von seinem ursprünglichen Genom befreiten Zellkern des Ziel-Lebewesens eingeführt werden. Die chemische Synthese entspricht dabei dem Zusammensetzen von Legostücken: Man fügt einfach die berechnete Sequenz aus den vier Nukleinbasen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T) zusammen. Am Computer entworfen und durch Maschinen im Labor zum Leben erweckt – so lässt sich die Schöpfungsgeschichte der neuen Lebewesen einfach zusammenfassen. Die Gentechnologen sprechen auch von „DNA printing“. Die mit der künstlichen DNA versehene Zelle stellt dann ganz wie natürliche Zellen Kopien dieser DNA her.
An dieser Stelle sei vermerkt: Das heisst nicht, dass es sich hier um eine komplette künstliche Zelle handelt (Venter damaligen Behauptungen waren in dieser Hinsicht etwas missverständlich). Zwar enthält die künstlich hergestellte DNA-Sequenz die Informationen für alle Proteinsynthesen innerhalb eines Lebewesens, doch erfolgen diese immer im Kontext der umgebenden Zelle und des Kulturmediums, in welchem sich diese befindet. Ohne die Zelle wäre die DNA nicht mehr als eine Ansammlung kohlenstoffhaltigen Materials, so wie Software nur eine Aneinanderreihung von Codezeilen, die erst auf einer Hardware umgesetzt werden muss, um seine Macht in einem Computer zu entfalten. Venter sprach nach seinem Erfolg daher von einer neuen „digitalen Ära“ in der Biologie, in der DNA als „Software des Lebens“ beliebig programmiert werden kann, um Mikroorganismen nach Bedarf zu schaffen. Diese könnten dann zielgenau gewünschte Aminosäuresequenzen, d.h. Proteine herstellen, die beispielsweise die Produktion neuer Medikamente ermöglich, die bisher wenn überhaupt nur sehr aufwendig und teuer herzustellen sind. Dass Mikroorganismen Arzneien erzeugen, ist im Übrigen gar nichts Ungewöhnliches. Schon heute stellen gentechnisch veränderte Bakterien das Hormon Insulin her, mit dem Diabetiker ihren Blutzuckerspiegel regulieren.
Doch der Ehrgeiz der Gentechniker geht bereits viel weiter: Sie wollen nichts weniger als die Programmiersprache des Lebens zu nutzen lernen, um bessere Genome herzustellen als die Natur dies getan hat. Denn durch das Neu-Schreiben von DNA lässt sich im Prinzip jede Form von biologischen Daten codieren. Dies könnte ganz neuartige Organismen ermöglich, und dies mit sehr realem Nutzen: Die Gentechniker erhoffen sich erwähnte Anwendungen in der Medizin (neue Medikamente), aber auch Applikationen in der Energieerzeugung (z.B. Strom erzeugende Bakterien) oder Nahrungsmittelproduktion bzw. Landwirtschaft.
Nun ist ein weiterer Meilenstein in der künstlichen DNA-Synthese geglückt: Wissenschaftler um Jason Chin von der englischen Cambridge University ist es gelungen, Bakterien des Typs Escherichia coli, also Kolibakterien, wie sie in unserem Darm vorkommen (und die gleichen, die Biochemiker für die Insulinproduktion verwenden), mit einem komplett synthetischen Erbgut auszustatten (J. W. Chin, Total synthesis of Escherichia coli with a recoded genome, Nature, Volume 569, S. 514–518 (15 Mai 2019)). Es ist das bisher grösste künstliche Erbgut, das in ein Bakterium eingesetzt wurde und umfasst vier Mal so viele DNA-Bausteine wie Venters Bakterien. Das wirklich Aussergewöhnliche an dieser neuen Arbeit aber ist: Der neue Organismus kommt mit weniger genetischer Informationen aus als natürliche Organismen. Die Gentechniker sprechen von einer „Neu-Kodierung“ (recoding) des Genoms. Natürliche Zellen nutzen 64 verschiedene Dreierkombinationen aus den vier Nukleinbasen A, C, G und T (es gibt 64 – vier hoch drei – Dreier-Kombinationen aus den vier Basen) für die Kodierung der 20 für das Leben notwendigen Aminosäuren (die sogenannten „kanonischen Aminosäuren“), aus denen alle Proteine, die natürliche Organismen zu produzieren vermögen, zusammengesetzt sind. Mit anderen Worten, eine Dreierkombination aus den vier Nukleinbasen (ein sogenanntes „Codon“) steht jeweils für eine Aminosäure. Bemerkenswerterweise verwenden alle Lebewesen den gleichen genetischen Code: Jede Aminosäure wird immer durch den gleichen Codon repräsentiert. Bei 64 möglichen Dreierkombinationen für 20 Aminosäuren (plus einem Stopp-Codon) ist dieser „Erb-Code der Natur“ stark redundant, d.h. viele Aminosäuren werden gleich durch mehrere verschiedene Codons abgebildet. Die Natur leistet sich also in gewisser Weise einen grossen Luxus (der Grund liegt wohl u.a. darin, dass sich so Fehler der Kodierung bei der Zellteilung, so genannte Mutationen, in vielen Fällen weniger stark bzw. kritisch auf den Organismus auswirken). Theoretisch könnte das Leben auch mit einem Codon für genau eine Aminosäure auskommen. Alle anderen, jeweiligen redundanten Codons könnten durch dieses eine Codon ersetzt werden. Das synthetische Erbgut des neuen künstlichen Bakteriums haben die Forscher um Chin nun konkret so verändert, dass es mit nur 61 Codons alle nötigen Aminosäuren produziert. Damit bleibt im Genom Platz für die Kodierung von drei weiteren Aminosäuren, die natürliche Zellen nicht herzustellen vermögen. Mit solchen künstlichen Aminosäure liessen sich Proteine herstellen, die vollkommen neue Eigenschaften haben, eben z.B. solche, die sich als Arzneimittel einsetzen oder aber auch von der chemischen Industrie nutzen lassen.
Das neue künstliche Lebewesen hat aber noch eine weitere sehr besondere Eigenschaft: Dadurch, dass es seinen ganz eigenen Code für die Proteinsynthese besitzt, kann es nur sein eigenes Erbgut entschlüsseln. Dies wiederum bedeutet, dass es grundsätzlich nicht mit anderen (natürlichen) Organismen in Wechselwirkung treten kann. Denn es kann deren genetischen Code nicht lesen, und umgekehrt. Insbesondere kann das künstliche Bakterium nicht durch Viren infiziert werden. Wenn ein Virus in die Zelle eindringt und versucht, die genetische Maschinerie der Zelle zu übernehmen, um mehr Viren zu produzieren, würde es bei der DNA-Decodierung sozusagen stecken bleiben. Es könnte die Zelle nicht dazu bringen, virale Proteine und damit Replikationen seiner selbst zu produzieren – doch das ist genau das, was bei einer Virusinfektion passiert. Liesse sich die menschliche DNA derart neu kodieren, so wären die entsprechenden Zellen resistent gegen HIV-, Hepatitis-, Grippe oder jeden andere Form von Viren. Solche Zellen wären die ultimative Basis für die Stammzellentherapie. So sagte Jef Boeke unlängst: „Solche hochsicheren menschlichen Zellen könnten für Stammzellbehandlungen, d.h. innerhalb der regenerative Medizin, das tun, was Pasteurisierung für Milch bedeutet hat“.
Für die Erzeugung des neusten künstlichen Genoms benutzten die Forscher um Chin konkret die CRISPR-Methodologie (die Venter vor neun Jahren noch nicht zur Verfügung stand). Mit ihr schleusten sie das neue künstliche Erbgut Stück für Stück in eine normale E. coli-Zelle ein, bis dieses ganz den natürlichen Code ersetzt hatte und kein Stück natürlicher DNA mehr vorhanden war, sondern nur solche, die dem natürlichen Vorbild nachempfunden waren. Das synthetische Erbgut trug zudem an 18‘214 Positionen einen Unterschied vom Original (zum Vergleich: Venters Kunstorganismus von 2010 trug nur 25 Modifikationen).
Wie wird sich das Feld der synthetischen Biologie weiterentwickeln? Jef Boeks Team arbeitet bereits seit einiger Zeit am kompletten Nachbau der Hefe-Chromosomen. Dies besteht aus insgesamt 12 Millionen Basenpaaren. Kann eines Tages vielleicht auch das gesamte Erbgut des Menschen künstlich nachgebaut werden, und dies ggfs. mit entsprechenden Veränderungen? Es ist klar, dass sich hier gewaltige ethische Fragen auftun. Aber technologisch ist dies zurzeit kaum abzusehen. Das menschliche Erbgut ist um ein Vielfaches komplexer als das eines Bakteriums oder der Hefe: So müssten anstatt vier oder zwölf Millionen 3,3 Milliarden Basenpaare nachgebaut und eingefügt werden. Das übersteigt dann doch die heutigen Möglichkeiten der gentechnologischen Tools beträchtlich.
Doch ganz so sicher sollten wir uns nicht wiegen. Oft ist aus technologischer Sicht der Sprung von Null auf eine Million sehr viel grösser als der Sprung von einer Million auf mehrere Milliarden und höher. Und tatsächlich sprechen die Biologen schon vom „Human Genome Project-write“ („das Schreiben des menschlichen Genoms“). Sie hätten damit Zugang zum Blueprint für alles Leben, was ihnen die die Fähigkeit gäbe, Krankheiten zu heilen und Ökosysteme zu reparieren, oder gar, wie einige Genforscher meinen, „die Menschheit auf umweltfreundliche Weise zu erhalten“. Wir könnten dem künstlichen menschlichen Genom sogar die Fähigkeit eingeben, solche Aminosäuren selber herzustellen, die unser Körper nicht von sich aus herstellen kann. So liessen sich beispielsweise Fehl- oder Unterernährung unterbinden. Wir könnten unseren Körper ganz allgemein dazu bringen, die meisten Stoffe, die er für seinen Stoffwechsel oder die Abwehr von Krankheitskeime braucht, selber herzustellen (ausser der Energie, die muss aufgrund elementarster physikalischer Gesetze – zweiter Hauptsatz der Thermodynamik – von aussen kommen). Das Ergebnis wäre in jedem Fall: ein neuer, besserer Mensch.